Читать книгу Putins Macht - Hubert Seipel - Страница 14
Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner
ОглавлениеSeither steht Angela Merkel unter Druck, und dies nicht nur wegen der Auseinandersetzung um das Gas aus Russland. Europa ist auch nicht nur wegen des Coronavirus zerstrittener denn je. In ihrem Buch Das Licht, das erlosch analysieren der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev und sein Co-Autor, der Rechtswissenschaftler Stephen Holmes, die neue Frontlinie. Standen sich einst Kapitalismus und Kommunismus gegenüber, so sind es heute Liberale und enttäuschte Nachahmer des Liberalismus. In Windeseile wurden den Gesellschaften im Osten wirtschaftliche Rosskuren aufgezwungen, wurden die Länder mit Konsumgütern, Fast-Food-Ketten und jeder Menge moralischen Ratschlägen versorgt. Ein Prozess, »gefördert und überwacht vom Westen«, beschreiben die Autoren die Umstrukturierung des Ostblocks.[34]
Die Westeuropäer glauben, sie seien die fortschrittlichsten Menschen auf Erden, so die Diagnose der Autoren, doch für Osteuropäer vollziehe sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine erneute Traumatisierung. Diesmal zerfalle nicht mehr ein abstraktes Imperium, sondern ganz konkret das eigene Leben. Für Krastev und Holmes ist Europa tief gespalten. Es sei nicht nur eine Spaltung in Arm und Reich oder Nord und Süd. Die Länder verbarrikadierten sich heute wieder in nationale Gemeinschaften. Der europäische Graben verlaufe zwischen denen, die »den Zerfall des einstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben«.
Rezepte, wie die neue Trennung überwunden werden kann, sind rar und umstritten. Wie etwa die Forderung des US-Politologen Mark Lilla. Seine These: Nur die konkrete Politik und deren Institutionen im eigenen Land hätten die Chance, etwas zu verändern, und nicht die Vorstellung persönlicher Selbstoptimierung und die Verbreitung moralischer Vorschriften, jene Zwangsvorstellung des Westens etwa, alles Politische sei Teil einer privaten Identität, der andere zu folgen haben. Wer sein Land verändern will, so der US-Wissenschaftler in der Zeit, muss sich mit ihm identifizieren. Lillas Forderung ist im Westen als besondere Form des Nationalismus suspekt. Im Osten Europas ist sie sehr konkret.[35]
Jeder zehnte Bulgare verließ bislang sein Land, über drei Millionen Rumänen leben und arbeiten im Ausland, und in Polen und Litauen sieht es ähnlich aus. Es geht dabei nicht nur um Jobs, die so schlecht bezahlt sind, dass im Westen kaum noch jemand dafür arbeiten will – als Bauarbeiter oder Fließband-Metzger in deutschen Schlachthöfen, als Altenpfleger oder Erntehelfer, die zur Not auch in Zeiten von Corona kurzfristig eingeflogen werden, um zu Dumpingpreisen Spargel zu ernten. Es geht auch um Tausende von Ärzten. Sie wurden im Osten ausgebildet und versuchen ihr Glück im Westen. In ihren Heimatländern hinterlassen sie eine empfindliche Lücke.
Der Westen profitiert von seiner Wirtschaftskraft und blickt mit Verachtung herab auf die Länder in Osteuropa, in denen nicht Schlagworte wie »Multikulti«, »Säkularismus« und »Homoehe« hoch im Kurs stehen, sondern traditionell konservative Begriffe wie Vaterland, Kirche und Familie.
Für Wladimir Putin ist dieser Teil gepredigter Identitätspolitik des Westens reine Arroganz: »Die westlichen Ansichten sind mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit unserer Bevölkerung in Konflikt geraten. Nehmen Sie die traditionellen Werte. Wir haben keine Probleme mit LGBT-Personen. Gott bewahre, lass sie leben, wie sie wollen. Aber das darf nicht die Kultur, die Traditionen und die traditionellen Familienwerte von Millionen von Menschen, die die Grundgesamtheit bilden, überschatten.«
Viele der Rezepte, die Berlin und Brüssel dem Rest Europas verschreiben und zu denen es in der Merkel’schen Diktion »keine Alternative« gibt, entspringen westlichen Überlegenheitsvorstellungen. Sie sind alles andere als von Verständnis oder gar Einfühlung in fremde Welten geleitet. Unwashed natives nannten die Engländer zur Zeit des British Empire jene Untertanen etwa in Indien, die sich gegen die verordnete Übernahme des englischen Lebensstils zur Wehr setzten.