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7. Die Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die spezifische Freimaurerforschung

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In methodischer Hinsicht sollte trotz intensiver Forschungstätigkeit die genuin freimaurerische Historiographie viel stärker als bisher multiperspektivische Ansätze berücksichtigen und interdisziplinär auf internationaler Basis arbeiten. Unter multiperspektivisch ist hier die Einbeziehung sozialgeschichtlicher, religionswissenschaftlicher, soziologischer, politikwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher, ideengeschichtlicher, kunsthistorischer und linguistischer Fragestellungen bzw. Begriffsinstrumentarien gemeint. Da die Freimaurerei und Geheimbünde ein weltweites Phänomen darstellen, müsste die Freimaurerforschung internationale Formen der Kooperation finden, zumal nur auf internationaler Forschungsgrundlage neben regionalen, ideologischen und institutionellen Unterschieden auch starke Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden können.68

Die aktuelle Grundlagendiskussion über Methodenprobleme der Geschichtswissenschaft zeigt heute mit großer Deutlichkeit, dass die wissenschaftlichen Formen des menschlichen Denkens nicht ohne Bezug auf lebensweltliche Zusammenhänge zwischen Denken und Handeln verstanden werden können. Die Geschichtsschreibung ist von praktischen Interessen abhängig, die aus ihrem gesellschaftlichen Kontext resultieren. Durch diese Verbindung wird die Geschichte unter dem Einfluss der sich stets ändernden Orientierungsbedürfnisse im gesellschaftlichen Leben immer wieder neu geschrieben. Es ist daher von großer Bedeutung, dass sich die genuin freimaurerische Geschichtsforschung auch über Tendenzen und Richtungen der profanen Historiographie informiert und diese in ihre Forschungspraxis integriert. Das erwähnte Umschreiben der Geschichte ist nicht gleichbedeutend mit einer äußerlichen Anpassung der Geschichtswissenschaft an ihre jeweilige Zeit, sondern erfolgt aus „innerer Logik“ der historischen Erkenntnis. Geschichte versteht sich als ein bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen vergangenem und gegenwärtigem Handeln, der auf der Grundlage bedeutungsverleihender Normen aus den Sinnkriterien Interessengebundenen aktuellen Handelns entsteht. Auch wenn die Geschichtswissenschaft lebensweltlich begründet ist, verhält sie sich zu den Formen und Inhalten der lebensweltlich-historischen Bewusstseinsbildung prinzipiell kritisch. Die Geisteswissenschaften unterscheiden sich von der lebensweltlichen historischen Bewusstseinsbildung durch einen höheren Geltungsanspruch ihrer historischen Aussagen und begründen diesen Anspruch mit der ihr als Wissenschaft charakteristischen methodischen Rationalität der historischen Erkenntnis. In der Krise befindet sich heute nicht die historische Methode im Allgemeinen, sondern eine ihrer Erscheinungsformen, nämlich die Lehre vom historischen Verstehen (Hermeneutik), wie sie vom deutschen Historismus im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Sie hat die Ermittlung des Sinnzusammenhanges vergangener menschlicher Handlungskomplexe zum Ziel. In der Tradition des Historismus wird Geschichte als „Selbsthervorbringung und Selbstdarstellung des dem Menschen allgemein (als Gattung) definierenden Geistes“ in der Zeitfolge je besonderer, individueller Kulturgebilde verstanden.69

Hier stehen die Erforschung und das Verstehen von Ereignissen, Personen, Intentionen und Handlungen im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses und nicht so sehr Strukturen und Prozesse als Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen von Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen, die den handelnden Personen nicht immer voll bewusst sind, wie die Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft meinen. Methodisch resultiert aus einer solchen Betrachtungsweise von Geschichte eine stärkere Berücksichtigung generalisierender, erklärender analytischer Verfahren gegenüber traditionell hermeneutischverstehenden Methoden des Historismus. Da Methodisierung, Systematisierung und Steigerung von plausiblen Begründungen meint, würde dies – auf die Geschichtswissenschaft und das historische Denken übertragen – bedeuten, dass Methodisierung des historischen Denkens im Ganzen mit einer Paradigmatisierung der Grundlagen der Geschichtswissenschaft identisch wäre. Die für jedes historische Denken entscheidenden Faktoren gestalten sich zu einer besonderen Form einer disziplinären Matrix. In die leitenden Perspektiven des historischen Denkens werden „Zeitorientierungsbedürfnisse“ hineinverarbeitet. Dazu kommen implizit auch Verfahren der empirischen Absicherung historischer Behauptungen, und schließlich findet das historische Denken seinen Niederschlag in Darstellungen und übt auch Funktionen der Zeitorientierung aus.70

Diese hier erwähnten Momente treten aber nicht immer als unterschiedliche Faktoren des historischen Erzählens auf und werden nicht immer als einzelne Faktoren und in ihrem Zusammenhang überdacht. In der Geschichtswissenschaft stellt sich dieser Sachverhalt allerdings anders dar. Hier treten die einzelnen Faktoren in ihrer Differenz auseinander und formieren sich zu systematischen Zusammenhängen, so dass Geschichtswissenschaft auf diese Weise als wissenschaftsspezifische Begründungsarbeit des historischen Denkens entsteht. Paradigmatisierung bedeutet daher in diesem Sinne die Ausbildung einer durch „Historik“ reflektierbaren disziplinären Matrix, wo der Grundsatz der Methodisierung in den Grundlagen für Geschichtswissenschaft Anwendung findet. Diese Paradigmatisierung wird als Prozess aufgefasst, in dem die Methode als Prinzip von Wissenschaftlichkeit das historische Denken bestimmt. Die wissensbegründenden Argumentationsregeln des historischen Denkens entstehen dabei in den einzelnen Prinzipien, die für die Eigenart und Funktion des historischen Denkens entscheidend sind. Dieser Entstehungsprozess ist in der Methodenforschung auch als „Rationalisierung“ des historischen Denkens zur fachlichen Verfassung der Geschichtswissenschaft bezeichnet worden.

Verbot, Verfolgung und Neubeginn

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