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1990: MIT 10 IST DIE WELT FAST IN ORDNUNG Auf der Flucht

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Sie waren hinter ihm her. Vier Mann hoch. Oder besser gesagt, vier Jungs hoch. Wieder mal. Bastian rannte so schnell er konnte, durch den Flur, die Stiegen hinunter. Er hörte sie schreien: »Pummel-Basti!« und »Fetter Wolf!« und noch viele andere Worte, die man jetzt nicht unbedingt wiedergeben muss. Noch einmal um die Ecke, gleich hatte er sie erreicht, die rettende Tür zum Musikzimmer. Hoffentlich war sie offen. Sie kamen immer näher.

»Verdammt!«, fluchte Bastian. In Berlin hatte man sie vor einem Jahr eingerissen, aber jetzt könnte er eine so beschissene Mauer gut gebrauchen. Wie gerne wäre Bastian jetzt auf der anderen Seite einer mega­breiten und himmelshohen Wand aus Stein und Stahl gestanden, die ihn vor dieser Terroristenbande hätte schützen können. Nichts da, die Tür ins Musikzimmer stand zwar offen, aber es steckte kein Schlüssel, mit dem er sie von innen hätte verriegeln können. Daher stolperte er durch den Raum zum Klavier, das an der gegenüberliegenden Wand stand. So oft schon hatte er darauf herumgeklimpert, heute sollte es seine Rettung werden. Darüber waren schmale Fenster, die ins Freie führten. Also rauf aufs Klavier, Fenster auf und raus. Da er aber alles andere als ein dünner Spargel war, blieb er in dem Fensterausschnitt stecken. Er spürte, dass sie seine Füße packten und ihn zurückziehen wollten. Im letzten Augenblick schaffte er es doch, sich durch die Öffnung in den Luftschacht zu wuchten. Dass er dabei einen Schuh an die johlende Meute verlor, war ihm zuerst gar nicht bewusst. Doch sie schienen sich damit zufrieden zu geben.

Jetzt musste er nur noch das Gitter über dem Luftschacht in die Höhe stemmen und auf den Gehsteig klettern. Das dauerte auch eine ganze Weile. Geschafft!

Doch plötzlich waren sie wieder da, sie liefen über den Schulhof und wieder hörte er die altbekannten Schimpfwörter. Bastian nahm seine Beine in die Hand und rannte einfach los.

Leider genau vor einen verrosteten Einser-Golf, dessen Fahrer es nicht mehr gelang, vor dem verzweifelten Schuljungen zu bremsen.

Als Bastian erwachte, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Mama und Papa waren da, und Lisa, seine Schwester.

»Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, kleiner Mann!« Papa lachte ihn an. »Aber echte Rocker sind harte Knaben, die haut so schnell nichts um.«

Mama hatte dicke Tränen in den Augen. Sie warf sich über ihn, drückte ihm jede Menge nasse Küsse in sein Gesicht und schluchzte: »Ich habe solche Angst um dich gehabt!«

Lisa meinte nur trocken: »Na, wieder da?« Das war’s. Dabei hatte sie den ganzen Schlamassel ausgelöst. Langsam konnte sich Bastian wieder erinnern, und jetzt wusste er auch, warum er hier im weißen Spitalsbett lag und seine Familie sich anscheinend sehr freute, dass er wieder aufgewacht war. Jeder auf seine Weise halt.

Wenn man seine kleine Schwester so ansah, mit ihren blauen Augen und den Engelslocken, war es fast nicht zu glauben, dass Lisa eine richtig gemeine Zicke sein konnte. Und das mit acht. Lisa war das schmächtigste Mädchen in der Klasse und wurde im ersten Jahr von einigen ihrer Mitschüler gehänselt und verspottet. Besonders zwei rotgesichtige »Arschlochkinder«, wie Papa Berger sie damals nannte, versuchten alles, um Lisa das Leben zur Hölle zu machen. Bis die kleine Lisa zur Kampfmaschine mutierte und sich wehrte. Mit Fäusten oder auch dadurch, dass sie Katzenscheiße in die Jausenbrote ihrer Peiniger schmierte, als die gerade am Klo waren. Sie ließ sich einfach nichts mehr gefallen, und irgendwann wurde sie dann von allen respektiert. Seither führte Lisa eine große Lippe in der Volksschule, was man von ihrem Bruder nicht so sagen konnte.

Er war eher der Typ »stiller Träumer«, der in seinen Gedanken oft ganz wo anders war als der Rest der Welt. Meist verlor er sich in Melodien, die in seinem Kopf herumzogen wie weiße Schäfchenwolken am tiefblauen Sommerhimmel. Wenn ihn die Lehrerin an die Tafel bat, musste sie dreimal »Bastian!« sagen, bis er es einmal hörte. Er war trotzdem kein schlechter Schüler, war hilfsbereit und ließ seine Klassenkollegen abschreiben. Er hatte also durchaus ein paar Freunde, doch dank Lisa waren das nicht allzu viele. Denn um selbst im Mittelpunkt zu stehen, machte sie auch vor ihrem Bruder nicht Halt.

Einen Tag vor der Jagd auf Bastian hatte sie in ihrer Klasse erzählt, er wäre gar nicht ihr richtiger Bruder, sondern irgendwo in einer Höhle im Wald gefunden worden. Aufgezogen hätte ihn ein Wolf, das wäre auch der Grund, warum er zuhause im Keller wohne, kleine Katzen fresse und Mama und Papa Berger ihn ab und zu an die Kette legen müssten.

Die Mädchen aus Lisas Klasse liefen schreiend davon, als Bastian sich auf dem Gang draußen seine Schuhbänder zuschnürte. Die Jungs aus den höheren Klassen wollten wissen, was da los war. Als sie den Grund der Panik erfuhren, war für sie sonnenklar, dass sie diesen gefährlichen »Wolf« jagen mussten. Bastian wurde wieder mal durch das Schulgebäude gehetzt, wie schon so oft zuvor. Diesmal war der Auslöser der »Wolf« gewesen, es gab aber auch jede Menge andere Gründe. Weil er es als »dicker Brummer« im Turnunterricht nicht schaffte, über den Bock zu springen, oder beim Fußballspielen den Ball nicht traf, beim Laufen über seine eigenen Füße stolperte oder einfach, weil ihnen langweilig war und sie jemanden brauchten, mit dem sie etwas »Spaß« haben konnten.

Dass sie alle begeistert applaudierten, ja sogar »Zugabe« riefen, wenn Bastian bei diversen Schulveranstaltungen auf der Bühne die aktuellen Popsongs in das Mikro röhrte, und zwar saugut und gänsehautfabrizierend, war ihnen in diesem Moment völlig egal. Eine andere Baustelle. Musikalisch konnte ihm keiner etwas vorwerfen, da wurde er selbst von seinen Peinigern auch mal als »Genie« bezeichnet. Was bei den Jungs in diesem Alter aber viel mehr zählte, war Sport in allen Varianten. Wer sich da blöd anstellte, hatte von Haus aus schlechte Karten. Und Bastian hatte die allerschlechtesten.

Luftgitarrengott

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