Читать книгу Negomi - Iracema Engel - Страница 8

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DER ERSTE TAG

Wien, Sommer 2010

»Hallo, liebe Stadtindianer! Hier ist euer Mike vom Hit-Radio-66! Die Sommerferien haben gerade erst begonnen, und schon stellen wir die ersten Hitzerekorde auf – von einem Abklingen ist so bald keine Rede! Ich hoffe, ihr verbringt den heißen Tag bei einem coolen Drink im Liegestuhl am City-Beach oder kommt kräftig ins Schwitzen beim Volley-Ball! Eure heißen Hit-Wünsche erfülle ich euch in der kommenden Stunde! Ein Anruf genügt! Und hier haben wir auch schon eine heiße Stadtindianerin in der Leitung! Hallo, Süße, what’s your name?«

»Hi, Mike! Hier ist Negomi!«

»Negomi? Geiler Name! Woher kommt der?«

»Aus dem Keltischen – glaube ich!«

»Uh! Gänsehaut! Mit dem bleibst du also immer supercool!«

»Darauf kannst du wetten!«

»Und was tut Negomi-Cool in diesen heißen Stunden?«

»Ich richte mein Zimmer ein.«

»Schweißtreibend?«

»Nein, ganz locker. Die Möbel stehen alle schon drin, jetzt räume ich nur noch die Bücher ein und stelle meine Lieblingssachen auf.«

»Negomi, du bist neu in Wien und studierst, habe ich gehört?«

»Ich habe die Aufnahmeprüfung auf einer Schauspielschule geschafft. Im Herbst geht es los.«

»Geile Sache, Negomi-Cool! Dann kann man dich hoffentlich bald auf der Bühne oder im Fernsehen bewundern!«

»Das hoffe ich auch!«

»Welchen heißen Hit darf ich denn für dich auflegen?«

»Ring of Fire von Johnny Cash!«

»Yeah, Baby, go! Negomi-Cool, ich wünsche dir viel Spaß beim Einräumen und einen supergeilen Hitze-Sommer! Und hier ist der King of Country mit einer seiner heißesten Nummern: Ring of Fire!

Love is a burning thingAnd it makes a fiery ringBound by wild desireI fell into a ring of fire…«

Ich tanzte und sprang durchs Zimmer, die letzten Bücher landeten im Regal. Zum feierlichen Abschluss nahmen meine Lieblinge ihre Ehrenplätze auf den niedrigen weißen Ikea-Kuben ein. Die rote Keramik-Hand, an der meine schönsten Ringe und Ohrringe und Armreifen und Ketten hingen: ein Geschenk von Anja zu meinem 13. Geburtstag. Die Glasschale mit den Steinen vom Strand von Cavalière: Im feuchten Sand unter den Wellen, die auf die kleine Bucht zugestürzt waren, hatten sie pastellen geleuchtet und geglänzt. Ich hatte sie wie Edelsteine gesammelt und in eine große Tüte gepackt, die meinen Reisekoffer gleich um ein halbes Kilo schwerer gemacht hatte. Trocken in der Glasschale waren ihre Farben matt und wenig verführerisch, aber sie trugen die Erinnerung an mein Paradies an der Côte d’Azur in sich. Unser Familienfoto im goldenen Rahmen: Papa, Mama, Irma, Arno und ich in den schönsten Sonntagskleidern. Alle lächeln. Nur ich gucke mit großen Augen ernst in die Kamera und halte mein Lieblingskuscheltier Nene fest in der Hand. Das Foto von Anja und mir in ihrem Garten auf der Schaukel: zwei vierzehnjährige Wirrköpfe, die, zugleich frech und verschämt, in die Kamera lachen. Und die hohe, schmale Vase aus blauem Glas, mundgeblasen für mich in einer Manufaktur in Venedig: ein Geschenk von meiner Omama Emi während unseres einzigen Aufenthalts in der traumhaften Lagunenstadt. Emi und ich hatten eine gelbe Tulpe aus Papier gebastelt, Emis Lieblingsblume in ihrer Lieblingsfarbe, und sie in die Vase gesteckt. So war sie seit meinem achten Geburtstag in meinem Kinderzimmer in Heisendorf gestanden. »…and it burns, burns, burns the ring of fire, the ring of fire!« – Alles ist fertig, ich bin angekommen, bereit ein neues Kapitel meines Lebens aufzuschlagen, endlich erwachsen, endlich frei! –

Ich trat aus dem kühlen Stiegenhaus und tauchte ein in die Hitzeschwaden im Innenhof, die sich wie dicke Decken um meine Haut legten. Vorne beim Tor grüßte ich die beiden steinernen Löwen, die auf den mächtigen Sockeln lagen und majestätisch über mich hinweg in die Ferne blickten. Meine weißen Pumps tänzelten mich zur Straßenbahnhaltestelle beim Schloss Belvedere. Ich hatte den roten Ledergürtel eng um meine Taille geschlungen und seinen Zipfel keck am Rücken in den Riemen gesteckt. Der leichte weiße Unterrock spielte um meine Knie, der Wind schwenkte den blauweiß geblümten Rock wie eine pralle Blüte. Die Hitze flirrte über dem glühenden Asphalt. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum.

An der Gartenmauer des Schloss Belvedere entlang klackerten meine Absätze über das Kopfsteinpflaster. Ein weißer Lieferwagen fuhr die Straße hinauf, mir entgegen. Er bremste. Zwei junge südländische Männer pfiffen und winkten mir aus dem offenen Fenster zu. Ich lächelte, hob den Kopf und setzte meinen Weg fort.

Am Schwarzenbergplatz beim Hochstrahlbrunnen stand ein Eiswagen. Ich kaufte mir eine Tüte mit Erdbeere und Vanille und setzte mich auf eine Bank im Schatten der alten Nadelbäume. Die Erdbeere gab der Vanille einen Kuss, der wie ein Traum auf meiner Zunge zerschmolz. Der Wind blies gegen den hoch aufschießenden Strahl in der Mitte des runden Steinbeckens und die Fontänen, die ihn umringten, und trug dicke Wasserfahnen über den Platz, auf dem sich eine große Pfütze bildete. Asiatische Touristen mit Fotoapparaten brachten sich schreiend in Sicherheit, kleine Kinder sprangen lachend und kreischend in dem Pfützensee. Ich saß weit genug abseits und bekam nur zarte Tröpfchenschleier ab. Ich schloss die Augen, ließ mein Gesicht von den Schleiern besprühen und atmete die Tröpfchen ein.

Als Kind hatte ich mich jedesmal auf die bunte Beleuchtung des Hochstrahlbrunnens gefreut, wenn wir abends nach eineinhalbstündiger Fahrt vom Waldviertel mit dem Auto über den Schwarzenbergplatz auf den Brunnen zugefahren waren und an ihm vorbei die Prinz-Eugen-Straße hinauf zur Belvederegasse. Ich hatte den Kopf nach ihm verdreht, um möglichst lange die wechselnden Farben bestaunen zu können.

An der Ampel vis-à-vis der französischen Botschaft mit ihren rot blühenden Rosensträuchern tickte der Apparat für blinde Fußgänger im langsamen Takt. Die Straßenbahnen surrten über die Schienenkreuzungen, das Rauschen der Autokolonnen flutete den Platz. Es machte Klick, und der Apparat an der Ampelsäule begann, schnell zu ticken. Als ich den Fuß über die Bordsteinkante hob, sauste ein Radfahrer auf mich zu. Ich konnte gerade noch zurückspringen. Er zischte an mir vorbei, fluchte und schlug mir die Eistüte aus der Hand: Erdbeere und Vanille klatschten kopfüber auf den Gehsteig. »Fuck!«, schrie ich, musste dann aber lachen und lief beim letzten Blinken des grünen Männchens über den Zebrastreifen.

Den langen Weg am Schwarzenbergplatz entlang versuchte ich mich im Streifenschatten der Häuser zu halten. Endlich am Ring angekommen, spendeten mir die Platanen mit ihren ausladenden Ästen und dichten grünen Kronen Schatten und Kühle. Ihre Blätter wogten, raschelten und rauschten im Wind.

Ich bog zu den Ringstraßengalerien ein und stöckelte weiter in eine ruhige Seitengasse. Auf der Terrasse einer italienischen Caffè-Bar war noch ein Tisch frei. Ich setzte mich, lehnte mich zurück und atmete den Wind ein. Die weißen Schwingen eines Sonnensegels über mir flatterten und blähten sich, als wollten sie davonfliegen. Die Leute auf der Terrasse tranken Kaffee und aßen Kuchen oder Eis, manche saßen bei Wein und Bier und hatten sich Pizza bestellt oder kleine Sandwiches. Eine junge Kellnerin kam zu meinem Tisch, »Was darf es sein?«

»Caffè-Latte und Erdbeertorte, bitte!«

»Kommt sofort.«

Ich schloss die Augen und badete im Summen und Brummen der Stimmen. Gesprächsfetzen flatterten in meine Ohren. Plaudern und Lachen. Gläserklingen. Besteck klapperte auf Tellern und in Tassen. Ein Hund kläffte. Ein Kind lallte laut und giggelte. Der Geruch von Milchkaffee und Pizzakäse kitzelte meine Nasenflügel.

Ein Mann trat mir gegenüber unter das Sonnensegel. Er überschaute die vollbesetzten Tische, sah den Stuhl neben mir leer und lächelte mich an. Ich spürte mein Herz wild klopfen, meine Wangen glühten. Zwei Tischreihen weiter erhob sich ein Paar und verließ das Caffè. Der Mann zwinkerte mir zu und ging zu dem freien Tisch.

»Hier, bitteschön, und guten Appetit!«, die Kellnerin stellte ein Tablett mit Caffè-Latte und Erdbeertorte vor mich hin. Sie erblickte den Mann, der gerade Platz nahm und eine schwarze Ledertasche auf den Stuhl neben sich stellte, und ihr Gesicht hellte sich auf. Sie ging zu ihm hinüber, er stand auf, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie auf den Mund.

Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Mit zittriger Hand ergriff ich die Gabel und stach in die Torte. Die Erdbeercreme schmeckte lasch, die Fruchtstücke waren zäh, der Teig klebte trocken an meinem Gaumen. Ich legte die Gabel zurück auf den Teller.

Der Mann setzte sich und unterhielt sich mit der Kellnerin, dabei huschte sein Blick immer wieder zu mir herüber. Sie lachte und strich sich durch ihr langes Haar.

– Haben die was miteinander? - Dafür wirkt sie zu kokett! –

Sie zückte ihren Block und schrieb seine Bestellung auf. Er sagte noch etwas zu ihr, was sie abermals zum Lachen brachte, und sie ging mit geröteten Wangen ins Lokal. Er sah mich an, schmunzelte und zwinkerte: munter und verschmitzt wie ein Kind, ein frecher Junge! Ich versuchte, woanders hinzuschauen, konnte meinen Blick aber nicht von ihm abwenden. Plötzlich zuckte er zusammen, griff in seine Hosentasche und hielt sich sein Handy ans Ohr. Ich holte auch meines heraus und tat so, als wäre ich beschäftigt. Er hatte sein graues Haar locker nach hinten gestrichen, seine Wangen waren glattrasiert, er trug sein Hemd oben aufgeknöpft. Er legte das Handy auf den Tisch, zog eine Packung Zigaretten aus der Ledertasche, holte ein Buch hervor, klopfte eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, lehnte sich im Stuhl zurück und schlug das Buch auf. Seine Arme ruhten auf den Lehnen, ein Bein war über das andere geschlagen. Er saß aufrecht, aber keineswegs steif, nein, unglaublich locker und kraftvoll zugleich. Er wirkte entspannt, aber bereit, jede Sekunde aufzuspringen und aus voller Brust eine mitreißende Rede zu halten oder einen Tango zu tanzen.

Die Kellnerin brachte ihm einen Cappuccino. Er blickte kurz auf, lächelte und las weiter.

– Die haben nichts miteinander! –

»Felix!«, ein junger Typ ging auf ihn zu. Die beiden begrüßten sich mit einem Kuss auf die Lippen.

– Also, entweder er hat was mit ihm und mit ihr, oder das ist einfach seine Art, lieben Freunden Hallo zu sagen. –

Der Junge setzte sich zu ihm und redete auf ihn ein.

Ich ging ins Lokal auf die Toilette und ließ mir kaltes Wasser über die Handgelenke rinnen. Hinter mir öffnete sich die Tür, und er stand da. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Er trat an mich heran und küsste meinen Nacken, strich über meinen Rücken, meinen Po. Ich drehte mich zu ihm, unsere Lippen berührten einander. Ich schmeckte seinen Speichel, seine Zunge war spitz und glatt. Seine Hand fuhr unter meinen Rock, in mein Höschen, seine Finger glitten in die Feuchte zwischen meinen Schamlippen. Ich zog ihn in eine Kabine und setzte mich auf den heruntergeklappten Klodeckel. Er kniete sich hin, zog mir das Höschen aus, schob meinen Rock hoch und leckte meinen Kitzler, saugte an ihm und stieß mit der Zunge in meine Muschi. Ich beugte mich zu ihm, leckte ihm die Feuchte von den Lippen. Er erhob sich, ich riss ihm die Hose runter und lutschte an seinem Schwanz. Er zog mich hoch, öffnete meine Bluse und meinen BH und knabberte an meinen Nippeln. Ich drängte ihn auf die Toilette, setzte mich auf ihn, sein Schwanz bohrte sich in meine Vagina, unsere Hüften bewegten sich gegeneinander, er knetete meine Pobacken. Wir schwitzten und stöhnten. Ich presste seine Hand auf meinen Mund, um das Schreien zu unterdrücken. Sein Schwanz wurde noch spitzer und steifer, er stieß heftiger und schneller zu, stöhnte, presste meine Hand auf seinen Mund und riss die Augen auf im stummen Schrei. Das kalte Wasser rann über meine Handgelenke. Ich sah mich im Spiegel an und musste schmunzeln. Als ich aus dem Lokal unter die Markise trat, waren er und der junge Typ nicht mehr da.

Der Abend senkte sich über die Stadt. Die untergehende Sonne färbte die zarten Wölkchen am Himmel rosarot und tauchte die Straßen in goldenes Licht. Die Luft roch nach Blüten, nach Getreide und kühlem Wasser. Ich spazierte durch die schmalen Gassen der Altstadt hinunter zum Kai, überquerte eine der Brücken und stieg die Treppe nach unten an den Kanal.

Jogger liefen an mir vorbei, Radfahrer sausten über den Asphalt, am City-Beach waren die meisten Liegestühle schon leer, die verbliebenen Besucher genossen die letzten Sonnenstrahlen.

Ich schlüpfte aus meinen Pumps und setzte mich an den Rand der Kaimauer. Meine Beine baumelten über dem Wasser, eine frische Brise kitzelte meine Zehen. Ich schloss die Augen, drehte das Gesicht zur Sonne und ließ es von ihr wärmen. Ihre Strahlen streichelten meine Wimpern, ich blinzelte und sah auf den leichten Strudeln und den niedrigen Wellenkämmen Lichtpunkte glitzern.

Der rotgoldene Sonnenball verschwand am Horizont hinter den Häusern. Ich stand auf, steckte meine Finger in die Spitzen meiner Pumps, breitete die Arme aus und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf den warmen Asphalt. An der Mauer neben mir zogen bunte Graffiti-Fratzen vorbei. Ich hielt im Gehen die Augen geschlossen, nur ein paar Schritte, ein paar Meter, dann stieg in meine Pumps und lief die nächste Treppe hoch auf die Brücke.

Die Straßenlampen strahlten gegen den tiefblauen Himmel, auf dem erste Sterne funkelten. Ich hörte das Rauschen des abendlichen Verkehrs wie in Watte gepackt. Die Scheinwerfer der Autos waren lange Lichterketten: rot und weiß. Meine Füße schmerzten in den Pumps, aber die Stadt hob mich auf ihre Schultern und trug mich durch den Abend, durch die Nacht.

In den Gassen der Altstadt beleuchteten die Laternen die Hausfassaden mit ihrem dumpfen Orange. Masken lachten mich von Fenstergiebeln an. Zarte Frauenköpfe mit aufwändig gemeißelten Frisuren schauten blicklos in die Nacht. Kleine bärtige Köpfe, deren buschige Brauen unter gehörnten Stahlhelmen hervorsprossen, schienen wutschnaubend gegen ihre Versteinerung aufbegehren zu wollen. Das Licht umspielte die nackten Körper riesiger Statuen, die sich mit grimmigen Mienen unter dem Gewicht von Türstöcken beugten, die sie mit ihren Pranken stemmten. Andere standen aufrecht, in ewiger Jugend erstarrt, als spürten sie die tonnenschweren Steine auf ihren Schultern nicht. Eine Frauengestalt in faltenreichem Kleid schien in einem Anflug von Scham ihren Kopf gesenkt und wie zufällig die Hände gehoben zu haben, auf denen sie den Erker eines vierstöckigen Hauses trug.

Glockenschläge hallten über den verlassenen Stephansplatz und in die Kärntnerstraße. Ich lief der Mitternacht davon in die ersten Sekunden des neuen Tages hinein, der noch gar nichts von sich wusste. Aus den Schaufenstern funkelten mich teure Taschen, Kleider, Uhren und Schmuck an. Ich machte einen Sprung, kam zu stehen, legte den Kopf in den Nacken und drehte mich am Stand im Kreis. Der dunkle Himmel, die bunten Reklameschilder, das Licht aus den Schaufenstern, alles verschmolz zu einem rasenden, schimmernden Farbband. Ich taumelte, hielt an und schloss die Augen, in meinem Kopf drehte es sich weiter.

»Hallo!«

Ich öffnete die Augen: ein kleiner rundlicher Mann erhob sich von einer der Holzbänke, die, geometrisch angeordnet, auf der ganzen Einkaufsstraße verteilt stehen. Er war braungebrannt, hatte schwarzes Haar, trug eine dunkle Hose und ein strahlend weißes Hemd.

»Hallo!«, antwortete ich.

»Wo gehst du hin?«, der Mann sprach mit Akzent.

– Na toll! Der macht mich an, weil ich naiv und wehrlos scheine! – »Nach Hause!«, ich ging los.

»Entschuldige, ich spreche normalerweise keine jungen Frauen auf der Straße an. Aber du bist mir aufgefallen, du hast etwas Besonderes.«

»Jaja!«, ich ging an ihm vorbei.

»Nein, wirklich, ich meine das so!«, er grinste mich auffordernd an.

Ich blieb stehen: »Ich weiß, dass ich besonders bin.«

Er lachte auf. »Entschuldige bitte, ich will nicht aufdringlich sein, aber ich will dich nicht einfach so vorbeigehen lassen.«

»Ich gehe jetzt aber nach Hause«, ich wollte los.

»Hey, nein, komm!«, er grinste, breitete die Arme aus, »Wie heißt du?«

Ich zögerte. »Ich heiße Negomi.«

»Negomi? – Ein außergewöhnlicher Name. Geh‘ mit mir was trinken, Negomi!«

»Nein, heute nicht mehr!«, ich ging weiter.

»Komm! Bitte! Sei nicht so! Nur auf ein Glas. Ich lade dich ein«, er ging neben mir her, »Komm!«

Ich musste lachen. »Nein! Heute nicht mehr. Ich bin wirklich müde.«

»Einmal ist keinmal!«

Ich blieb stehen. »Gut! Wo gehen wir hin?«

Er reichte mir seine Hand, »Ich bin Fatih. – Verrückt! Ich mache das zum ersten Mal!«

Wir gingen nebeneinanderher und grinsten. Fatih gab die Richtung vor. Er bog mit mir in eine Gasse ein, an deren Ende ein Irish Pub noch geöffnet hatte, und trat, ganz Gentleman, vor mir ein.

Das Lokal war leer. Nur hinter der Bar stand ein Kellner und trocknete Gläser ab. Er blickte kurz auf, als wir hereinkamen. Wir setzten uns einander gegenüber an einen Tisch beim Fenster.

»Was darf es sein?«, rief der Kellner uns zu.

Fatih sah mich an.

»Eine Cola, bitte!«

Fatih sah mich immer noch an.

»Fatih?«

»Ja… für mich auch!«, er schlug sein linkes Bein über das rechte, stellte es gleich wieder auf den Boden und schlug das rechte übers linke.

Der Kellner brachte uns die Getränke. Wir stießen an. Fatih nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas ab und trommelte mit den Fingern dagegen, »Ich habe schon geglaubt, ich schaffe es nicht, dich zu überreden«, er lächelte verlegen.

»Aber jetzt sind wir hier.«

»Ja!«, er seufzte: »Du machst mich nervös!«

»Das merke ich.«

Wir lachten.

Fatih lehnte sich zurück, »Was machst du beruflich?«

»Ich fange im Herbst mein Schauspielstudium an.«

»Schauspielen?!«

»Ja!«

»Ich hätte dich ganz anders eingeschätzt.«

»Achso? Wie denn?«

»Ich weiß nicht. Aber Schauspielerin, das ist doch ein harter Beruf.«

»Das stimmt und das gefällt mir. Was machst du beruflich?«

Ein Zucken huschte über sein Gesicht, er zögerte, dann sagte er schnell: »Ich bin geschäftlich in der Stadt«, er senkte den Blick und trommelte wieder gegen das Cola Glas.

»Fatih?«

Er hob den Kopf und sah mich ganz verändert an: verschlossen und geheimnisvoll, aber doch so, als wollte er mir unbedingt etwas sagen. Er öffnete den Mund, heraus kam aber nur ein stoßhafter Seufzer.

»Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht kannst«, ich legte meine Hand auf seine.

Er zuckte zusammen, »Doch ich will es dir sagen. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich darüber sprechen will.«

Ich zog meine Hand zurück, »Worüber denn? – Fatih, was ich los mit dir?«

Er wand sich auf seinem Stuhl: »Ich bin hier, weil ich vor Gericht aussagen soll, in einem Wirtschaftsprozess«, er beugte sich zu mir herüber und sprach in gedämpftem Ton weiter, »Ich arbeite für ein internationales Finanzinstitut, die meiste Zeit bin ich in London tätig. Hier in der Stadt habe ich vor Jahren angefangen, in einer Zweigstelle«, er hielt inne und sah mich prüfend an, »Ich habe einen Steuerskandal aufgedeckt. Du wirst in ein paar Wochen in allen Zeitungen davon lesen. Ich bin der Hauptbelastungszeuge in dem Prozess. Ich werde gegen meine ehemaligen Chefs aussagen. Die wissen noch nichts davon«, er lehnte sich zurück, »Du glaubst mir nicht, oder?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Du kannst das Stichwort ‚General Funding London‘ im Internet eingeben, da findest du einige Artikel, die in englischen Zeitungen erschienen sind«, sagte er erregt.

Ich nickte und lächelte. »Sind die Leute, die wegen dir angeklagt werden, nicht hinter dir her?«

»Sie wissen nicht, dass ich der Informant bin.«

»Aber sie werden doch sicher alles daransetzen, herauszufinden, wer der war, der sie verraten hat.«

»Ich stehe deswegen ab Prozessbeginn unter Polizeischutz. Ich weiß, das hört sich an wie aus einem 0-8-15-Thriller.«

»Ja, das stimmt.«

Wir lachten.

»Warum findet der Prozess hier statt?«

»In Wien ist die Tochterfirma, auf deren Konten sie die Gelder verstecken-«, er unterbrach sich selbst, «Es ist kompliziert, das zu erklären.«

»Und was machst du bis zum Prozessbeginn?«

»Ich kann mich frei bewegen, also spreche ich zu später Stunde junge Frauen auf der Straße an.«

Ich lachte.

Er lachte.

»Du bist ein toller Typ, Negomi!«

»Danke!«

»Nein, ich meine das ernst! Du bist offen und verständnisvoll, so jemand ist mir selten begegnet, besonders in letzter Zeit. Ich kann mich dir anvertrauen, obwohl ich dich gerade erst kennengelernt habe. Ansonsten bin ich fremden Menschen gegenüber vorsichtig.«

»Wir schließen in ein paar Minuten!«, rief er Kellner uns von der Bar aus zu.

»Gehen wir noch woanders hin?«, fragte Fatih.

»Ich glaube, die meisten Lokale haben schon geschlossen.«

Fatih zahlte, wie versprochen. Als wir aus dem Lokal auf die Straße traten, donnerte es direkt über uns ohrenbetäubend laut. Blitze zuckten am nachtschwarzen Himmel. Dicke Tropfen prasselten auf die Straße, prallten vom Boden ab, spritzten nach oben und machten meine Beine nass. Wir drückten uns an die Hauswand neben der Eingangstür. Ich lachte in das laute Rauschen des Regens hinein.

»Wo wohnst du?«, rief Fatih mir zu.

Ich spürte einen Stich im Magen, »Ein paar Straßen weiter!«

»Mein Auto steht hier! Ich fahre dich nach Hause!«, er deutete auf einen großen, schwarzen, geländegängigen BMW am Straßenrand.

Mein Herz hämmerte. – Warum steht sein Wagen genau vor diesem Lokal?! Er will mich entführen, er will mich vergewaltigen! –

Orange Lichter blinkten. Fatih ging auf den Wagen zu.

»Ich gehe zu Fuß!«, rief ich ihm hinterher.

Er drehte sich um, »Du wirst ja ganz nass! Steig bitte ein. Ich fahre dich nach Hause!«

»Der Regen macht mir nichts!«

»Ich verspreche dir, ich fahre dich sicher nach Hause, kein Abstecher, nichts! Bitte komm! Ich bestehe darauf! Vertrau mir!«

»Na gut!«, ich lief durch den Regen aufs Auto zu, riss die Tür auf und sprang hinein. Ich spürte weiches Leder unter mir, mich fröstelte.

»Alles in Ordnung?«, Fatih schwang sich auf den Fahrersitz und legte die Hände aufs Lenkrad.

Ich nickte nur.

Er stellte den Motor an.

»Über die Schienen nach oben Richtung Prinz-Eugen-Straße.«

Ich kam mir lächerlich vor mit meiner Angst, er könne mir etwas antun wollen, aber ich sagte kein Wort und schaute geradeaus.

Die Autoreifen spritzten Fontänen in die Höhe. Der Regen trommelte auf die Scheibe, im Licht der Scheinwerfer strahlten mich die fallenden Tropfen grell an: Tausende Striche, eine gleißende Wand, undurchdringlich! Ich schaute zu Fatih, der die Scheibenwischer schneller schaltete und mit geweiteten Augen das Auto in der Spur hielt. Hinter ihm verschwamm das Farbenspiel des Hochstrahlbrunnens im Tropfenmeer an der Fensterscheibe.

Ich versuchte mich an den mir bekannten Straßenecken zu orientieren, um Fatih rechtzeitig zum Halten auffordern zu können.

»Da vorne, da ist meine Straße, da kannst du mich rauslassen!«

Fatih parkte das Auto und stellte den Motor ab. Mein Herz schlug so heftig, dass es fast meine Rippen sprengte. Ich wollte mich schnell verabschieden und nichts wie raus. Ich legte meine Hand an die Türklinke. Unsere Blicke trafen sich.

»Ich kann dich so nicht gehen lassen!«, er beugte sich über mich und drückte mich nieder. Ich wollte schreien, aber es kam kein Ton heraus. Er langte ins Handschuhfach und fingerte darin herum.

– Jetzt ist alles aus! –

»Ich finde keinen Zettel!«

»Was?!«, schrie ich ihm ins Ohr.

Er fuhr zurück. »Ich finde keinen Zettel, um dir meine Handynummer aufzuschreiben.«

»Achso!«, ich zog mein Handy aus der Rocktasche, »Sag sie mir an!«, mit zitternden Fingern tippte ich die Ziffern und seinen Namen ein.

»Ich hoffe, du rufst mich an. Ich würde mich freuen, dich wiederzusehen.«

»Ja, bis dann!«, ich öffnete die Tür, sprang auf den nassen Asphalt und lief durch den Regen die Straße entlang zu den steinernen Löwen – in Sicherheit!

In der Wohnung zog ich mir schnell trockene Sachen an. Ich war hellwach vor Aufregung. Es kam mir vor, als hätte ich das alles nur geträumt. – Ich bin zu einem fremden Mann ins Auto gestiegen! Er hat mir nichts getan, trotzdem: das mache ich nie wieder! Er will, dass ich ihn anrufe. Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann. – Ich schnappte mir mein Handy.

»Anja? Habe ich dich aufgeweckt?«

»Nein, geht schon«, murmelte sie.

»Ich muss dir was erzählen!«, die Worte drängten und stolperten aus meinem Mund, meine Stimme überschlug sich immer wieder, »Was soll ich jetzt tun?«, ich riss an den Fransen des weißen Teppichs, der den kalten Fliesenboden des Badezimmers bedeckte.

»Interessiert er dich?«, fragte Anja.

»Er ist nett, aber irgendwie auch komisch.«

»Das Ganze hört sich seltsam an. So wie er dich angesprochen hat, und dann seine Geschichte. Aber du kannst wahrscheinlich nichts falsch machen.«

»Meinst du?«

»Lass uns morgen weiter darüber sprechen«, Anja stöhnte.

»Du hast Recht! Schlaf gut! Bis morgen!«

Ich ging im Badezimmer auf und ab. – Soll ich ihn anrufen? Ich finde ihn doch gar nicht attraktiv! Und was soll dabei herauskommen? Er lebt in einer völlig anderen Welt als ich. Er ist verstrickt in Probleme, aus denen ich ihm nicht raushelfen kann. Was soll ich für ihn sein? Eine hübsche Ablenkung? Und er für mich? Ein Mann, der sich bedroht fühlt von Menschen, die sehr wütend auf ihn sind? Außerdem hat er auf mich auch keinen besonders seriösen Eindruck gemacht – als hätte er etwas zu verbergen. Vielleicht sollte ich es bei dieser einen zufälligen Begegnung belassen. Jetzt lege ich mich erst einmal schlafen. Ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen. Morgen sehe ich weiter. –

Sein Gesicht verfolgte mich in den Schlaf, ich hörte ihn sprechen: »General Funding, General Funding London!« Ich setzte mich im Bett auf: Natürlich! Die Zeitungsartikel! In der Dunkelheit des Zimmers tastete ich mich zum Schreibtisch und klappte den Laptop auf. Das Bildschirmlicht brannte in meinen Augen, ich kniff die Lider zusammen und tippte »General Funding London« ins Suchfenster des Browsers. Ich klickte den ersten Link an und suchte den Text nach Schlagwörtern ab. Er war im Wirtschaftsjargon verfasst, von einem Steuerskandal keine Rede. Ich ging zurück zu den Vorschlägen und wählte einen Link nach dem anderen aus, doch keiner passte zu Fatihs Geschichte. – Vielleicht haben nur die Londoner Printmedien von der Affäre berichtet. - Unwahrscheinlich! Fatih hat gesagt, dass das eine große Sache ist. – Ich öffnete noch ein paar Links: kein Hinweis, kein Skandal, keine großen Schlagzeilen! ‚Die Spur führt ins Leere‘ könnte der Titel dieses Krimis lauten: dann eben nicht! – Ich klappte den Laptop zu und starrte ins Dunkel. – Es lässt mir keine Ruhe! – Ich ging hinüber zum Bett, tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch und wählte Fatihs Nummer: Tut… Tut…

»Hallo?«

Ich lauschte.

»Hallo?«

Ich saß kerzengerade und schwieg.

»Wer ist da?«

Ich hielt den Atem an.

»Negomi, bist du das?«

Ich legte auf und ließ meine Hand sinken. Das Licht am Display ging aus. Ich schaute ins Dunkel. Plötzlich blinkte das Licht in schnellem Takt: Fatih. Ich schaute eine Weile auf seinen Namen, dann drückte ich lange auf den roten Knopf. Das Handy verschwand in der Schwärze des Zimmers. Ich ließ mich aufs Bett zurückfallen. Ich war mir jetzt sicher: ich würde ihn nicht wiedersehen.

Negomi

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