Читать книгу Das Geheimnis von Sunderley - Isa Piccola - Страница 7
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ОглавлениеEs war wieder einmal Zeit für einen ausgedehnten Spaziergang.
Am Morgen hatte meine Schwester rechte Mühe gehabt, mir das Mieder zu schnüren. Den Ausdruck in ihrem Gesicht dabei konnte ich zwar nicht sehen, aber doch erahnen. Und dann kam noch diese entsetzliche Neuigkeit hinzu – nein, ich mußte hinaus in die Natur und mir frische Luft verschaffen. Dort würde mir vielleicht eine Idee kommen, wie ich diesen schrecklichen Abend in vier Wochen meiden könnte.
In meinem Leben war ich erst ein einziges Mal auf einem Ball gewesen, und es war ein so fürchterlicher Abend, daß ich weitere Erfahrungen dieser Art seitdem immer erfolgreich vermieden hatte. Natürlich war ich als junges Mädchen neugierig darauf, wie solch ein gesellschaftliches Ereignis wohl wäre. Wochenlang fieberte ich dem ersten öffentlichen Ball in Rochester entgegen. Mama ließ mir von Mrs Mellington ein wunderschönes Kleid aus hellbrauner Seide nähen. Mit einiger Mühe hatte ich die wichtigsten Tänze gelernt – Polka, Walzer und Galopp, wobei mir der Walzer am liebsten war. Papa hatte mich tatkräftig unterstützt und eine unendliche Geduld bewiesen, wenn ich ihm wiederholt auf die Füße getreten war. Dennoch glaubte ich, daß ich durchaus in der Lage sein würde, diese drei Tänze zu bestreiten.
Vielleicht wäre dem auch so gewesen – nur fragte mich an diesem Abend kein einziger Herr nach meiner Tanzkarte. Die ganze Zeit über saß ich still in einer Ecke und bewunderte die Paare, die elegant über die Tanzfläche schwebten. Papa bot mir mehrmals an, mit mir zu tanzen, doch ich lehnte ab, denn keines der anderen Mädchen tanzte mit dem eigenen Vater. Tapfer hielt ich die Tränen zurück, bis ich spät in der Nacht wieder in meinem Zimmer war. Dort schwor ich mir, mich nie wieder dermaßen erniedrigen zu lassen. Mir war klar geworden, daß mich alle aufgrund meiner Rundungen für einen Trampel hielten, mit dem man sich nicht auf der Tanzfläche sehen lassen konnte. Nach dem Verdauen dieser Erkenntnis war das Wort „Ball“ aus meinem Wortschatz gestrichen.
Auch wenn es für Anfang September ungewöhnlich kühl war, machte ich mich also auf, einen Spaziergang zu unternehmen. Dabei hatte ich immer die besten Einfälle. Vielleicht, so überlegte ich, käme mir das feuchte Wetter sogar sehr zupaß. Man müßte sich schließlich nicht übermäßig warm anziehen… ein leichter Schal statt eines Mantels würde genügen. Die Sonne schien ja. Damit wäre eine Erkältung zwar sehr wahrscheinlich, aber genau dies wollte ich ja erreichen. Eine leichte Unpäßlichkeit würde mich vor dem unseligen neunten Oktober bewahren. Der war allerdings noch in weiter Ferne… in zu weiter Ferne, fiel mir ein. Wenn ich mich jetzt verkühlte, wäre ich in vier Wochen längst wieder gesund. Nein, das war zu zeitig.
Folglich machte ich kehrt und holte mir doch einen wärmeren Umhang. Dabei hörte ich, wie Mama und Helena sich noch immer im Salon über Helenas neuem Kleid auseinandersetzten. Sollten sie ruhig – damit hätten sie bis zu dem Ball ein Gesprächsthema und würden mich wenigstens in Ruhe lassen.
Wieder draußen im Garten überlegte ich kurz, welchen Weg ich einschlagen sollte. Da ich Lust auf einen ausgedehnteren Spaziergang hatte und möglichst wenigen Menschen begegnen wollte, wählte ich den längeren, einsameren Weg durch den Wald. Hier hätte ich Gelegenheit, mir einen Plan auszudenken.
Bisher war ich meist krank geworden. Dadurch kam ich auch nicht in die Verlegenheit, mir die Vorwürfe meiner Mutter anzuhören, wenn sich herausstellte, daß ich wieder einmal nicht mehr in das Ballkleid paßte. Mir wurde jedoch bald klar, daß eine Erkältung nicht länger die beste Variante wäre. Eine solche hatte bereits die Teilnahme an den vergangenen fünf Bällen verhindert. Das wurde allmählich ein wenig auffällig, Helena hatte bereits eine Andeutung gemacht, als ob sie mir mein Fieber nicht abkaufen würde. Und auch Mama schien in letzter Zeit mißtrauisch zu werden. Aber vielleicht… au! Himmel, ich sollte mehr auf den Weg achten!
Verärgert blickte ich mich um – ich war an einer Wurzel hängengeblieben. Ein Glück, daß ich nicht gefallen war. Das wäre besonders unangenehm gewesen, da ich in der Ferne einen Reiter kommen sah. So beschloß ich, keinen weiteren Schritt zu tun, bis er nicht vorüber wäre. Suchend sah ich mich nach einer Ausweichmöglichkeit auf dem engen Weg um. Es gab keine. Die einzige Möglichkeit war, den Weg zu verlassen und mich ins Gestrüpp zu drücken, damit der Reiter ungehindert – und ohne anzuhalten – vorbeikonnte. Es blieb nicht viel Zeit zum Überlegen, er näherte sich sehr schnell. Also kletterte ich auf den etwas erhöhten Randstreifen und lehnte mich an einen Baumstamm. Meine Hoffnung, daß der Fremde dadurch schnell wieder verschwinden würde, erwies sich jedoch als trügerisch. Im Gegenteil – er wurde langsamer, fiel vom Galopp in den Schritt und hielt direkt vor mir an. Dann sagte er:
„Verzeihen Sie, Miss, ich wollte Sie nicht vom Weg vertreiben – ich hätte dort hinten eine Möglichkeit gefunden, Ihnen auszuweichen. Es war dennoch sehr freundlich von Ihnen. Soll ich absteigen und Ihnen wieder herunterhelfen?“
Vor lauter Scham konnte ich nur den Kopf schütteln und brachte kein Wort hervor. Was mußte er von mir denken? Und was sollte ich von ihm denken? Es gehörte sich nicht, als junge Frau allein durch die Welt spazieren zu gehen, und noch weniger gehörte es sich für ihn, mich einfach anzusprechen. Vollkommen verwirrt klammerte ich mich an meinen Baumstamm und wagte nicht, mich zu bewegen. Er schien begriffen zu haben, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn er sagte:
„Bitte, Miss, ich wollte nicht unhöflich sein… Kommen Sie doch wieder herunter dort. Ich helfe Ihnen.“
Und nun stieg er auch noch vom Pferd! Endlich löste ich mich aus meiner Starre und ergriff nach langem Zögern seinen ausgestreckten Arm. Wenn ich nur nicht stolperte! Das wäre der Höhepunkt aller Peinlichkeiten des Tages! Doch es gelang mir wider Erwarten, unbeschadet auf den Weg zurückzuklettern. Artig bedankte ich mich mit einem Knicks und wollte meinen Weg fortsetzen, als er mir anbot:
„Wenn Sie mögen, Miss, begleite ich Sie ein Stück des Weges.“
Zum ersten Mal hob ich überrascht den Blick und sah in sein Gesicht, das mir unbekannt war – aber unglaublich schön vorkam. So schön, daß ich vor Verlegenheit gleich wieder zu Boden schaute. Meine Unfähigkeit, auf seine Worte zu antworten, deutete er jedoch vollkommen falsch und fuhr fort:
„Ich weiß, es ist ungehörig, wenn ein Mann eine ihm unbekannte Dame anspricht. Doch lassen Sie uns einfach davon ausgehen, daß wir uns schon sehr lange kennen. Und zudem geht die Sonne bald unter. Würden Sie unter diesen Umständen meinem Begleitschutz zustimmen?“
Alles in mir wollte „Ja!“ rufen, und doch hielten mich meine Erziehung und meine Erfahrungen davon ab. Verzweifelt suchte ich nach einer Ausrede und stotterte schließlich:
„Sie hatten es gewiß eilig, Sir, und ich würde Sie nur unnötig aufhalten. Setzen Sie Ihren Weg ruhig fort, Sie müssen sich nicht um mich kümmern.“
Er zögerte, sah zu seinem Braunen, der unruhig den Kopf auf und nieder warf, und sagte schließlich mit einer gewissen Traurigkeit in der Stimme:
„Nun gut.“
Er stieg auf, sah noch einmal zu mir herab, verabschiedete sich und trieb das Tier zum Galopp an. Er drehte sich nicht noch einmal um.
So setzte ich meinen Spaziergang fort, mit Tränen in den Augen. Warum war ich so unbeholfen? Da stand ein junger Mann vor mir, der sogar mit mir redete – und ich brachte kein vernünftiges Wort hervor. Mir fehlte die Ungezwungenheit meiner Schwester, die diese Gelegenheit sicher erfreut ergriffen hätte. Wie vielen Männern hatte sie nicht schon den Kopf verdreht – doch keiner war ihr gut genug zum Heiraten. Meine eigene Bilanz sah deutlich jämmerlicher aus. Außer einer Kinderfreundschaft mit einem Jungen aus dem Dorf hatte ich keinerlei Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Und mir war bewußt, daß dies so bleiben würde.
In den folgenden Tagen setzte ich dennoch meine ausgedehnten Spaziergänge fort, nicht zuletzt in der Hoffnung, ihn wiederzusehen. Natürlich war es vergeblich. Außer ein paar scheuen Wildkaninchen, die ich aufjagte, sah ich kein weiteres lebendes Wesen. Was auch nicht anders zu erwarten war - bei meinem Glück. Nach ein paar Tagen änderte ich die Zeiten, zu denen ich spazierenging – doch auch hier begegnete ich nur ab und zu einem menschlichen Wesen, das mir aus der Nachbarschaft bekannt war. Dabei kam mir der Gedanke, daß der Fremde vielleicht gar nicht aus der Gegend stammte und nur zufällig auf einer Reise hier entlanggekommen war. Zwar hatte mich einen Moment das Gefühl beschlichen, ihn schon einmal gesehen zu haben. Doch dies geschah mir öfter, und am Ende stellte es sich immer als falsch heraus. So begrub ich allmählich die Hoffnung, ihn je wiederzusehen. Und das, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich beim nächsten Aufeinandertreffen weniger dumm anzustellen. In vielen Nächten, wenn ich nicht schlafen konnte, hatte ich mir die Szene sogar ausgemalt und überlegt, was ich sagen könnte und wie er reagieren würde. Auch wenn ich wußte, daß es dann sicherlich anders kommen würde… und genau so war es auch.
Einen Tag vor dem Ball bei den LeFroys geschah das Unerwartete. Zur gleichen Tageszeit, an derselben Stelle wie beim ersten Mal. Vor Schreck wußte ich nicht, wie ich diesmal reagieren sollte. All meine Überlegungen in den schlaflosen Nächten waren vergessen – jetzt, wo es so weit war, kam mir keines der geplanten Szenarien mehr in den Sinn. Fieberhaft versuchte ich, zu einer Entscheidung zu kommen, während er näher und näher kam. Wenn ich wieder auswiche, würde er womöglich wortlos vorbeireiten – ich hatte ihm immerhin zu verstehen gegeben, daß ich nicht mit ihm reden wollte. Wenn ich stehen bliebe, würde er vielleicht dort ausweichen, wo er es beim letzten Mal schon versuchen wollte. Unschlüssig trat ich einen Schritt zur Seite und sah ihm gespannt entgegen.
Er mußte mich erkannt haben, denn er zügelte sein Pferd und kam langsam weiter auf mich zu. In Hörweite rief er:
„Bitte klettern Sie nicht wieder dort hinauf.“
Dann stieg er ab und kam näher. Etwas erstaunt bemerkte ich, daß er diesmal einen Schimmel ritt. Er konnte nicht unvermögend sein. Und wahrscheinlich lebte er doch irgendwo in der Gegend und war nicht nur auf der Durchreise. Er lächelte, ein wenig schief, wie ich fand, fast schelmisch, und sagte, als er neben mir stand:
„Guten Tag! Welch ein netter Zufall. Werden wir uns jetzt jedes Mal treffen, wenn ich ausreite?“
Deswegen also war ich ihm nicht mehr begegnet! Verwundert erwiderte ich:
„Reiten Sie denn so selten aus?“
Sein Lächeln verdüsterte sich etwas.
„Ja… ich habe nicht oft die Gelegenheit dazu.“
Verzweifelt suchte ich nach einem weiteren Anknüpfungspunkt, um das Gespräch nicht ersterben zu lassen. Darin war ich nicht besonders geübt:
„Das… das ist bedauerlich, sehr bedauerlich... Vielleicht sollten Sie es statt dessen mit einem Spaziergang versuchen?“
Wie einfältig konnte ein Mensch sein? Wenn er keine Zeit zum Ausreiten hatte, wie sollte er sie dann zum Spazierengehen haben? In Gedanken schalt ich mich ob meiner Schwerfälligkeit. Doch er schien meine Bemerkung nicht übel zu nehmen, denn er antwortete:
„Ja, vielleicht sollte ich es versuchen. Wollen wir ein wenig gehen?“ Mit seinen tiefblauen Augen sah er mich forschend an, und ich konnte diesem Blick nicht lange standhalten. So sehr fesselte mich seine Erscheinung, daß ich schließlich zustimmend den Kopf senkte, um ihn nicht in einem fort anzustarren. Das Blut schoß mir in den Kopf, mir wurde heiß. So oder ähnlich hatte ich mir den Prinzen meiner Träume ausgemalt. Immer in dem Bewußtsein, daß er niemals eine wie mich erhören würde. Er war sehr groß und schlank, mit hellbraunen, leicht gewellten Haaren, blauäugig, einfach, aber elegant gekleidet… Er kam auf seinem Roß und rettete mich – wovor auch immer... Dann brachte er mich auf sein Schloß, wo wir für ewige Zeiten glücklich zusammen leben würden. – Elizabeth, nimm dich endlich zusammen und sieh die Sache realistisch!
Mit Mühe kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und überlegte, wie ich das Gespräch wieder aufnehmen konnte, während wir langsam in Richtung Sunderley gingen:
„Stammen Sie hier aus der Gegend? Ich habe Sie noch nie hier gesehen.“ Wieder eine äußerst grob formulierte und indiskrete Frage. Auf die Zunge hätte ich mir beißen sollen! Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten konnte. Als er nicht sofort antwortete, bohrte ich beinahe hilflos weiter: „Oh, vielleicht sind Sie ja unser Nachbar, Mr LeFroy?“
Ein wenig erstaunt sah er mich an und antwortete:
„Nein, ich lebe im Dorf.“ Nach einer Pause setzte er hinzu: „Sie erwähnten den Namen LeFroy. Ist das nicht der Besitzer von Stonehall? Anscheinend haben Sie ihn noch nicht kennengelernt?“
„Nein, aber das wird wohl morgen auf dem Ball auf Stonehall geschehen. Wissen Sie, die Familie lebt schon so viele Jahre dort, aber wir haben sie noch nie zu Gesicht bekommen. Daher vermutete ich, daß Sie es vielleicht sein könnten…“
Er schüttelte den Kopf, ging jedoch sonst nicht weiter auf meine Bemerkung ein, sondern schwieg und schien düstere Gedanken hinter seiner noch glatten Stirn zu wälzen. Wie alt mochte er sein? Vielleicht ein paar Jahre älter als ich… Aber warum war er so schweigsam? Er hatte doch das Gespräch gesucht! Wieder versuchte ich, die Unterhaltung fortzuführen:
„Ich komme nicht oft nach Langton Green. Wohnen Sie direkt im Dorf oder etwas außerhalb?“
Anscheinend immer noch gedanklich abwesend antwortete er:
„Etwas außerhalb.“
Wieder herrschte Schweigen. Meine Gedanken sprangen von einem Thema zum anderen. Was sollte ich nur tun? Wir näherten uns Sunderley, der Wald lichtete sich. Plötzlich schien er aus seinen Überlegungen zu erwachen. Abrupt blieb er stehen und sagte mit gesenktem Blick:
„Unsere Wege trennen sich hier. Ich muß mich von Ihnen verabschieden. Auf Wiedersehen.“ Nach einer knappen Verbeugung stieg er auf sein Pferd und trieb es zur Eile an, in die Richtung, aus der er gekommen war. Zwar sah ich ihm nach, doch nach wenigen Minuten hatte ich ihn aus den Augen verloren.
Traurig nahm ich die letzten Schritte nach Hause. Was hatte ich nur falsch gemacht? War ich zu neugierig gewesen, hatte ich zu viele Fragen gestellt? Wahrscheinlich hatte ich ihn damit abgeschreckt. Hätte ich doch nur über das Wetter geredet, oder über andere belanglose Dinge… Wieder einmal war ich gescheitert bei dem Versuch, mit einem Menschen Kontakt aufzunehmen. Kein sehr ermutigendes Gefühl, wenn ich an den folgenden Tag dachte! Denn entgegen aller Hoffnungen war ich nicht krank geworden. Also mußte ich mich nun geistig und seelisch auf den Ball einstellen. Zumindest mußte ich es versuchen. Die eben überstandene Begegnung war dabei nicht besonders hilfreich.
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