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Great again – auch auf Kosten der Nachbarn

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Warum es so gekommen ist, beschreibt an diesem Freitagnachmittag der deutsche Bundespräsident. Frank-Walter Steinmeier ist in der Vergangenheit nicht gerade als polarisierender Politiker aufgefallen. Der einstige Außenminister beherrscht das Handwerk des Gewerbes perfekt, die jeweilige Lage nach den jeweiligen Interessen in gesetzten Worten zu verkaufen. Steinmeier kommt schnell zur Sache.

»Ich bin nun nicht mehr Stammgast hier«, entschuldigt sich der Bundespräsident vorsorglich zu Beginn seiner Eröffnungsrede und bemerkt scheinbar beiläufig, »Diplomatie ist jetzt nicht mehr mein Kerngeschäft.« Dann liest er den versammelten Politikerinnen und Politikern die Leviten. Recht und Regeln seien offenkundig zwar für kleinere Staaten überlebensnotwendig, zitiert er sinngemäß den griechischen Philosophen Thukydides, »für Großmächte ist das allerdings wohl nur eine von vielen Möglichkeiten«. Zum Auftakt kritisiert das deutsche Staatsoberhaupt routiniert die üblichen Verdächtigen der Nato-Partner. Russland habe, keine Frage, durch Unberechenbarkeit und Konfrontation einen Vertrauensverlust erzeugt. Und China akzeptiere das Völkerrecht nur selektiv und verstöre »uns alle« mit dem massiven Vorgehen gegen Minderheiten im eigenen Land.

Die klassischen Feindbilder, die Steinmeier bedient, sind allerdings nur der Auftakt zu einer fundamentalen Kritik an Amerika. Der Auftritt des deutschen Politikers wird zur Abrechnung, zum Ausdruck einer tiefen Enttäuschung über einen jahrzehntelangen Bündnispartner, dessen weltpolitische Regieanweisungen deutsche Regierungen in der Vergangenheit allenfalls hinter vorgehaltener Hand kritisiert haben. »Unser engster Verbündeter, die Vereinigten Staaten, erteilen unter der jetzigen Regierung selbst der Idee einer internationalen Gemeinschaft eine Absage«, so Steinmeiers Fazit. »Als ob eine Haltung, jeder ist sich selbst der Nächste, schon Weltpolitik sein könnte. Als ob an alle gedacht sei, wenn jeder an sich denkt. Great again – notfalls auch auf Kosten der Nachbarn und Partner.« Die Rede ist der offizielle Abschied des Bundespräsidenten von dem Ziel, die Welt nach westlichem Vorbild zu gestalten, was immer der Westen und Amerika genau darunter verstanden haben.

Frank-Walter Steinmeier weiß, wovon er spricht. Selbst wenn der einstige Außenminister die ständigen Konflikte der vergangenen Jahre zum ersten Mal öffentlich anprangert: Neu ist die schmerzhafte Erkenntnis nicht, dass Deutschland und Europa schon seit längerem nicht mehr im Mittelpunkt amerikanischen Interesses stehen. »Wir müssen uns vor der Illusion hüten«, so Steinmeier, »dass das schwindende Interesse der USA allein auf die gegenwärtige Administration zurückzuführen ist. Die Verschiebung hat früher begonnen, und sie wird auch nach dieser Administration weitergehen.«

Die Aussichten, dass sich das bald wieder ändern könnte, sind schlecht. Amerika hat seine Rolle als die führende Weltmacht eingebüßt. Der rasante Aufstieg Chinas in die globale Liga der Supermächte hat die Gewissheit des Westens erschüttert, dass wirtschaftlicher Fortschritt nur in Demokratien möglich ist. Das Reich der Mitte ist neben den USA Deutschlands größter Handelspartner. Zum anderen ist Europa sich selbst nicht einig, was es will. England hat sich mit dem Brexit von der EU verabschiedet, und die Beliebtheit der Deutschen in Resteuropa hält sich zunehmend in Grenzen. Für die USA ist es einfach, einzelne Staaten gegeneinander auszuspielen. Mit Vorliebe instrumentalisiert Washington Polen und die baltischen Staaten. Die Länder haben sich zwar gerne der Europäischen Union angeschlossen, haben aber mit Russland alte Rechnungen offen, aus der Sowjet-Ära ebenso wie aus der Zarenzeit.

Den eigenen Landsleuten bescheinigt der deutsche Bundespräsident »Selbstüberschätzung«. Als Deutsche sollten »wir unsere Außenpolitik nicht mit zu viel Heilserwartung überfrachten«. Unsere Politik dürfe sich »nicht in moralischen Verurteilungen« erschöpfen und in der weitverbreiteten Vorstellung, »alles wäre gut, wenn nur alle so vernünftig wären wie wir Deutschen«.

»Wir glauben gerne«, so Steinmeier weiter, dass »wir die Lektionen der europäischen Geschichte aufgrund unserer Vergangenheit« am »gründlichsten gelernt haben«. Ein Irrglaube, der »uns blind gemacht hat dafür, dass unsere Nachbarn die Welt anders sehen«. Dass Europa nicht enger zusammenhalte, sei wohl nicht zuletzt auch die Schuld der Deutschen. Trotz aller Kritik der osteuropäischen Staaten an Russland aus deren Trauma der Vergangenheit fordert der Bundespräsident, auch in Zukunft auf Russland zu setzen: »Mit einer zunehmenden Entfremdung von Russland kann und darf Europa sich auch nicht dauerhaft abfinden. Wir brauchen ein anderes, ein besseres Verhältnis der EU zu Russland und Russland zur EU.«[15]

Die Rede »war mehr als eine umfassende Analyse der Weltpolitik. Sie war und ist ein Rettungsversuch«, kommentierte die Frankfurter Allgemeine, die ansonsten wenig auf das transatlantische Bündnis kommen lässt. »Steinmeier hielt ein flammendes Plädoyer für die inzwischen vielfach verhöhnte Idee, eine sich an Regeln und Verträge haltende Zusammenarbeit sei für die Staatengemeinschaft insgesamt wie auch für jedes einzelne Mitglied besser als das rücksichtslose Verfolgen der jeweiligen eigenen Interessen auf wessen Kosten auch immer.«[16]

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