Читать книгу Das Geheimnis von Sunderley - Isa Piccola - Страница 4
Sommer 2011
ОглавлениеEs war das erste Mal in meinem Leben, daß ich an einer Auktion teilnehmen würde.
Damals ahnte ich noch nicht, daß diese spontane Entscheidung mein Leben dermaßen auf den Kopf stellen sollte. Eigentlich wollte ich in meinem Urlaub in England auf den Spuren meiner Eltern wandeln. Ich wollte die Orte besuchen, die sie vor über dreißig Jahren gesehen hatten.
An diesem Dienstag im Juni hatte ich einen Ausflug von Rochester nach Sunderley unternommen. Mit dem Bus war ich nach Langton Green, einem kleinen Dorf in der Nähe von Sunderley, gefahren. Von dort war ich zu Fuß weitergegangen. Doch als ich zum Tor dieses alten Anwesens kam, entdeckte ich einen Anschlag mit der Ankündigung, daß gerade heute diese Auktion stattfinden sollte. Eine Nachlaßauktion. Also waren wohl die Besitzer von Sunderley verstorben und die Nachkommen wollten alles verkaufen. Wie traurig… Aber vielleicht gab es auch gar keine Nachkommen? Das würde ich vielleicht noch erfahren.
Eine Weile stand ich zögernd vor dem Blatt Papier mit der Bekanntmachung. Ich wußte gar nicht, wie man sich bei so einer Veranstaltung verhielt, ob man sich vorher anmelden mußte… und genug Geld hatte ich bestimmt auch nicht. Schließlich war Sunderley dem Aussehen nach ein uralter Familienstammsitz, auf dem es sicher nur teure Sachen zu erstehen gab.
Aber gleichzeitig wußte ich auch, daß dies wahrscheinlich meine einzige Chance wäre, das Anwesen einmal von innen zu sehen. Wenn es erst einmal verkauft wäre… die neuen Besitzer würden es mit Sicherheit nicht zu einem Museum umfunktionieren! Doch seit ich im Vorfeld meines Urlaubs das alte Fotoalbum meiner Eltern studiert hatte, wollte ich genau dieses Haus unbedingt sehen. Es war zwar nur im Hintergrund eines einzigen Fotos zu sehen gewesen, doch der Name, der darunter stand, hatte mich irgendwie seltsam berührt. Sunderley… das erinnerte mich an Rebeccas Manderley… Vielleicht war Daphne du Maurier auch einmal hier gewesen und von dem Haus inspiriert worden?
Das könnte man herausfinden. Aber erst später! Also los! Hinein!
Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat durch das weit geöffnete Eingangstor und lief den langen Kiesweg in Richtung des altehrwürdigen Gebäudes entlang. Es sah etwas verfallen aus, der Putz bröckelte schon an einigen Stellen von den Wänden und auch die parkartige Umgebung schien seit langer Zeit nicht mehr gepflegt worden zu sein. Das Gras wuchs kniehoch – undenkbar für jeden Engländer! -, die Beete, die einst den Hauptweg gesäumt haben mußten, waren kaum noch zu erkennen. Mich überkam ein Gefühl der Traurigkeit. Wer weiß, wie lange die alten Leutchen, denen das Anwesen gehört hatte, hier gelebt hatten, ohne daß jemand sich um sie kümmerte… die Kinder waren sicher weit weg und kamen nun lediglich zurück, um alles zu verscherbeln…
Ich zwang mich, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen und beeilte mich, in das Haus zu gelangen. Die Tür war geschlossen. Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, drückte ich die Klinke hinunter und hörte, daß die Auktion schon begonnen hatte. Natürlich! Wieder einmal kam ich zu spät.
Ich trat dennoch möglichst leise ein. Nach ein paar Schritten kam ich in einen großen Raum, in dem viele Reihen mit modernen Stühlen aufgestellt waren. Mir gegenüber, am anderen Ende des ansonsten klassisch ausgestatteten Raumes, befand sich das Pult des Auktionators mit einem dunkel gekleideten Herrn dahinter.
Ich sah mich flüchtig um. Offensichtlich hatte der Veranstalter mit zahlreichen Interessenten gerechnet. Doch von den Stühlen waren nur wenige besetzt. Vielleicht ein halbes Dutzend Leute saß dort. Ich wollte mich unauffällig in die letzte Reihe setzen, um die Auktion nicht zu stören. Doch die Stühle waren so eng gestellt, daß ich mit einem Fuß an einem Stuhlbein hängenblieb und dadurch ein schabendes Geräusch erzeugte. Typisch! Alle Köpfe flogen herum und sahen mich mißbilligend an. Ich spürte, wie ich rot anlief und es mir nur mit Mühe gelang, mich endlich auf diesen Stuhl zu setzen. Der Auktionator sah am längsten zu mir herüber. Doch seltsamerweise schien er nicht wirklich wütend, sondern eher verwirrt zu sein – wahrscheinlich, weil ich ihn unterbrochen und er dadurch den Faden verloren hatte. Ich senkte den Blick und hoffte, daß er dies als Entschuldigung akzeptieren und fortfahren würde.
So war es auch. Man war gerade beim Geschirr. Nach kurzer Überlegung stand fest, daß ich hier bestimmt nicht mitbieten würde – viel zu kompliziert, um es nach Hause zu befördern, wahrscheinlich würde es nur in winzigen Einzelteilen ankommen. So hatte ich Zeit, mich ein wenig genauer umzusehen.
Der Raum, in dem wir saßen, hätte rein von der Lage her eine Eingangshalle sein können. Doch die Ausstattung deutete eher auf einen Salon hin. Die hellblau gemusterte Wandbespannung, die Möbel, die an den Wänden standen und deren verschnörkelte Formen unter ihren Abdeckungen zu erahnen waren… Ungewöhnlich für ein Haus dieser Größenordnung, daß es keine Eingangshalle gab, sondern man quasi gleich von der Tür ins Wohnzimmer stolperte. Der Auktionator stand vor einer Glastür, die wahrscheinlich in den Garten führte. Das Wort „Durchgangszimmer“ erhielt hier einen ganz neuen Sinn. Es mußte schwer sein, den Raum im Winter zu beheizen – ich sah nur einen einzigen alten Kachelofen. Wer hatte nur so ein Haus konstruiert? Es fing an, mich ungemein zu interessieren.
Meine Betrachtungen wurden unterbrochen, denn die Versteigerung des Geschirrs war zu Ende. Nun kündigte der Auktionator an, daß es mit den Gemälden weitergehen sollte. Schade… auch diese wären zu groß zum Transport. Es sei denn, es fände sich eines von der Größe meines Koffers.
Man beginne, so sagte der Auktionator gerade, mit einem Jugendporträt der verstorbenen Besitzerin, einer Mrs Devane. Und da wurde es auch schon hereingetragen. Es zeigte eine Dame, vielleicht um die dreißig, in ein elegantes graublaues Kleid gehüllt. Bei der Betrachtung ihrer Gesichtszüge kam mir ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, obwohl ich sie doch nie im Leben gesehen haben konnte. Plötzlich merkte ich, wie absolute Stille im Raum herrschte. Der Auktionator starrte mich mit offenem Mund an, sah zum Bild, dann wieder zu mir. Auch alle anderen Anwesenden hatten sich zu mir umgedreht und sahen mich mit einem gewissen Entsetzen an. Was war nur los? Mir lief es kalt den Rücken herunter und dann spürte ich, wie mir erneut die Röte ins Gesicht schoß. Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Beschämt sah ich auf meine Fingernägel und überlegte, ob es eine gute Idee wäre, jetzt den Saal zu verlassen. Aber da hörte ich den Auktionator sagen:
„Aufgrund unvorhergesehener Umstände… äh, Sie verstehen… wird die Auktion hiermit bis… bis auf weiteres vertagt.“
Allgemeines Murmeln, doch es klang nicht wütend, sondern eher verständnisvoll. Nacheinander standen die Anwesenden auf und verließen den Saal. Ich traute mich nicht, sie anzusehen und tat so, als ob ich in meinem Rucksack etwas suchte. Als die Tür ein letztes Mal klappte, wagte ich, wieder aufzusehen. Ich war allein mit dem Auktionator und einem anderen Herrn zurückgeblieben. Die beiden stritten heftig miteinander und sahen dabei immer wieder zu mir herüber. Schließlich warf mir der andere noch einen, wie mir schien, haßerfüllten Blick zu, drohte dem Auktionator mit der blanken Faust und stürmte durch die Glastür hinaus.
Doch ich selber schaffte es immer noch nicht, aufzustehen und zu gehen. Ich starrte auf das Bild dieser Mrs Devane und begriff allmählich, was geschehen war. Die Leute hatten wahrscheinlich eine nicht zu leugnende, aber meiner Meinung nach sehr geringe Ähnlichkeit zwischen der Dame auf dem Bild und mir festgestellt. Ein Zufall, mehr nicht. Die Dame auf dem Bild war sehr schön, zwar ein wenig füllig, aber gerade so, daß es noch akzeptiert würde. Ich hingegen konnte im Leben nicht mit einer solchen Schönheit verglichen werden.
Der Auktionator mußte meine Hilflosigkeit erkennen, denn er legte seinen Hammer aus der Hand und kam mit einem freundlichen Lächeln auf mich zu. Er mochte etwa Mitte vierzig sein, war sehr schlank und groß und hatte dunkelbraune, leicht wellige Haare und Augen von der Farbe sehr dunklen Bernsteins. Er schüttelte mir die Hand und sagte dabei:
„Beavens, George Beavens ist mein Name. Und Sie sind Miss…?“
Ich stand endlich auf und erwiderte seinen Händedruck.
„Stein. Elisa Stein.“
Er wirkte etwas enttäuscht.
„Sch-tein? Sie sind… nicht aus der Gegend?“
„Nein, ich bin aus Deutschland. Ich bin hier nur im Urlaub und zufällig auf diese Auktion geraten…“
Er sah mich forschend an, blickte dann erneut auf das Bild und wieder auf mich. Dann murmelte er:
„Aber solch einen großen Zufall kann es doch nicht geben…. Verzeihen Sie, wenn ich so direkt frage, aber… sind Sie vielleicht von Ihren Eltern adoptiert worden?“
Ich schüttelte den Kopf und hielt mit Mühe die aufsteigenden Tränen zurück. Die Erinnerung schmerzte immer noch. Schließlich antwortete ich:
„Nein.“
„Sind Sie ganz sicher? Haben Sie Ihre Eltern je gefragt, ob…“ Er brach ab, denn er sah, daß ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und reichte mir ein Taschentuch. Ich machte ausgiebigen Gebrauch davon und ließ ein erneutes „Nein“ verlauten. Er gab noch immer nicht auf:
„Könnten… könnten Sie nicht Ihre Eltern anrufen und fragen, ob…“ Wieder brach er ab, denn wieder kamen mir die Tränen. Endlich brachte ich schniefend hervor:
„Ich kann sie nicht mehr fragen, denn sie sind vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
Mr Beavens drückte seine Anteilnahme aus und schwieg dann betreten. Ich ahnte, daß ihm die gleichen Gedanken wie mir durch den Kopf gehen mußten. Wie kam es zu dieser Ähnlichkeit? Es konnte wirklich nicht mehr als Zufall sein, denn ich hatte nie Zweifel gehabt, das Kind meiner Eltern zu sein. Schließlich schien er sich verpflichtet zu fühlen, mir einiges zu erklären:
„Miss… Stein, Sie müssen wissen, ich bin mit den Nachlaßangelegenheiten von Sunderley betraut. Ich würde mich gern in Ruhe mit Ihnen über einige Dinge unterhalten. Wäre es Ihnen möglich, mich morgen vormittag in meinem Büro in Langton Green aufzusuchen? Bis dahin habe ich die nötigen Unterlagen beisammen.“
Natürlich wäre es mir möglich. Wir verabredeten uns zu zehn Uhr, doch mir fiel noch rechtzeitig ein, daß ich gar nicht wußte, ob um diese Uhrzeit schon ein Bus aus Rochester fuhr? Mr Beavens nickte:
„Der Bus hält genau um zehn Uhr vor meinem Büro.“
Er verabschiedete sich von mir, und wir gingen gemeinsam zum Ausgang, als mir bei einem Blick auf meine Armbanduhr siedend heiß etwas auffiel: der letzte Bus zurück nach Rochester fuhr um 17 Uhr ab Langton Green. Und es war bereits 17.15 Uhr! Wie sollte ich nun zu meiner Pension kommen?
Mr Beavens sah mich lange forschend an und sagte schließlich:
„Sunderley ist nur einen kurzen Spaziergang von Langton Green entfernt. Könnten Sie sich vorstellen, die Nacht heute hier zu verbringen? Ich würde Ihnen den Schlüssel überlassen und Ihnen später noch ein paar Lebensmittel vorbeibringen, wenn Sie möchten… Natürlich, wenn es Ihnen zu gruselig ist, allein in diesem fremden Haus… “ Ich war vollkommen verblüfft über dieses großzügige Angebot. Er kannte mich überhaupt nicht, und nun wollte er mir für eine Nacht dieses großartige Anwesen zur Verfügung stellen? A dream come true, wie die Engländer sagen! Offenbar deutete er mein überraschtes Schweigen falsch, denn er fügte hastig hinzu:
„Keine Sorge, es gibt Elektrizität und fließendes Wasser, und ich verlange auch keinerlei Gegenleistung dafür. Es ist nur… einfacher so, dachte ich. Sie dürfen sich hier frei bewegen und umschauen, wenn Sie möchten. Im ersten Stockwerk befinden sich die Schlafzimmer, Sie werden bestimmt eines mit einem frisch bezogenen Bett finden. Ich würde Ihnen das Turmzimmer empfehlen. Wenn Sie natürlich lieber nach Rochester zurück möchten, rufe ich Ihnen ein Taxi…“
Ich schüttelte erschrocken den Kopf. Nein, diese einmalige Chance würde ich mir sicher nicht entgehen lassen! Ich bedankte mich herzlich und versicherte ihm, daß ich in meinem Rucksack noch genügend Vorräte hätte, um die Nacht zu überstehen. Ich hatte sogar meine Zahnbürste dabei – eine alte Marotte, die mir jetzt zupaß kam. Ich reiste nie ohne meine Zahnbürste – man konnte ja nie wissen!
Mr Beavens händigte mir einen Schlüssel aus und beschrieb mir noch den Weg zu seinem Büro in Langton Green. Dann verabschiedete er sich endgültig mit einem zufriedenen Lächeln. Doch bevor er die Tür hinter sich schloß, mußte ich ihm noch eine Frage stellen:
„Wieso haben Sie ein derart großes Vertrauen zu mir, Mr Beavens? Obwohl Sie mich überhaupt nicht kennen?“
Er sah mich lange an, bevor er erwiderte:
„Das, Miss Stein, erfahren Sie morgen um zehn Uhr.“
Nachdem Mr Beavens die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand ich mindestens zehn Minuten unbeweglich da und starrte auf die Tür. Die Situation war einfach grotesk und vollkommen unwirklich. Ich spürte das sich erwärmende Metall des Schlüssels in meiner rechten Hand, und endlich konnte ich mich dazu durchringen, die Tür von innen zu verschließen. Man konnte schließlich nie wissen… Dann atmete ich einmal tief durch und wandte mich zurück zum Salon. In mir machte sich Müdigkeit breit. Es war ein aufregender und anstrengender Tag gewesen. Was sollte ich als erstes tun? Das Haus erkunden? Eine Schlafmöglichkeit finden? Als ich an letzteres dachte, stand die Entscheidung sofort fest: es wäre besser, jetzt ins Bett zu gehen und am nächsten Morgen zeitig aufzustehen, um das Haus ausgeruht kennenzulernen. So würde ich viel mehr aufnehmen von all dem, was ich zu sehen bekäme.
Mr Beavens hatte gesagt, daß sich die Schlafzimmer im ersten Stock befänden. Von der Mitte des Salons aus sah man die Treppe, die wohl dort hinführte. So stieg ich diese also hinauf, nachdem ich nach kurzer Suche nach einem Schalter das Licht im Salon ausgemacht hatte. Die Schalter wirkten ein wenig altmodisch, aber immerhin gab es überhaupt Strom. Im übrigen war es jetzt im Sommer noch hell genug, um auch ohne Licht gut zu sehen.
Am Ende der Treppe kam ich in einen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Ich versuchte mich zu orientieren, wo das von Mr Beavens empfohlene Turmzimmer liegen mochte, und ging einmal durch den Flur. Die Tür an dessen Ende war verschlossen – wie alle anderen Türen auch, wie ich noch feststellen würde - , doch mein Generalschlüssel öffnete sie mir. Ein Blick hinein zeigt mir, daß dies das gesuchte Zimmer war.
Die Wände waren zu drei Seiten rund – das sah ganz so aus wie ein Turmzimmer. In der Mitte befand sich ein riesiges Himmelbett, das aus der Bauzeit des Hauses stammen mußte. Ich schätzte es mit meinem Halbwissen auf die späte Tudorepoche. Der Betthimmel ruhte auf kunstvoll gedrechselten Säulen; schwere dunkelblaue Samtvorhänge verwehrten den Blick in das Innere. Ich trat, plötzlich aus unerklärlichen Gründen befangen, vorsichtig näher und warf einen Blick hinter die Vorhänge – das Bett war gemacht und bezogen. Es roch zwar ein wenig muffig, aber auf eine Art, die ich liebte. Als ob ich erwartet worden wäre… Unsinn! Sicher war dies zu Lebzeiten der früheren Besitzer ein Gästezimmer gewesen, das immer in Bereitschaft gehalten worden war.
Ich stellte meinen Rucksack ab und legte mich vorsichtig auf das Bett, um zu sehen, ob es nicht knarrte oder gar Schlimmeres passieren würde. Zum Glück war das nicht der Fall, denn das war eines der Dinge, die ich überhaupt nicht ausstehen konnte – knarrende Betten. Ich beschloß sofort, auf keinen Fall bei geschlossenen Vorhängen zu schlafen - ich würde mir die ganze Nacht über wie in einem Gefängnis vorkommen. Also begann ich, die Behänge an allen Seiten mit den dafür vorgesehenen Samtkordeln zurückzubinden. Schon besser.
Dann sah ich mich weiter im Zimmer um. Es war mit einer dezent roséfarbenen Seidentapete bespannt. Passend dazu waren die Stoffe der Möbel gehalten. Wenn mich mein Halbwissen nicht täuschte, waren es typisch viktorianische Möbel aus dem 19. Jahrhundert. Nur das Bett wirkte, als ob es irgendwie nicht dazugehörte – vielleicht hatte es ursprünglich in einem anderen Zimmer gestanden und war dann hierher gebracht worden. Es standen außerdem noch ein kleiner Tisch und drei sesselartige Stühle im Raum sowie ein Schreibtisch und ein großer Schrank. Neugierig ging ich zu diesem hin, um einen Blick hinein zu werfen – und schlug die Tür erschrocken wieder zu! Hatte ich richtig gesehen? Konnte das sein?
Ich öffnete die Tür wieder, ganz langsam, denn dem Schrank war zudem ein entsetzlicher Gestank entströmt (nach Mottenkugeln? Etwas anderes konnte es beinahe nicht sein…) und sah erneut hinein. Es war wirklich wahr: der ganze Schrank hing voller Kleider – doch handelte es sich nicht um moderne Kleider.
Behutsam tastete ich über die Stoffe, immer in der Furcht, alles könnte unter meinen Fingern zu Staub zerfallen. Doch nichts passierte, es entstanden auch keine Risse oder Löcher, als ich vorsichtig zugriff. So wurde ich mutiger und nahm eines der Kleider erst ein Stück, dann gänzlich aus dem Schrank heraus. Es war ein einfaches Kleid aus grauem, aber feinem Wollstoff. Nicht besonders modisch, einfach geschnitten. Ich schätzte es auf Mitte des 19. Jahrhunderts. Was mich jedoch überraschte, war die Größe des Kleides. Es schien… ja, es schien sogar mir passen zu können! Und das, wo doch die Damen damals erstens sehr klein und zweitens ungemein schlank waren!
Ich entschied nicht ohne Herzklopfen, es auszuprobieren. Dazu verschloß ich die Zimmertür von innen mit meinem Generalschlüssel (wie albern, ja….) und schlüpfte ohne große Mühe in das Kleid. Es paßte wie angegossen! Also hatte es auch damals fülligere Frauen meiner Statur und Größe gegeben… irgendwie beruhigte mich das, warum auch immer.
Ich zog das Kleid mit größter Sorgfalt wieder aus und hängte es möglichst ordentlich in den Schrank zurück. Nicht einfach, so voll wie der Schrank war. Ich hatte große Lust, auch die anderen anzuprobieren, doch schreckte mich dieser unmögliche Geruch ab. Der Geruch… ich mußte mich schleunigst davon befreien, sonst würde ich in der Nacht kein Auge zutun!
Also verließ ich mein Turmzimmer und machte mich auf die Suche nach einer Dusche. Während ich alle Türen im oberen Stockwerk aufschloß, kam mir in den Sinn, daß eine solche moderne Einrichtung bei einem so alten Anwesen vielleicht oder sogar sehr wahrscheinlich gar nicht existieren würde…. Doch ich gab nicht auf, und bei der vorletzten Tür, genau neben der Treppe (ich hatte die Suche natürlich auf der anderen Seite begonnen), wurde ich fündig – eine Mini-Dusche mit Toilette und Waschbecken. Der Raum war winzig, bestimmt war er früher eine Besenkammer oder ein Abstellraum gewesen. Doch das war mir egal. Ich fand saubere Handtücher, sogar ungebrauchte Hygieneartikel – wie in einem Luxushotel! – und säuberte mich von den Abenteuern des Tages. Da mein Zimmer durch die Sonne aufgeheizt war, entschied ich, in Unterwäsche zu schlafen, und eilte beschwingt zurück in „mein“ Zimmer und „mein“ Bett.
Doch als ich dort lag und es mir gerade so richtig bequem machen wollte, knirschte es plötzlich ganz gehörig – erschrocken sprang ich wieder heraus, weil ich fürchtete, das gute alte Stück hielte doch mein Gewicht nicht aus. Doch es fiel nicht in sich zusammen, sondern blieb friedlich stehen. Ich ging einmal um das Bett herum, und da sah ich die Bescherung: unter der Stoffbespannung am Fußende mußte sich ein Brett gelöst haben. Mit zittrigen Fingern versuchte ich, es wieder hineinzudrücken – ich wollte ja nichts kaputt hinterlassen, das fehlte noch! Doch es gelang nicht, da war irgendein Widerstand. Schließlich kam ich auf die geniale Idee, einfach den Stoff hochzuheben und nachzusehen – und erkannte, daß es kein gelöstes Brett war, sondern eine Schublade.
Ein Geheimfach! Oder? Vorsichtig zog ich die Lade weiter heraus und sah hinein. Ein Stapel Dokumente lag dort – offensichtlich Briefe, kleine Bücher, die wie Tagebücher aussahen. Zuoberst lag ein Umschlag mit den Worten: „Bitte zuerst lesen!“ Anscheinend hatte jemand damit gerechnet, daß dieses Geheimfach eines Tages gefunden würde. Ich nahm alles vorsichtig heraus.
Dann setzte ich mich wieder auf das Bett, denn jetzt kannte ich ja die Ursache für das seltsame Geräusch von vorhin. Den Stapel mit den Dokumenten legte ich neben mich und öffnete den Umschlag. Darin fand ich folgenden undatierten Brief:
„Liebe unbekannte Leserin,
es ist Dir also gelungen, das zu erreichen, was ich mir erhofft hatte. Du hast das Geheimfach als erste wieder geöffnet. Nach wie vielen Jahren? Vielleicht fünfzig, oder gar hundert? Ich werde es nicht erfahren, aber ich werde Dir verraten, wie Du es geschafft hast.
Ich habe in dieses Bett einen Mechanismus einbauen lassen, durch den allein das Fach geöffnet werden kann. Dazu bedarf es allerdings eines ganz spezifischen Gewichts. Ich werde die Zahl hier nicht nennen, Du kennst sie selbst am besten. Schäme Dich nicht dafür, denn es ist die Zahl, die auch für mich jahrelang galt. Ich wollte, daß eine wie ich das Geheimnis lüften kann.
Aber sei gewarnt, liebe unbekannte Freundin. Das Geheimnis, das seit Jahrhunderten über unserer Familie liegt – mein Geliebter und ich, wir haben es als erste gelöst. Doch es hat Unglück über uns gebracht. Für uns wurde es ein tödliches Geheimnis. Deswegen habe ich es wieder vor den Augen der Welt verborgen. Ich habe es nicht vernichtet, weil ich die Hoffnung in mir trage, daß sich die Zeiten ändern werden. Die Anzeichen dafür sind da. Vielleicht ist unser Wissen in der Zeit, in der Du lebst, nicht mehr tödlich.
Ich habe hier alle Dokumente versammelt, die ich über die Jahre zusammentragen konnte. Mein Tagebuch ist dabei, und auch das meiner so jung verstorbenen Schwester. Briefe von vielen der Beteiligten. Lies alles, und Du wirst in meine Welt eintauchen. Und entscheide jederzeit selbst, ob es gut ist für Dich, noch weiter zu lesen, oder ob Du alles wieder dahin legst, wo Du es gefunden hast.
Sei auf der Hut: Wissen ist Macht, und es kann töten. Immer dann, wenn Menschen nach Macht gieren.
Elizabeth Devane“
Wer war Elizabeth Devane? Ich kramte einen Moment in meinem Kopf… hieß nicht die verstorbene Besitzerin von Sunderley so? Auf alle Fälle hatte sie es geschafft, all meine Müdigkeit zu vertreiben. So folgte ich ihrer Aufforderung und begann zu lesen – und tauchte ein in diese längst vergangenen Zeiten.
Und es ist nur recht und billig, daß diese Menschen ihre Geschichte selbst erzählen:
Dramatis Personae:
William Devane, Besitzer von Sunderley
Catherine Devane, seine Frau
Elizabeth, genannt Lizzie, deren ältere Tochter
Helena, die jüngere Tochter
Edward LeFroy, Witwer und Besitzer von Stonehall
Louis LeFroy, dessen Sohn
Sarah LeFroy, Edwards Schwester
Amanda LeFroy, Edwards verstorbene erste Frau
Emma Gallingher, Witwe, Cousine von William Devane
Aphrodite Gallingher, deren Tochter
Der Earl of Rudham, Onkel von Edward LeFroy
Lady Rudham, dessen junge Frau
Barbara Lee Ambisher, eine Frauenrechtlerin, und deren Ehemann Roger
sowie der geheimnisvolle Jean und
Maud Emmerane, eine kräuterkundige Frau und Hebamme