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Jeder stirbt für sich allein

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Die Corona-Pandemie hat die Entfremdung zwischen den USA und Europa weiter vorangetrieben. Als sich die Außenminister der sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten im April 2020 wegen des Coronavirus zu einer Videoschalte treffen, können sie sich über vier Stunden nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen, wie die Länder nun gegen die Gefahr vorgehen wollen. Der Grund ist der absurde Streit, welchen Namen die Seuche tragen soll. Die USA bestehen schon in den Vorgesprächen darauf, in einer möglichen Abschlusserklärung der G7 die chinesische Herkunft des Virus zu betonen. US-Außenminister Mike Pompeos Argument: »Die Kommunistische Partei Chinas stellt eine erhebliche Bedrohung für unsere Gesundheit und Lebensweise dar, wie der Ausbruch des Wuhan-Virus deutlich gezeigt hat.« Die Partei drohe, die freie und offene Ordnung in den G7-Ländern zu untergraben. Die Gruppe, der neben den USA und Deutschland auch Frankreich, Italien, Großbritannien, Japan und Kanada angehören, einigt sich schließlich darauf, auf eine gemeinsame Erklärung lieber zu verzichten, statt dem Vorschlag der USA folgend zu suggerieren, bei dem Coronavirus handele es sich nur um ein chinesisches Problem. Dabei war der amerikanische Präsident schon früh auf die tödliche Gefahr durch das Virus aufmerksam gemacht worden. Bereits Ende Januar 2020 informierte ihn sein nationaler Sicherheitsberater Robert O’Brien, dass die USA wie die restliche Welt von einer ähnlichen Katastrophe bedroht sei wie 1918, als schätzungsweise 50 Millionen Menschen an der Spanischen Grippe starben. Für Donald Trump war die Corona-Seuche, die zuerst in Wuhan ausgebrochen war, allerdings erst einmal nicht mehr als eine weitere politische Waffe gegen die chinesische Konkurrenz. In den USA spielte er über Monate die Gefährlichkeit des Virus als eine harmlose Variante einer Art Erkältung herunter, die bei besserem Wetter schon wieder verschwinden würde. Die Verharmlosung von Amts wegen kostete (bis Ende des Jahres 2020) in den USA über 250000 Menschen das Leben, über 8 Millionen Menschen erkrankten in dieser Zeit – mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Trump wusste über die Gefahr Bescheid. Das neue Virus sei »deadly stuff« – »viel tödlicher als unsere heftigen Grippewellen«, erklärte er im Februar dem amerikanischen Journalisten Bob Woodward, die Gefahr sei viel größer, als er öffentlich zugebe. »Sie atmen die Luft ein, und schon haben sie das Virus«, erklärte er in einem der achtzehn Interviews, die Woodward für sein Buch Wut mit dem Präsidenten führte. Die neue Krankheit treffe keineswegs »nur alte Leute«, sondern ebenso »die jungen Menschen«. Er wolle mit der Verharmlosung der Epidemie »einer Panik im Land vorbeugen«, so Trumps zynisches Argument – und gegen China Stimmung machen.[36]

»Das Resultat der nationalen Kraftanstrengungen, die jetzt bei uns allen gefordert sind, darf nicht eine Spirale nationaler Egoismen sein«, verkündete der deutsche Außenminister Heiko Maas pathetisch nach dem Treffen der europäischen Außenminister mit dem amerikanischen Kollegen. Das Statement hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Das Coronavirus hat auch Europa gespalten. Im Kampf gegen das Virus ist der Nationalstaat längst wieder zum Maßstab des Handelns geworden. Nicht nur die täglichen Infektionskurven in den Medien vergleichen den Erfolg Deutschlands beim Kampf gegen die Krankheit zwischen »uns« und den »anderen« wie ansonsten nur den Stand deutscher Fußballclubs in der Tabelle der Champions League.

Italien hat im Europa der Krise so viele Tote wie kein anderes Land gemeldet. Schon Ende Februar 2020 forderte das Land über den EU-Zivilschutz-Mechanismus Mundschutzmasken an. Die EU-Kommission rief die Mitgliedstaaten auf, medizinische Ausrüstung nach Italien zu senden. Leider habe kein einziges EU-Land auf den Aufruf reagiert, schrieb Italiens EU-Botschafter Maurizio Massari in einem Gastbeitrag für das Magazin Politico. Deswegen habe sich das Land an China und Russland gewandt.[37]

Was amerikanische und deutsche Journalisten schnell als Politmarketing abwerten, hat einen ernsten Hintergrund. »Italiens Hinwendung zu China und Russland erfolgt, da sich die EU und deren Mitgliedstaaten aus italienischer Sicht als nur bedingt verlässlich in der Lage zeigen«, bestätigt ein interner Lagebericht des deutschen Verteidigungsministeriums die prekäre Lage Roms, den der Spiegel zitiert.[38] Der russische Präsident Wladimir Putin schickt neun Militärflugzeuge mit medizinischem Material, Atemmasken, Beatmungsgeräten und Dutzenden von Spezialisten, die Italiens Außenminister Luigi Di Maio mitten in der Nacht auf der Landebahn des Militärflugplatzes Pratica di Mare persönlich in Empfang nahm.

Auch China liefert. »Als kein europäischer Staat auf Italiens dringende Bitte reagierte, medizinische Ausrüstung und Schutzkleidung zur Verfügung zu stellen, hat China sich öffentlichkeitswirksam bereit erklärt, 1000 Ventilatoren, 2 Millionen Masken, 100000 Beatmungsgeräte, 20000 Schutzanzüge und 50000 Test-Kits zu schicken«, schreibt Foreign Affairs, das Zentralorgan der amerikanischen Außenpolitik. China schickte außerdem Ärzteteams und 250000 Masken in den Iran und Versorgungsgüter nach Serbien, dessen Präsident die europäische Solidarität als ein »Märchen« bezeichnete und äußerte: »Das einzige Land, das uns helfen kann, ist China.«[39]

Zuvor hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits massiv auf die drohende Gefahr hingewiesen, die nur gemeinsam zu bewältigen sei: »Große Teile der Weltgemeinschaft sind noch nicht bereit, von der Einstellung her und materiell, um die Maßnahmen in die Wege zu leiten, die in China zur Eindämmung von Covid-19 angewendet wurden. Es sind dies die einzigen Maßnahmen, die sich als wirksam erwiesen haben zur Unterbrechung oder Reduzierung der Infektionsketten.«[40]

Für Trump ist der Ratschlag der WHO-Experten nur ein weiterer Beleg, dass die UNO-Organisation mit China unter einer Decke steckt. Er stoppte die Zahlungen an die WHO und erklärte den Austritt aus dem internationalen Gremium. Dass er sich im Oktober 2020 selbst mit Corona ansteckte und dank der exklusiven Behandlung als US-Präsident rasch wieder auf die Beine kam, nahm er zum Anlass, die Krankheit trotz besseren Wissens weiter zu verharmlosen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in der Corona-Krise Fehler der Europäischen Union im Umgang mit Italien eingeräumt. In einem Gastbeitrag für die italienische Zeitung La Repubblica entschuldigte sie sich für die mangelnde Solidarität. Viele EU-Staaten seien zu Beginn der Pandemie zu sehr auf die eigenen Probleme fixiert gewesen, so von der Leyen. »Es muss anerkannt werden, dass in den ersten Tagen der Krise angesichts der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Antwort zu viele nur an die eigenen Probleme dachten.«[41]

Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte schreibt sich am selben Tag in der Zeit den Frust über die mangelnde europäische Hilfe von der Seele. »Die politische Klasse dieses Kontinents muss sich bewusst sein, dass es um die Bewältigung einer historischen Aufgabe geht, um nichts anderes … Wir können die heutige Herausforderung nicht mit der Brille der Vergangenheit angehen.«

Für Heiko Maas, Jahrgang 1966, der, wie er in seiner Antrittsrede als Außenminister bekundete, »wegen Auschwitz in die Politik gegangen« ist, besteht indes kein Grund zur Selbstanklage. »Das ist wie im Flugzeug: Jeder sollte sich im Notfall erst seine Maske aufsetzen, bevor er anderen hilft. Wenn wir unsere nationalen Hausaufgaben nicht gemacht hätten, hätten wir auch niemanden außerhalb unseres Landes unterstützen können. Die Reihenfolge war richtig.« Das Problem mit der Argumentation des deutschen Außenministers ist nur, dass Italien viel früher und besonders heftig von dem Virus befallen war und dringend Hilfe brauchte, als Deutschland noch weitgehend verschont war.

Wie sich die Corona-Pandemie weiterentwickelt, lässt sich unmöglich vorhersagen. Dass sich das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China nicht bessern wird, ist indes schon jetzt klar. China ist zum wirtschaftlichen und politischen Konkurrenten aufgestiegen. Das Land hat viermal so viele Einwohner wie die USA. Die amerikanische Hegemonie bröckelt. Dennoch gehen die USA davon aus, weiter die Spielregeln bestimmen zu können. Wenn es sein muss, mit wirtschaftlichen Sanktionen oder militärischen Interventionen – wie bisher, sollten Verbündete oder die politische Konkurrenz nicht spuren. Daran hat auch Joe Biden nach seinem Amtsantritt keine Zweifel aufkommen lassen.

Es ist die bis heute ungebrochene elitäre Vorstellung, etwas Besonderes zu sein. Der einflussreiche Senator John McCain formulierte noch kurz vor seinem Tod im Jahr 2018 seinen festen Glauben an die Sonderstellung der USA in einem seiner letzten Artikel für die New York Times. Es ist gleichsam sein politisches Testament:

»Wir sind anders als andere Nationen, weil uns nicht ein einzelnes Land oder Volk oder eine einzelne Rasse oder Glaubensgemeinschaft verbindet, sondern weil uns ein Ideal verbindet – die Vorstellung, dass Freiheit das unveräußerliche Recht der Menschheit ist und im Einklang mit der Natur und ihrem Schöpfer steht … Wir sind die Hauptarchitekten und die Verteidiger einer Weltordnung, die sich ableitet von unseren politischen und wirtschaftlichen Werten.«[42] Eine Vorstellung, die Republikanern wie Demokraten trotz der ansonsten unterschiedlichen Agenda gemeinsam ist.

Doch die Zeit für einen übermächtigen Platzanweiser, der anderen Nationen die Rolle zuweist, die ihnen in dem amerikanischen Spiel zustehen, ist vorbei. China und Russland vertreten eigene Interessen und haben schon vor Jahren ein strategisches Bündnis geschlossen. Bleibt Europa, das zunehmend zwischen neuer Wirklichkeit, alter Verbundenheit und nationalen Interessen hin und her schwankt. Allen voran die Deutschen, die der gefühlte große Bruder jenseits des Atlantik nun nicht mehr mit dem vergangenen Appell an gemeinsame Werte im eigenen Lager halten will, sondern nur noch mit drakonischen Strafmaßnahmen.

Der zunehmende Streit über das, was geht und was nicht, hat Angela Merkel kurzfristig zu einem Kurswechsel veranlasst. Seit 2018 verhandelt ihr neuer außenpolitischer Berater, Jan Hecker, diskret mit seinen russischen Gesprächspartnern, um Lösungen für die Ukraine und Syrien zu finden. Der ehemalige Richter hat Merkels langjährigen Vertrauten und russophoben Transatlantiker Christoph Heusgen abgelöst, der für die harte Politik der Kanzlerin gegen Moskau mitverantwortlich war. Jan Hecker ist nicht allein unterwegs. Die politische Konkurrenz in Europa hat die deutsche Annäherung beschleunigt.

Paris, Ende August 2019. Emmanuel Macron hat an diesem Abend eine kleine Runde ausgewählter europäischer Botschafter und Politiker in den Élysée-Palast geladen. Der Text, den der deutsche Botschafter stichwortartig mitschreibt, macht vierundzwanzig Stunden später im Bundeskanzleramt die Runde. Es ist die erste halböffentliche Abrechnung eines wichtigen westlichen Landes mit der jüngeren Vergangenheit. »Die Dinge ändern sich«, analysiert Emmanuel Macron in dem vertraulichen Zirkel. »Und sie geraten durch die von den westlichen Ländern begangenen Fehler in bestimmten Krisen ins Wanken.« Er benennt auch einen Schuldigen: »Die Vereinigten Staaten von Amerika befinden sich im westlichen Lager, fühlen sich aber nicht dem gleichen Humanismus verpflichtet. Wir teilen nicht die gleiche Auffassung bei Fragen zum Klima, zur Gleichstellung und zu sozialen Gleichgewichten. Wir befinden uns in Europa, genauso wie Russland. Und wenn wir es an einem bestimmten Punkt nicht schaffen, etwas Sinnvolles mit Russland anzufangen, wird eine grundlegende, unproduktive Spannung fortbestehen.«

Putins Macht

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