Читать книгу Mein Speck kommt von eurem Dreck! - Imre Kusztrich - Страница 16
ОглавлениеUnser Organismus mag Fett
Wir sehen eine paradoxe Situation. Unser Körper mag Fett, kein Zweifel. Unsere Fettzellen dürfen sich bis zum Platzen füllen. Und unsere Fettgewebe dürfen sich ausdehnen bis zum Geht-nicht-mehr. Dem steht eine dem Bauchspeck sehr kritisch eingestellte Gesellschaft gegenüber. Körperfett wird seit 50 Jahren verteufelt. Fettleibige werden als Mitmenschen gesehen, die ihr Dicksein selbst herbeiführen, ohne Gegenwehr zulassen und schicksalshaft hinnehmen.
Diese Einstellung ist ein Produkt aus Missverständnis, Lüge und Unkenntnis. Die Mehrzahl der Menschen glaubt zum Beispiel tatsächlich, die Nahrungsfette auf dem Kuchenteller, auf der Scheibe Brot oder im Schweinebraten sind identisch mit dem Inhalt unserer Fettzellen.
Das ist ein Trugschluss. Körperfett ist stets ein bewusst im Organismus verarbeiteter Überschuss, der unabhängig von der Nahrungsquelle, aus der er stammt, stets in Form von Fett gespeichert wird. Es ist jene Reserve, die unser auf Vermeidung von Verschwendung getrimmter Organismus aus unverbrauchten Kalorien selbst herstellt. Egal ob eine Portion Pizza zu viel, ein Glas Bier über dem Bedarf oder ein harmloser überflüssiger Apfel zu einem Zeitpunkt, in dem der Körper weitere Energien nicht braucht … was am Ende des Tages übrig bleibt, wird umformatiert und in den Fettgeweben und in der Leber in Form von Fettmolekülen aufbewahrt.
Ja, wir erzeugen ein bisschen Fett ebenfalls aus verzehrtem Fett. Aber wir erzeugen sehr viel mehr Fett aus Nicht-Fett. Wer sich das nicht vorstellen kann, muss sich nur fragen, wie ein Mastschwein zu seiner Fettschicht kommt. Bestimmt nicht, weil es mit Fett gefüttert wird. Oder wie gewinnt eine Avocado ihren Ölgehalt? Eine Olive? Pflanzen ziehen ihre Fettsubstanzen nicht durch die Wurzeln aus dem Erdreich. Auch sie produzieren ihr Öl maßgeschneidert selbst. Alle legen auch Speicher an. Der krautige Raps beispielsweise sammelt es in den Samenkörnern.
Übergewicht ist das Gesundheitsproblem Nummer 1. Ernährungsberater berichten von Kunden, die den ganzen Tag hungern und abends über den Kühlschrank herfallen. Oder sich nur 1.000 Kalorien gönnen, fünf Mal in der Woche im Fitnessstudio rackern und von ihrem Umfeld dennoch als willensschwach abgestempelt werden.
Kluge Menschen haben über die Rolle von Dicksein im Schicksal von Frauen nachgedacht. Das Ratgeberbuch „Fett ist ein Anliegen von Feministinnen“ (Fat Is A Feminist Issue) der britischen Psychoanalytikerin Susie Orbach lenkte 1978 das Interesse auf sehr komplexe Thesen. Eine lautet: Zwanghaftes Essen ist ein Werkzeug der Frau zur Vermeidung, sich als attraktive Frau zu vermarkten. Eine Frau, die sich schlank hungern würde, so wie sie von den männlichen Kollegen gesehen werden möchte, erlebte womöglich mehr freche Schlüpfrigkeit. Deshalb lässt sie es intuitiv sein. Andere wollen sich durch Übergewicht vielleicht desexualiseren. Sie weichen der Konkurrenz mit anderen Frauen aus.
Je mehr Rechte Frauen sich erkämpften, umso kritischer wurde der Blick auf den weiblichen Körper. Die Ungleichheit der Geschlechter führt zur hohen Zahl auf der Waage. „Fett drückt die Rebellion gegen die Wehrlosigkeit einer Frau aus“, urteilte die Autorin Susie Orbach 40 Jahre vor der #metoo-Bewegung. Vier von zehn Dicken, weibliche wie männliche, erleben im Alltag Ablehnung in krasser Form – der größte Wert unter allen Minderheiten. Das ist ein Ergebnis aus den U.S.A.
Bei uns ist das Stigma der Korpulenz noch größer. 71 Prozent der Erwachsenen finden Fettleibige sogar unästhetisch. Schon bei Mitmenschen, die ganz einfach nur dick sind, denken 38 Prozent ebenfalls so (Quelle: DAK-Gesundheit). Die große deutsche Krankenkasse DAK drängt mit Plakaten ihre 5,9 Millionen Mitglieder zur Vernunft: „Der Shaming-Quatsch macht krank“.
Beim Phänomen Body Shaming werden Menschen wegen ihres Aussehens beschämt. Fat Shaming richtet sich gegen die sichtbaren Fettpartien. Fettscham hat viele Gesichter. Eines beschrieb „BILD“ am 6. Juni 2020 so: „Hotel lässt keine dicken Gäste rein“. Es ging um die umstrittene Entscheidung eines Beachhotels in Cuxhaven, Niedersachsen. „Aus Haftungsgründen weisen wir darauf hin, dass das Interieur für Menschen mit einem Körpergewicht von mehr als 130 kg nicht geeignet ist.“ Designermöbel wichtiger als Menschen mit einem schweren Körper.
Eine Diskriminierung wegen des Gewichts beschädigt das Selbstbild vom eigenen Körper, verringert das Wohlgefühl und erhöht das Risiko für Depression. Auch ein gestörtes Essverhalten und ein Rückzug in die eigene Welt sind typisch. Eine Kettenreaktion. Dass die veröffentlichte Meinung Fettleibigkeit verunglimpft und verurteilt, wird sozial akzeptiert. Aber auch Institutionen des Gesundheitswesens, die Politik, Ärztinnen und Ärzte verstärken die Stigmatisierung. Laut diversen Umfragen halten ebenso 20 bis 50 Prozent Angehörige der Heilberufe stark Übergewichtige ohne Ansehen der Person für faul, gefräßig und willensschwach.
Jedem Übergewicht liegt eine Stoffwechselstörung zu Grunde. Die Gesellschaft ist alarmiert. Vermutlich bereits neun Millionen Deutsche sind im Jahr 2020 wegen Zuckerkrankheit in Behandlung – es gibt immer noch nicht ein bundesweites Register. Bei ihnen wurde die Störung zum Leiden. Die Dunkelziffer noch Ahnungsloser und Unbehandelter ist groß. Die Kosten sind kaum noch finanzierbar. Herz-Kreislauf-Leiden fordern jedes Jahr mehr Opfer als jede andere Todesursache. Sogar Krebs entsteht, weil Menschen nicht nur zu viel, sondern auch das Falsche essen.
Das alles geschieht vor einem Hintergrund, der uns alarmieren müsste. Das passiert aber nicht. Seit den 1960er Jahren wird die Ernährungswissenschaft von zwei gegensätzlichen Auffassungen dominiert. Auf der einen Seite glauben die Fachleute zu wissen, wie man sich gesund ernährt und ein vernünftiges Gewicht behält. Auf der anderen Seite zeigen die immens ansteigenden Zahlen zu Übergewicht und zu Diabetes, zu nicht-alkoholischer Fettleber und weiteren Stoffwechselerkrankungen, dass unser Denken gravierende Fehler enthält.
Von 1980 bis heute hat sich die Zahl der Übergewichtigen in 73 Ländern verdoppelt. In 113 weiteren ist sie angestiegen. Keine einzige Regierung kann bisher dieses Problem lösen. Aus 13 Prozent Bevölkerungsanteil korpulenter Menschen wurden innerhalb von drei Generationen 40 Prozent. Statt einem von 100 Menschen mit Zuckerkrankheit sind es heute nahezu zehn.
So viel ist klar: Abermillionen Menschen wurden 50 Jahre lang falsche Botschaften vermittelt. Von der Zuckerindustrie. Von den Medien. Von der Politik. Auch von der Wissenschaft. Immer wieder: Der Konsum von Fett macht fett und herzkrank. Vermeidet Fett, esst fettarm.
Sogar die Politik ließ sich instrumentalisieren. Heute wissen wir: Die Ernährungspyramide der 1990er Jahre wurde von Lobbyisten der Getreidefarmer mitentworfen. Die Angaben waren wie in Stein gemeißelt. Nein zu Butter und fettem Fleisch. Ja zu Brot und Backwaren und damit unausgesprochen ja zu Süßigkeiten. Optisch sah es so aus: An der Spitze Fette, Öle … möglichst sehr wenig. Direkt darunter Milch, Käse, Eier … möglichst wenig. Ganz unten Brot, Nudeln, Reis, Kekse … erlaubt. Inzwischen wird die Pyramide durch einen Kreis ersetzt. Aber sie steckt heute noch in unseren Köpfen. Die Nahrungsindustrie kassierte vom ersten Augenblick mit angepassten Produkten ab. Margarine. Magerquark. Low Fat-Wurst. Fruchtjoghurt. Marmelade. Fruchtsäfte. Backwaren. Und vor allem jede Menge Süßes als Ersatz für ein saftiges Stück Fleisch.
Pharmakonzerne steuerten Medikamente gegen Blutfette und Appetitzügler bei. Welche langfristigen Folgen diese Eingriffe haben, ist übrigens noch nicht abzusehen. Der Körper lässt sich nicht ohne Gegenwehr bei Blutdruck, bei Cholesterin und Triglyceriden oder beim Speichern von Stoffwechselüberschuss dazwischenfunken.
Mehr als die Hälfte unserer Energie wird aus industriell hergestellten Nahrungsmitteln mit einem hohen Anteil an speziell verarbeiteten Kohlenhydraten bezogen. Gerade diese denaturierten Kohlenhydrate sind der kritischste Faktor in der Entwicklung der chronischen Volkskrankheiten. Diabetes, Metabolisches Syndrom, Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Gefäßerkrankung, Schlaganfall. Womöglich auch Krebs.