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2.Die Entstehung eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses

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95Schon aus dem zuvor Gesagten wurde deutlich, dass ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit Rechten und Pflichten der Beteiligten nur in bestimmten Situationen entstehen kann. Diese sind in § 311 Abs. 2 geregelt; ausnahmsweise kommt darüber hinaus eine besondere vorvertragliche Situation dann zustande, wenn die Voraussetzungen des § 311 Abs. 3 vorliegen.

96a) Der Normalfall: § 311 Abs. 2. In § 311 Abs. 2 ist bestimmt, unter welchen Voraussetzungen ein vorvertragliches Schuldverhältnis entsteht. Dabei wird erkennbar, dass nicht jeder soziale Kontakt zwischen zwei Menschen zu einem vorvertraglichen Schuldverhältnis führt, denn es geht ja entscheidend darum, dass im Ergebnis schon eine Vertrauenssituation zwischen den Beteiligten begründet sein muss. Nur in diesen Fällen ist es gerechtfertigt, bereits in einem solch frühen – vorvertraglichen – Stadium Pflichten zu begründen. § 311 sieht in seinem Absatz 2 drei zu einer c. i. c. führende Situationen vor.

97Eine Situation, die ein vorvertragliches Schuldverhältnis begründet, liegt zunächst vor, wenn Vertragsverhandlungen aufgenommen werden (§ 311 Abs. 2 Nr. 1). Es müssen also bestimmte rechtsgeschäftliche Kontakte zwischen den Parteien bestehen, die den Abschluss eines Vertrags zwischen ihnen zum Ziel haben.132 Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Verhandlungen auch erfolgreich geführt werden. Das Rechtsverhältnis kommt demzufolge allein dadurch zustande, dass Verhandlungen zwischen den Parteien begonnen worden sind. Sie dürfen lediglich noch nicht beendet worden sein, denn mit dem Ende der Verhandlungen (oder dem Vertragsschluss) endet auch diese vorvertragliche, ein Schuldverhältnis begründende Situation.133

Beispiel: Setzt der V eine Anzeige in die Zeitung, mit der er eine Mietwohnung anbietet, und meldet sich der M daraufhin, so kommt das vorvertragliche Schuldverhältnis spätestens dann zustande, wenn M sich zu V begibt und beide über einen Mietvertrag sprechen bzw. verhandeln.

98In § 311 Abs. 2 Nr. 2 ist eine weitere Situation geregelt, in der ein vorvertragliches Schuldverhältnis zustande kommt: Gemeint ist diejenige der Anbahnung eines Vertrags, bei der der eine Teil im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Möglichkeit zur Einwirkung auf seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen gewährt oder diese ihm anvertraut. Anders als in Nr. 1 geht es hier um eine noch etwas weniger rechtlich fassbare Situation, es müssen nämlich nicht bereits konkrete Verhandlungen um einen Vertrag geführt werden, vielmehr genügt, dass eine Vertragsanbahnung vorgesehen ist. Entscheidend und ausreichend hierfür ist, dass eine Partei der anderen die Anbahnung eines Vertragsverhältnisses ermöglicht; gemeint ist insbesondere der Fall, dass ein Unternehmer seine Geschäftsräumlichkeiten für den Publikumsverkehr öffnet, um (das ist allerdings entscheidend) potentiellen Kunden die Möglichkeit zu geben, mit ihm Kontakt aufzunehmen und gegebenenfalls auch einen Vertrag zu schließen.134

99Hier ist es berechtigt, eine rechtlich relevante vorvertragliche Situation zu sehen: Wenn ein Unternehmer sein Ladenlokal öffnet, um Kunden anzusprechen, begründet er damit sogleich auch einen Vertrauenstatbestand bei den potenziellen Kunden. Diese können nämlich davon ausgehen, dass sie ohne Gefahr für Leib, Leben und ihre Rechtsgüter Informationen darüber einholen können, ob für sie Vertragsverhandlungen von Interesse sind. Das legt umgekehrt nahe, wann § 311 Abs. 2 Nr. 2 nicht eingreifen kann: Es muss stets um eine Vertragsanbahnung gehen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn überhaupt von beiden Parteien der Vertragsschluss potenziell ins Auge gefasst wird. Im zuvor skizzierten Fall des Reichsgerichts war dies der Fall, denn der Kunde wollte sich darüber informieren, welche Produkte der Verkäufer anbietet. Anders ist dies, wenn der Kunde nur deshalb in das Geschäft geht, um sich aufzuwärmen oder etwa die Toiletten aufzusuchen. Hier wird man (abgesehen natürlich von der Beweislage) keine Vertragsanbahnung sehen können, sodass eine vorvertragliche Schuldverhältnissituation i. S. v. § 311 Abs. 2 Nr. 2 ausscheidet. Das ist deshalb richtig, weil die Herstellung allein eines sozialen Kontaktes nicht genügt, um eine rechtsgeschäftliche vorvertragliche Situation zu begründen.135

100Schließlich sieht § 311 Abs. 2 Nr. 3 eine rechtlich relevante vorvertragliche Situation auch dann als gegeben an, wenn „ähnliche geschäftliche Kontakte“ zwischen den Parteien bestehen. Das ist eine Auffangnorm. Es sollen nämlich alle vorvertraglichen Situationen, die nicht bereits von Nr. 1 oder Nr. 2 erfasst werden, erreicht werden, sofern nur die Kontaktaufnahme zwischen den Parteien das Ziel hat, irgendwie geschäftlich mit dem anderen Teil zu verkehren, ohne dass zwingend ein Vertrag am Schluss stehen soll. Entscheidend für eine rechtlich relevante Situation ist allein, dass durch diesen ähnlichen geschäftlichen Kontakt eine erhöhte Einwirkungsmöglichkeit auf die Rechtsgüter, Rechte und Interessen der jeweils anderen Partei begründet wird. Hohe Anforderungen sind an dieses Erfordernis nicht zu stellen, es genügt, wenn sich die Einwirkungsmöglichkeit überhaupt ergibt.136 Im Ganzen gilt § 311 Abs. 2 Nr. 3 hinsichtlich der ähnlichen geschäftlichen Kontakte auch dann, wenn ein Vertrag nichtig ist. Liegt also kein wirksames Schuldverhältnis zwischen den Parteien vor, weil ihre Einigung nichtig bzw. unwirksam ist (etwa wegen Sittenwidrigkeit gem. § 138), bestehen doch zwischen ihnen „ähnliche geschäftliche Kontakte“, sodass man jedenfalls ein vorvertragliches Schuldverhältnis hierin sehen muss.137 Es führt dazu, dass selbst bei einem nichtigen Vertrag zwischen den Parteien immer, jedenfalls gem. § 311 Abs. 2 Nr. 3, ein vorvertragliches Pflichtengefüge besteht, aus dem sich die sogleich noch darzustellenden Pflichten ergeben. Insbesondere muss auch bei einer nichtigen vertraglichen Vereinbarung das Integritätsinteresse des Partners beachtet und geschützt werden.

100aBesonderheiten ergeben sich bei der Haftung aus vorvertraglicher Pflichtverletzung, wenn eine der Parteien nicht (voll) geschäftsfähig ist. Die Wertungen des Gesetzes gehen in der Regel davon aus, dass der Schutz der geschäftsunfähigen bzw. beschränkt geschäftsfähigen Partei gegenüber den Interessen des Geschäftspartners Vorrang genießt.138 Dies bedeutet, dass es widersprüchlich wäre, eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung nach den §§ 104 ff. dieser Parteien weitgehend auszuschließen, sie aber dann doch rechtsgeschäftsähnlich über die culpa in contrahendo haftbar zu machen.139 Ein Geschäftsunfähiger haftet also nicht aus § 311 Abs. 2.140 Bei beschränkt Geschäftsfähigen wird eine Haftung hingegen für möglich gehalten, aber nur unter strengen Voraussetzungen. Notwendig ist dabei zunächst, dass der Minderjährige nach §§ 276 Abs. 1 S. 2, 828 Abs. 3 schuldfähig ist.141 Weiterhin muss feststehen, dass das beabsichtigte Rechtsgeschäft auch ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters im Einzelfall wirksam und damit für den Minderjährigen bindend gewesen wäre (§§ 107 Alt. 1, 110, 112, 113).142 Bei Rechtsgeschäften, für die der Minderjährige die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters bedarf (§ 107 Alt. 2), besteht analog § 179 Abs. 3 S. 2 eine Haftung, wenn der gesetzliche Vertreter mit der Aufnahme des vorvertraglichen Kontakts einverstanden war.143 Nach einer strengeren Ansicht ist es sogar notwendig, dass sich das Einverständnis auf das konkrete Rechtsgeschäft bezieht.144 Andersherum gelten diese Einschränkungen aber nicht. Auch wenn ein Vertrag nach § 105 oder § 107 nichtig ist, besteht ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit der Haftung des Geschäftsfähigen gegenüber der nicht (voll) geschäftsfähigen Partei.145

101b) Die Erweiterung in § 311 Abs. 3. Im Normalfall kommt ein vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen denjenigen zustande, die in die Vertragsverhandlungen eingestiegen sind bzw. zwischen denen ein Vertrag angebahnt werden soll oder zwischen denen ähnliche geschäftliche Kontakte bestehen. Ausnahmsweise sieht jedoch die Rechtsordnung in bestimmten Situationen vor, dass auch zwischen anderen als diesen beiden Parteien Rechtspflichten begründet werden können. Nach § 311 Abs. 3 kann nämlich ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit den entsprechenden Schutzpflichten auch denjenigen gegenüber entstehen, die gar nicht selbst Vertragspartei werden sollen.

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