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1.Der Grundsatz der Vertragsfreiheit, § 311 Abs. 1

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9Der Grundsatz der Vertragsfreiheit, der an späterer Stelle bei der Entstehung des Schuldverhältnisses ausführlich erläutert wird10, ist in § 311 Abs. 1 normiert bzw. sogar vorausgesetzt.11 Dieser Vorschrift zufolge ist nämlich zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Mit dieser Formulierung wird deutlich, dass der Vertrag die Grundlage sämtlicher schuldrechtlicher Beziehungen darstellt und zugleich frei zwischen den Parteien zu vereinbaren ist, sofern ein Gesetz nichts anderes verlangt bzw. zwingend vorgibt. Der Kern der Vertragsfreiheit liegt letztlich darin, dass jeder nach seinem Belieben frei darüber entscheiden kann, „ob“ er überhaupt einen Vertrag abschließt und wenn ja, „mit wem“, und darüber hinaus auch „welchen Inhalt“ er in dem Vertrag vereinbaren möchte.12 Die Vertragsfreiheit umfasst daher die Abschlussfreiheit sowie die Inhalts- bzw. Gestaltungsfreiheit und die Formfreiheit. Sie spielen insbesondere bei der Entstehung eines vertraglichen Schuldverhältnisses eine große Rolle, da dieses nach der Vorstellung des BGB an den freien Willensentschluss der Vertragsparteien gebunden ist.

10Über die Vorschrift des § 311 Abs. 1 hinaus beruht die Vertragsfreiheit auch auf einer verfassungsrechtlichen Grundlage. Der Grundsatz der Vertragsfreiheit als Prinzip und Recht des Einzelnen, seine Rechtsbeziehungen mit anderen Rechtssubjekten einverständlich zu regeln, ist der zentrale Bestandteil der Privatautonomie. Diese wiederum hat ihre Grundlage in Art. 2 Abs. 1 GG gefunden – man kann diesem Artikel letztlich das Recht auf eine rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung entnehmen13: Jeder, so die Kernaussage, ist dazu befähigt, sich durch einen freien Entschluss in eine schuldvertragliche Beziehung zu einer anderen Person zu begeben; dies führt dann im Umkehrschluss aber auch dazu, dass jeder, der sich in eine solche vertragliche Bindung begibt, auch die Risiken tragen muss, die sich aus einer derartigen Verbindung ergeben – die Haftung für eine eingegangene schuldvertragliche Verbindung ist also die Kehrseite der Vertragsfreiheit.14

11Diese Vertragsfreiheit kann jedoch nicht schrankenlos gelten. So ist das Gesetz mit seiner Werteordnung nicht nur dem Freiheitsideal verpflichtet, sondern es muss dem Einzelnen auch die Ausübung seiner – ihm zustehenden – Freiheit ermöglicht werden. Das setzt insbesondere voraus, dass bestimmte Ungleichgewichte ausgeglichen werden, denn diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Freiheit verantwortlich auszuüben, müssen geschützt werden. Das gilt etwa für die Personengruppen, die überhaupt nicht absehen können, was eine vertragliche Freiheitsausübung mit sich bringt. Deshalb schränkt die Rechtsordnung die Vertragsfreiheit bei Kindern und Jugendlichen ein, das Gleiche gilt für diejenigen, die krankheitsbedingt nicht frei und verantwortlich entscheiden können: Die Regelungen des Allgemeinen Teils des BGB in den §§ 104 ff. haben hier ihre Grundlage.15

12Die Einschränkung der Vertragsfreiheit geht jedoch noch sehr viel weiter: Denn auch derjenige, der üblicherweise frei über seine Bindungen und Pflichten entscheiden kann, ist möglicherweise zu schützen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn zwar prinzipiell zwei von der Vertragsfreiheit begünstigte Privatrechtssubjekte einander gegenübertreten, eine von beiden potenziellen Vertragsparteien jedoch erheblich stärker ist als die andere. In einer solchen Situation greift die Rechtsordnung ein und schützt die (vermeintlich) schwächere Partei: So soll niemand allein aufgrund der Marktmacht des anderen in einen Vertrag gezwungen werden, der eigentlich nicht seiner freien Willensentscheidung entspricht. Das führt dazu, dass bestimmte Regelungen in Verträgen nicht getroffen werden können, wenn sie gegen die guten Sitten verstoßen, wenn also beispielsweise eine der Vertragsparteien eine so starke Macht hat, dass sie den Vertrag diktieren kann, ohne dass die andere Vertragspartei etwas entgegensetzen könnte. Der Grundsatz der Vertragsfreiheit versagt in diesen Fällen. In der Regel hat der Vertrag nämlich zum Ziel, ein ausgeglichenes Austauschverhältnis herzustellen. Das kann er deshalb, weil die Vorstellung vorherrscht, dass bei bestehender Vertragsfreiheit beide Seiten sich auf das einigen werden, was sie zu geben bereit sind, um die Gegenleistung zu erhalten.

Beispiel: Schließen zwei Personen einen Kaufvertrag über ein Auto, so wird der Käufer den Betrag zahlen, den er für „richtig“ hält – meint er, das Auto sei zu teuer, wird er zu einem anderen Händler gehen; umgekehrt wird der Verkäufer den Wagen auch nicht billiger anbieten, als er muss.

13Man geht also davon aus, dass das Prinzip der Vertragsfreiheit zu „gerechten“, richtigen Verträgen führt.16 Dies kann aber nur dann funktionieren, wenn in der Tat in etwa gleich starke Parteien aufeinandertreffen. Immer dort, wo dies nicht der Fall ist, die Vertragsparität also gestört wird, greifen Schutzmechanismen, um gleichwohl zu „gerechten“ Verträgen zu gelangen. Der Grundsatz der Vertragsfreiheit ist somit nicht schrankenlos gewährt, sondern wird von Einschränkungen begleitet, die das Ziel haben, trotz bestehender Ungleichgewichte faire und gerechte Austauschverhältnisse herbeizuführen. Das ist der Hintergrund nicht nur der Vorschrift des § 138, sondern insbesondere auch des AGB-Rechts in den §§ 307 ff.17

Beispiel: Kauft K im Kaufhaus eine Waschmaschine vom Verkäufer V, so wird V regelmäßig AGB anwenden, die dann Bestandteil des Vertrags werden. K wird jedoch durch die §§ 307 ff. geschützt. Denn nach diesen Vorschriften dürfen beispielsweise bestimmte Vereinbarungen in AGB nicht vorgesehen sein – zum Schutz des K als Vertragspartner des AGB-Verwenders.

14Der Grundsatz der Vertragsfreiheit in seinen unterschiedlichen Facetten, die die Entstehung des Schuldverhältnisses bei einem vertraglichen Entstehungstatbestand maßgeblich beherrschen, führt in letzter Konsequenz auch dazu, dass im Schuldrecht – viel mehr und anders als im Sachenrecht18 – eine nahezu vollständige Typenfreiheit besteht. Die Parteien sind also nicht dazu gezwungen, einen Vertragstypus auszuwählen, der im Besonderen Schuldrecht vorgegeben ist. § 311 Abs. 1 eröffnet vielmehr die Möglichkeit, dass die Parteien frei entscheiden können, welchen Inhalt sie ihrer vertraglichen Vereinbarung geben wollen: Das heißt dann aber auch, dass sie sich nicht auf einen Kauf- oder auf einen Werk- oder auf einen Dienstvertrag konzentrieren müssen, sie können auch neue Konstruktionen ersinnen. So ist es den Parteien unbenommen, sich unterschiedliche Rechte und Pflichten aus verschiedenen Vertragsmodellen zusammenzusuchen und einen gemischten Vertrag zu vereinbaren; sie sind im Ergebnis keinerlei Beschränkungen unterworfen.

Beispiel: Paradigmatisch sollen hierfür nur der Leasing- und der Factoringvertrag angeführt werden. Es handelt sich dabei um Verträge, die im BGB so nicht vorgesehen sind. Das ist aber auch nicht erforderlich, da die Inhaltsfreiheit als eine besondere Ausprägung der Vertragsfreiheit den Parteien im Schuldrecht völlige Freiheit lässt.

Schuldrecht I - Allgemeiner Teil

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