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Europa – Die Fremde aus dem Orient

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Europa ist nach einer Frau aus dem Libanon benannt, also aus griechischer und europäischer Sicht nach einer Fremden. Natürlich nicht nach irgendeiner Fremden, königlichen Geblüts musste sie schon sein. Europa stammte aus einer Hochburg der Phönizier, die in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends den Handel im Mittelmeerraum beherrschten und sogar bis nach Spanien kamen. Europa war die Tochter des Königs Agenor, der die reiche Stadt Sidon regierte (andere Quellen sprechen von Tyros). Auf einem seiner zahlreichen amourösen Abenteuer kam der oberste griechische Gott Zeus an die Küste Phöniziens, erblickte am Strand die schöne Europa im Kreise ihrer Gespielinnen und fragte sich, wie er es anstellen könne, sie für sich zu gewinnen. Er verwandelte sich schließlich in einen Stier, lud die Königstochter ein, auf seinem Rücken Platz zu nehmen und rauschte mit ihr über das Meer bis zur Insel Kreta. Nachdem Zeus wieder seine eigentliche Gestalt angenommen hatte, kamen sich der Gott und Europa so nahe, dass am Ende drei Söhne geboren wurden, deren ältester den Namen Minos erhielt. Dieser wurde König auf Kreta und residierte im Palast von Knossos.


Jupiter entführt in Gestalt eines Stiers die Königstochter Europa, Wandmalerei aus Pompeji, Archäologisches Nationalmuseum Neapel

Ein bemerkenswerter Mythos: Er dokumentiert, dass die Griechen wussten, woher ihre Kultur kam – aus dem Vorderen Orient, der dem Westen damals in wirtschaftlicher, technologischer und wissenschaftlicher Hinsicht weit voraus war. Ohne die Impulse aus dem Osten hätten sich die Griechen nicht so entwickelt, wie sie es getan haben. Bemerkenswert ist einerseits, dass sie sich, wie der Europa-Mythos zeigt, dessen durchaus bewusst waren, und dass sie andererseits diese Impulse gerne aufnahmen und etwas daraus gemacht haben.

Dieser Vorgang des Kulturtransfers aus dem Orient spiegelt sich auch in einem Anschluss-Mythos wider. Als Europa verschwunden war, machte sich ihre Familie Sorgen. So wurde ihr Bruder Kadmos beauftragt, nach der Schwester zu suchen. Er wandte sich, wie auch die Griechen es zu tun pflegten, an das Orakel von Delphi, das dazu riet, die Nachforschungen nach Europa aufzugeben und stattdessen in Böotien die Stadt Theben zu gründen. So ging der Phönizier Kadmos in die Annalen ein als Gründer der später bedeutenden griechischen Stadt Theben. Und die Thebaner waren stolz auf den fremden Gründer und hielten ihn immer in Ehren.

Fremde und Fremdsein in der Antike

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