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1 Deutschlands langer Abschied von Amerika

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Die politischen Handlungsreisenden, die seit Jahrzehnten regelmäßig Mitte Februar nach München kommen, kennen sich meist schon länger. Das Treffen im Fünf-Sterne-Hotel Bayerischer Hof dauert in der Regel ein Wochenende und ist weiträumig abgesichert. Auch 2020 sperren Tausende von Polizisten für die Ankunft der Politprominenz die Straßen um den Promenadeplatz ab, versiegeln Kanaldeckel und montieren elektronische Sicherheitsschleusen am Hoteleingang. Was das schweizerische Davos für die globale Wirtschaftselite ist, ist die Münchner Sicherheitskonferenz für die Vertreter weltweiter Geopolitik. Dutzende von Staats- und Regierungschefs treffen sich in der Lobby des Hotels zu den offiziellen Konferenzen, führen in den ausgebuchten Suiten diskrete Hintergrundgespräche, treffen informelle Absprachen.

Die Liste der Teilnehmer ist lang. Politikerinnen und Politiker aus allen Enden der Welt, Lobbyisten der Rüstungsindustrie, Generäle der Nato oder CEOs internationaler Unternehmen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist ebenso vertreten wie der amerikanische Außenminister Pompeo und seine Kollegen aus China und Russland, Wang Yi und Sergej Lawrow. Aus Kiew ist der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eingeflogen und aus Washington ein halbes hundert Parlamentarier – darunter die Sprecherin des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, achtzig Jahre alt und streitbare Gegenspielerin von US-Präsident Donald Trump.

Das war nicht immer so. Die Münchner Sicherheitskonferenz, 1963 als »Wehrkundetagung« gegründet, ist ein klassisches Produkt des Kalten Krieges. Die Tagung diente über Jahrzehnte ausschließlich Amerikanern und Deutschen als transatlantische Selbstvergewisserung unter Freunden, eine Art Familientreffen der Nato. Hier kamen der spätere Kanzler Helmut Schmidt und der amerikanische Sicherheitsberater Henry Kissinger bereits zum intimen Meinungsaustausch über die Kubakrise zusammen, als beide in den internen Zirkeln der Macht noch als vielversprechende Nachwuchspolitiker galten. Aus der intimen Runde von einst hat sich in den vergangenen Jahren ein internationales Diskussionsforum der sicherheitspolitischen Elite entwickelt, die regelmäßig über die weltpolitische Lage debattiert.

Diesmal ist alles anders. Es sind nicht nur die üblichen Verdächtigen aus China und Russland, die am Pranger stehen, weil beide nicht den guten Ratschlägen des Westens folgen, um die Welt besser zu machen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht 2020 die hausgemachte Krise unter Freunden und ein mögliches Ende der transatlantischen Allianz. Es geht um »America first« und was das für den Rest der Welt bedeutet. »Westlessness« – »Westlosigkeit« – heißt der Kunstbegriff aus dem Englischen, der dem Krisentreffen als Motto dient. Es geht nicht nur um das drohende Ende der alten Ordnung. Es geht auch darum, dass die Welt immer weniger westlich geprägt ist, so lautet ein Teil der Analyse. Gemeint ist damit auch, dass der Westen die eigenen Vorstellungen selbst nicht umsetzt und damit wenig überzeugend ist. Und last but not least: Der einstige Pate europäischer Politik, die Vereinigten Staaten von Amerika, hat ausschließlich eigene Interessen im Blick. Das war zwar immer so, aber es wurde nie so deutlich ausgesprochen wie derzeit.

Wolfgang Ischinger, der Leiter der Konferenz, zieht daher eine bittere Bilanz: »Die Jahre seit 2014 sind durch die höchste Zahl bewaffneter Konflikte seit 1946 gekennzeichnet. Gleichzeitig dauern Konflikte länger an, früher durchschnittlich knapp zehn Jahre, heute siebenundzwanzig Jahre.« Für den einstigen deutschen Botschafter in Washington und flexiblen Transatlantiker eine ernüchternde Erkenntnis. »1,8 Milliarden Menschen – rund ein Viertel der Weltbevölkerung – leben in fragilen Staaten mit hohen Sicherheits- und Entwicklungsrisiken. Fast 71 Millionen Menschen sind auf der Flucht, so viele wie noch nie zuvor.« Aussicht auf Besserung ist nicht in Sicht. Die weltweite Coronavirus-Pandemie wird die Zahlen weiter in die Höhe treiben.[14]

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