Читать книгу Schuldrecht I - Allgemeiner Teil - Jacob Joussen - Страница 39
1.Kategorien
Оглавление121Bei sämtlichen Situationen, in denen der Austausch von Gefälligkeiten oder Freundschaftsdiensten im Mittelpunkt steht, ist in rechtlicher Hinsicht zu unterscheiden, welcher Kategorie dieser Vorgang zuzuordnen ist. Im Ergebnis unterscheidet man drei Kategorien, abhängig davon, was die Parteien im Einzelnen gewollt haben. Denkbar ist zunächst, dass es sich um eine sog. reine, alltägliche Gefälligkeit handelt. Es geht darum, einen sozialen Kontakt zu pflegen, man verabredet sich, man hilft einander, ohne irgendwelche rechtlichen Verbindungen begründen zu wollen. Als Beispiel dient die Situation, in der jemand seine Freunde abends einlädt, um gemeinsam mit ihnen ein Fußballspiel im Fernsehen anzusehen. Wenn nun einer der Freunde sich bereit erklärt, zu dem Abend einen Kasten Bier mitzubringen, wird man dies als reine Gefälligkeit ansehen müssen, er wird sich rechtlich nicht binden wollen. Im Ergebnis kommt hier deshalb keine schuldvertragliche Verbindung über das Mitbringen der Getränke zustande, weil den Parteien der Rechtsbindungswille bei der Willenserklärung fehlt. Es existieren somit kein Vertrag174 und keine Pflichten.175
122Zu prüfen ist dies im Prüfungsaufbau dort, wo es um das Tatbestandsmerkmal „Vertrag“ geht: Macht etwa im Beispiel der Gastgeber geltend, der andere habe doch einen Kasten Bier mitbringen wollen, nun müsse er selber für viel Geld einen an der Tankstelle (statt im mittlerweile geschlossenen Supermarkt) kaufen und erleide deshalb einen Schaden, wird die Anspruchsgrundlage in § 280 Abs. 1 zu suchen sein – der hierzu erforderliche Vertrag scheitert jedoch daran, dass der Rechtsbindungswille zum Abschluss eines Vertrags (über die Lieferung eines Kastens Bier etwa) fehlt. In diesem rein alltäglichen Gefälligkeitsverhältnis entstehen daher keine Primärpflichten. Es entstehen aber auch keine Sekundärpflichten. Die Parteien bewegen sich in einem vertragsfreien Raum, lediglich deliktische Ansprüche – etwa bei Beschädigung des Sofas des Gastgebers – kommen in Betracht.176
123Als zweite Kategorie ist denkbar, dass die Parteien sich hinsichtlich der Gefälligkeit sehr wohl vertraglich binden wollten. Man spricht dann von Gefälligkeitsverträgen. Hier liegt eine Willenserklärung vor, die zum Abschluss eines solchen Gefälligkeitsvertrags erforderlich ist, denn ein Rechtsbindungswille ist zu bejahen. Ein solcher Vertrag ist auf der Grundlage der Vertragsfreiheit möglich. Inhalt der Willenserklärung ist der Abschluss eines Vertrags, der eine Gefälligkeit zum Gegenstand hat, die jedoch über die bloße reine Gefälligkeit im sozialen Umgang hinausgeht. Ob ein solcher Gefälligkeitsvertrag gewollt ist (oder nicht vielmehr eine reine Gefälligkeit), ist ggf. durch Auslegung der Willenserklärungen nach §§ 133, 157 zu ermitteln. Vorrangig ist zunächst, was die Parteien geäußert haben. Dies wird sich jedoch häufig nicht explizit festlegen lassen. Entscheidend ist daher, wie das konkludente Handeln auszulegen ist und auf welchen inhaltlichen Willen dieses schließen lässt, und zwar des Erklärungsempfängers. Dazu wird man unterschiedliche Kriterien heranziehen müssen. Maßgeblich hierbei sind etwa die Art des Geschäfts, insbesondere die Risiken, die mit der Übernahme des Geschäfts verbunden sind, die Bedeutung des Geschäfts für eine der Vertragsparteien usw.177 Anhand dieser Kriterien muss man überlegen, ob eine reine, alltägliche Gefälligkeit oder ein Gefälligkeitsvertrag gewollt ist. Weitere Anhaltspunkte sind etwa der Grund und Zweck sowie die Umstände, unter denen die Gefälligkeit erbracht worden ist. Auch der Wert einer Sache, die anvertraut wird, ist Anhaltspunkt bei der Auslegung.
Beispiel: Bittet der D seinen Nachbarn E während seines Urlaubs auf seine Katzen aufzupassen, so kann in diesem Vorgang sowohl die Bitte um eine reine Gefälligkeit als auch die Bitte um den Abschluss eines Gefälligkeitsvertrags liegen. Handelt es sich etwa um gewöhnliche Straßenkatzen, wird man eher von einem bloßen Gefälligkeitsverhältnis ausgehen müssen. Anders ist dies jedoch zu beurteilen, wenn es um sehr wertvolle Siamkatzen geht. Dann ist es für D entscheidend, dass die Pflege schon aufgrund des Wertes der Katzen sorgfältig und gewissenhaft durchgeführt wird. Das wird auch E erkennen, sodass in dieser Situation wohl ein Gefälligkeitsvertrag anzunehmen ist.
124Kein Kriterium in dem Zusammenhang ist hingegen die Unentgeltlichkeit: Denn gerade die Unentgeltlichkeit ist häufig vertragstypisch – man denke nur an die Schenkung, die stets unentgeltlich erfolgt, aber unzweifelhaft einen Vertrag darstellt.
125In einem bekannten Beispiel, anhand dessen der BGH die Differenzierung zwischen Gefälligkeitsverhältnis und Gefälligkeitsvertrag herausgearbeitet hat, gab eine Lottotippgemeinschaft wöchentlich Lottotipps ab178; dazu zahlte jeder einen geringen Betrag in eine gemeinsame Kasse. Der Schein wurde jeweils von einem der Mitglieder der Gemeinschaft zur Annahmestelle gebracht. An einem Tag vergaß einer der Mitspieler, den Lottoschein abzugeben, auf diesen Schein entfiel jedoch ein großer Gewinn. Die anderen Gemeinschaftsmitglieder verlangten nun von dem vergesslichen Mitglied einen Schadensersatz. Dieser wäre heute auf § 280 Abs. 1 zu stützen. Dazu bedürfte es jedoch zunächst eines Schuldverhältnisses. Dieses könnte in der Abrede liegen, gemeinsam wöchentlich den Tippschein abzugeben. Fraglich ist, ob darin bereits ein Vertrag oder nicht vielmehr eine reine Gefälligkeit zu sehen ist. Das hängt davon ab, ob die Parteien diese Gemeinschaft mit einem Rechtsbindungswillen betrieben haben. Wenn man die oben genannten Kriterien zugrunde legt, wird man jedoch davon ausgehen müssen, dass keine vertragliche Bindung gewollt war: Denn das Risiko, einmal die Abgabe zu vergessen und dadurch den Gewinn zu verspielen, wird von keiner der Parteien übernommen werden wollen. Daher hat der BGH zu Recht in dieser Situation entschieden, dass der vergessliche Mitspieler angesichts dieses hohen Haftungsrisikos keine rechtsgeschäftliche Verpflichtung eingehen wollte – es liegt also kein Gefälligkeitsvertrag vor.179
126Ein weiterer wichtiger Bereich in dem Zusammenhang ist die Situation der Auskunftserteilung: § 675 Abs. 2 macht nämlich deutlich, dass die Erteilung einer bloßen Auskunft allein nicht genügt, um einen stillschweigenden Vertragsschluss anzunehmen; die Unentgeltlichkeit einer Auskunft hilft in dem Zusammenhang auch nicht sofort weiter. Gerade bei der Auskunftserteilung ist also entscheidend, inwiefern die Parteien deutlich machen, dass sie einen Vertragsschluss wünschen. Das wird der Fall sein, wenn die Auskunft gerade aufgrund der Sachkunde180 des anderen erbeten wird oder wenn es um, für beide Seiten ersichtlich, hohe Wertgüter geht: Dann kann man von einem Auskunftsvertrag sprechen. Bei der bloßen Auskunft, die man auf der Straße nach einem Weg erbittet, wäre es jedoch fernliegend, eine vertragliche Bindung anzunehmen, stattdessen wird man von einer reinen Gefälligkeit auszugehen haben.
127Neben diesen beiden genannten Kategorien der reinen Gefälligkeit und des Gefälligkeitsvertrags hat sich eine dritte Kategorie herausgebildet, nämlich das sog. Gefälligkeitsverhältnis: Dies ist eine Gefälligkeit, in der keine primären Leistungspflichten bestehen, also kein Gefälligkeitsvertrag abgeschlossen wurde, gleichwohl mehr als eine reine Gefälligkeit gegeben ist. Man kann hier auch von einer Gefälligkeit besonderer Art sprechen, die zumindest rechtsgeschäftsähnlich ist und Schutzpflichten gem. § 241 Abs. 2 begründet. Im Ergebnis ist diese Situation vergleichbar mit derjenigen der vorvertraglichen Situation bei der „culpa in contrahendo“. Darstellen lässt sich diese Problematik gut an der Situation, in der sich einer bereit erklärt, einen anderen in seinem Auto mitzunehmen.
Beispiel: Bietet der A seinem Kollegen K an, ihn im Auto zur Arbeit mitzunehmen, kann man hierin eine reine Gefälligkeit sehen – angesichts der Gefährlichkeit des Straßenverkehrs und des Risikos, etwa aufgrund der schlechten Fahrweise des Fahrers einen Unfall zu erleiden oder zu spät zu kommen, ist jedoch auch denkbar, einen rechtsgeschäftlichen Gehalt anzunehmen. Doch eine Gefälligkeit im Sinne eines Transport- oder Mitnahmevertrags wäre auch wieder unrealistisch. Das dürfte kaum im Sinne der Parteien sein, ein Rechtsbindungswille im Hinblick auf diese besondere Kategorie eines Vertrags mit hohen Anforderungen und Rechtsfolgen ist praxisfern. Daher stellt sich die Frage, was passiert, wenn tatsächlich eine Verletzung des Beifahrers eintritt: Bleibt man bei der reinen Gefälligkeit, stehen dem Verletzten Ansprüche aus Deliktsrecht zu. Konstruiert man – praxisfern – einen Gefälligkeitsvertrag, bestünden auch vertragliche Pflichten. Nach der überwiegenden Auffassung kann man von einem Gefälligkeitsverhältnis ausgehen: Hier entstehen Schadensersatzansprüche wegen einer Schutzpflichtverletzung. Infolgedessen hat der Beifahrer auch vertragsähnliche Ansprüche auf Schadensersatz und zwar aus § 280 Abs. 1. So ist auch die Erstattung reiner Vermögensschäden möglich, was bei allein deliktischen Ansprüchen ausgeschlossen ist.181