Читать книгу Luftgitarrengott - Herbert Hirschler - Страница 6
1980: RAUS AUS DEM NEST Alles rosa
ОглавлениеÜberall war Musik. Sie klang von draußen in sein Nest. Mama und Papa beschallten ihn abwechselnd damit. Mamas Weiße Rosen aus Athen konnte er nicht ausstehen, Papas Smoke On The Water fand er dafür voll krass. Da schüttelte es ihn so richtig durch in seiner kleinen Welt.
Seit einiger Zeit konnte er hören, was sich draußen tat.
»Hi, mein kleines Mädchen! Ich bin’s, deine Mama! Na, wie geht es dir in deinem Nest?«
Das war also Mama. Er wusste auch schon, dass es noch eine Mama gab, die Papa hieß. Wenn Mama sprach, war das für ihn sanft und weich, Papas Stimme klang eher so wie Mamas Magen, wenn er schon länger nichts zu essen bekommen hatte. Und Papa knurrte manchmal Sachen wie: »Wie geht es denn unserer Prinzessin in ihrem Nest?«
Was nun, dachte er, bin ich nun ein Mädchen oder eine Prinzessin?
»Und wenn es doch ein Junge wird?«, hörte er Mama fragen.
Papa knurrte: »Der Arzt hat ganz eindeutig ein Mädchen gesehen. Und du hast doch gehört, wie Tante Finni gemeint hat, dass es ganz bestimmt kein Junge werden wird, weil du so viel Süßes in dich reinfutterst. Das macht man nur bei Mädchen. Und die muss es wissen.«
»Die hat aber keine Kinder!«
»Egal! Wichtig ist, Mädchen lieben geile Rocknummern!«, wusste Papa, und schon war wieder mächtig was los. Papa knurrte ganz laut »Ta Ta Ta, Ta Ta Tata – Smoke On The Water«, und im kleinen Nest, das langsam immer enger wurde, ging’s hoch her.
»Nein, hör auf damit!«, schrie Mama: »Das kannst du unserem Mädchen doch nicht antun.«
Was antun? Er fand das prima!
Und plötzlich Stille, aber nicht für lange.
»Weiße Rosen aus Athen …«
Immer wieder dasselbe, von Papa richtig geile Musik und von Mama dieses grässliche Geknödel, das sich in seinen Ohren mehr als schräg anhörte.
»Schatz, was soll das?«, knurrte Papa wieder. »Das arme Kind bleibt ja freiwillig für die nächsten zwanzig Jahre in dir, weil es Angst vor deinen Schnulzen hat.«
»Du bist so gemein, ich mag diese Lieder, die sind von meiner Mama!«
Was, es gab noch eine Mama?
»Mein Mädchen soll mit angenehmer Musik aufwachsen, nicht mit der schrecklichen Hard-Rock-Scheiße von diesen drogensüchtigen Vollheinis! Ups – sorry für das ›Scheiße‹!«
»Scheiße«? Was war das wieder für ein Wort? Klang eigentlich gut, das wollte er sich merken. Egal – also, wenn er sich entscheiden dürfte …
»Dein Uralt-Kitsch ist keine angenehme Musik. Ich krieg Durchfall, wenn ich das noch länger hören muss. Und stell dir vor, unserer Prinzessin geht es genauso?«
Was immer Durchfall auch war, er fürchtete, er war knapp davor. Ihm hatte Papas »Rock-Scheiße« eindeutig besser gefallen, aber auf ihn hörte ja keiner.
»Was hältst du von Mozart?«, fragte Mama. »Ich habe mal gelesen, dass klassische Musik das Beste ist für kleine Prinzessinnen.«
Scheiße, er wollte die Rock-Scheiße …
»Okay, immer noch besser als Weiße Rosen, da singt wenigstens keiner.«
Er hatte auch mitbekommen, dass er eine eigene »Bude« bekommen sollte, wenn er mal sein Nest verlassen würde. Mama hatte ihm erzählt, dass sie es gar nicht mehr erwarten könne, bis er bei ihr sei. Na bravo, das konnte ja was werden. Musste er dann den ganzen Tag Schnulzen hören? Zum Glück war Papa auch da draußen, und der hatte ihm das von der »Bude« erzählt. Mama hatte aber anscheinend was dagegen. »Das ist ein Mädchenzimmer, keine Bude!«
Ihm war es egal, er wusste sowieso nicht, was das bedeuten sollte. Alles war »rosa«. Was bitte sollte nun dieses »Rosa« sein? Hoffentlich so etwas wie Musik, eine tolle Rock-Scheiße am besten, aber bei Mama hatte er da gewisse Zweifel. Egal, so wie’s aussah, gab es keine Chance, hier drinnen zu bleiben. Es wurde von Tag zu Tag enger. Wie sollte er da bloß rauskommen?
»Komm schnell!«, Mama schrie wie am Spieß. »Alles ist nass, da stimmt was nicht. Oder geht es schon los?«
Hey? Was hieß: Alles ist nass? Und was sollte nicht stimmen? Warum machte sie so ein Trara? Er war etwas verwirrt. Plötzlich krachte es gehörig und Papa schrie sein neues Lieblingswort. »Jetzt ist da auch alles nass! Ich bin über diese dämliche Rosenvase von deiner Mutter gestolpert – so eine Scheiße!«
»Egal, lass alles liegen, bitte komm schnell!«, flehte Mama, »ich glaube, wir müssen ins Spital, die Kleine will raus.«
Was? Meinten sie etwa ihn? Er wollte gar nicht raus! Da draußen war die Hölle los, jeder schrie, alles war nass und Papa war plötzlich ganz still.
»Scheiße!« Na also, ging doch!
»Schnell, schnell!« Mama übernahm das Kommando. »Ruf die Rettung! Pack die Sachen! Hol einen Fetzen, die Blase ist geplatzt! Und sag nicht immer dieses schreckliche Wort!«
Dann schwebte er – und mit ihm auch seine Mama. Gleich darauf wurden die beiden auf etwas Hartes gelegt und ab ging die Post. Sagte zumindest eine Stimme, und dazu noch: »Keine Angst, wir schaffen das!« He?
»Aua, die verdammte Küchentür«, Papa schrie sein Lieblingswort. Mama hechelte und eine fremde Stimme brüllte irgendetwas von »Sauerstoff«. Dann gab’s einen ordentlichen Rumpler, irgendetwas wurde zugeworfen, und endlich war wieder Ruhe im Busch. Aber nicht lange.
»Uahh!« Mama brüllte, so hatte er sie ja noch nie gehört. Ihr ganzer Körper wackelte und sie schrie wie Gene Simmons von Kiss, wenn er besonders cool sein wollte. Warum er das wieder wusste? Papa hatte es ihm erzählt. Und auch vorgemacht – »Uahh!«
Warum sich jetzt immer wieder ein Lichtstrahl in sein Nest verirrte? Eine dumpfe Stimme schrie: »Nein, bitte nicht, sie kommt jetzt schon!«
»Was? Jetzt?«, plötzlich brüllte da noch einer, »kann die sich die paar Kilometer bis zum Spital nicht zurückhalten?« Was hieß das jetzt schon wieder? Erst sollte er unbedingt raus und dann wieder nicht?
Angenehm war das wirklich nicht. Ganz schön eng der Gang, durch den er sich da zwängen musste. Vielleicht wär’s einfacher gewesen, wenn seine Mama mal stillgehalten hätte, aber das tat sie nicht. Im Gegenteil! Sie zappelte hektisch herum, da konnte sich ja keiner konzentrieren. Es wurde immer heller, die Luft zugleich immer knapper. Na super, am Ende würde er hier ersticken, noch ehe er seinen ersten voll zugedröhnten Rocker gesehen hatte, weil ihm irgendetwas die Gurgel abdrehte. Er hatte es ja gleich gesagt, er wollte da nicht raus.
»Verdammt, die Nabelschnur hat sich um den Hals gewickelt!« Das klang jetzt gar nicht gut. Und überhaupt nicht mehr dumpf. Mama schrie auch nicht mehr, aber keuchen hörte er sie. Und weinen. Warum tat sie das? Dann brüllte sie verzweifelt: »Hilfe! Mein Mädchen!« Gleich darauf wurde es kalt, irgendjemand riss die Autotür auf. Er hörte nur etwas wie »Notarzt!« und dahinter »Scheiße!« Es klang wie »Scheiß-Notarzt«. Wie schön, Papa war auch hier. Langsam sollte wirklich irgendjemand dieses Kabel von seinem Hals entfernen, sonst würde das nichts mehr werden mit der Musik. Und wirklich, der »Scheiß-Notarzt« arbeitete an ihm herum und plötzlich bekam er wieder Luft. Gerade noch mal gut gegangen. Puh, endlich draußen. Er freute sich schon sehr auf Papa und Smoke On The Water. Und auf Mama auch, aber nicht auf Weiße Rosen aus Athen!
Jemand hüllte ihn in eine warme Decke und rubbelte ihn ab. Und dann hörte er den Notarzt sagen: »Meine erste Geburt im Ambulanzwagen. Ich gratuliere Ihnen zu diesem prächtigen Jungen.«
»Scheiße! Alles rosa!«