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3.Vertragsschluss aus sozialtypischem Verhalten?

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Beispiel: Die Stadt Bochum gestattet der F-GmbH, den Parkplatz „Neue Mitte“ zu bewirtschaften, insbesondere die Bewachung der dort abgestellten Kraftfahrzeuge gegen Entgelt zu übernehmen. K stellt ihren Wagen dort ab und erklärt dem Parkwächter, sie wünsche keine Überwachung und zahle deshalb auch nichts. – Ist ein Vertrag zustande gekommen?

66Neben der vertraglichen Begründung eines Schuldverhältnisses durch eine Einigung der Parteien gibt es besondere Situationen, in denen eine solche Vereinbarung nicht feststellbar ist und man gleichwohl versucht, einen Vertrag zu konstruieren, um auf diese Weise die entsprechenden Rechtsfolgen zu erreichen. Das vorgestellte Beispiel ist dafür wegweisend, denn man hat lange überlegt, wie man derartige Fälle dogmatisch erfassen kann. Eine Zeit lang war die sog. „Lehre vom faktischen Vertrag“ verbreitet. Diese besagte, dass Verträge auch ohne das Vorhandensein von konkreten Willenserklärungen allein durch sozialtypisches Verhalten – eben: „faktisch“ – zustande kommen könnten. Auf diese Weise wurde die eigentliche vertragsdogmatische Konstruktion umgangen, nämlich das Vorliegen von Angebot und Annahme gem. §§ 145 ff. Dahinter stand die Vorstellung, dass man nur durch die Herbeiführung einer zumindest „faktischen“ Vertragseinigung ausreichend Schutzmechanismen zugunsten der Betroffenen zur Verfügung habe, da die deliktische Haftung oder die Anwendung der Vorschriften zur ungerechtfertigten Bereicherung bzw. zur Geschäftsführung ohne Auftrag nicht ausreichten.94 Ein solcher Rekurs auf ein sozialtypisches Verhalten als Ersatz für die eigentlich erforderlichen Willenserklärungen stellt im Ergebnis den Versuch dar, Massengeschäfte des täglichen Lebens rechtlich einfacher zu handhaben. Die Vorstellung, es sei lebensfremd, dort immer Willenserklärungen anzunehmen, führte im Ergebnis dazu, dass wie im Beispielsfalle ein Vertrag zustande kommt: Die Bereitstellung des Parkplatzes stellt ein Angebot dar, und zwar eine Offerte an einen unbestimmten Personenkreis (ad incertas personas95). Die erforderliche Annahme war nach dieser Lehre vom faktischen Vertrag ebenfalls gegeben, da K tatsächlich den Parkplatz nutzt – unabhängig davon, was sie sagt.

67Diese Vorstellung von einem Vertragsschluss allein aus sozialtypischem Verhalten und die Lehre vom faktischen Vertrag, wurden jedoch auch von Beginn an abgelehnt. Gegen diese Lehre ist zum einen einzuwenden, dass sie keine Stütze im BGB findet.96 Insbesondere der Allgemeine Teil des BGB kennt diese Form des Vertragsschlusses nicht. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass für einen Vertragsschluss – mit Ausnahme des sog. diktierten Vertrags97 – immer zwei Willenserklärungen erforderlich sind.

68Entscheidender ist jedoch, dass diese Lehre vom faktischen Vertrag im Ergebnis auch nicht erforderlich ist. Denn die maßgeblichen Fälle lassen sich auch mit den anerkannten Mitteln des Zivilrechts lösen. So ist die Lehre vom faktischen Vertrag im Beispielsfall deshalb nicht notwendig, da man ohnehin davon ausgehen kann, dass der im Einzelfall erklärte Wille des Abnehmers unbeachtlich ist, wenn und weil er mit dem äußeren Verhalten unvereinbar ist. Im Ergebnis ist die Erklärung der K deshalb unbeachtlich, weil sie sich zu ihrem eigenen Verhalten in Widerspruch setzt: protestatio facto contraria.98 Eine weitere Möglichkeit mit diesen Situationen rechtlich umzugehen, bildet der Rückgriff auf konkludentes Verhalten. Denn für das Vorliegen einer Willenserklärung ist ja nicht erforderlich, dass die Erklärung explizit nach außen hin erfolgt. Sie kann auch konkludent erfolgen.99 Dies wird insbesondere in den sog. Massengeschäften des täglichen Lebens der Fall sein. Wer beispielsweise einen Bus benutzt, wird konkludent damit zu verstehen geben, dass er einen Transportvertrag abschließen möchte. Etwas anderes kann er dann nicht geltend machen, weil gemeinhin bekannt ist, dass eine solche Beförderung nicht in einem rechtsfreien Raum stattfindet, sodass jeder, der einen Bus betritt und nutzt, weiß, dass damit eine Willenserklärung auf Abschluss eines Transportvertrags erfolgt. Nicht anders kann auch der Empfänger eine solche Verhaltensweise verstehen, und die Sicht des Empfängers ist gem. §§ 133, 157 entscheidend. Die Konstruktion des faktischen Vertrags ist also entbehrlich und mangels Einbindung in das System des Allgemeinen Schuldrechts abzulehnen.100

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