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1.Die historische und systematische Einordnung

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90Die Vorstellung, dass im Vorfeld eines Vertragsschlusses zwischen den beiden sich über einen Vertrag unterhaltenden Parteien Rechtsbeziehungen bestehen, ist sehr alt. Schon kurz nach Erlass des BGB war anerkannt, dass bereits im Anbahnungsstadium eines Vertrags bestimmte Rechtspflichten zwischen den Partnern gegeben sind, man sprach von Beginn an – dies der lateinische Terminus – von der „culpa in contrahendo“ (übersetzt: Verschulden beim Verhandeln), abgekürzt wurde dies regelmäßig mit den Buchstaben „c. i. c.“. Schnell entwickelte sich diese Vorstellung zu einem allgemein anerkannten Rechtsinstitut des allgemeinen Schuldrechts. Rudolf von Ihering hatte das vorvertragliche Schuldverhältnis bereits viel früher entwickelt, nämlich schon im Jahre 1860.127 Seine Idee wurde später aufgegriffen, die „c. i. c.“ wurde durch eine Gesamtanalogie zu den §§ 122, 179, 307 a. F. begründet, also Vorschriften zum Ersatz des Vertrauensschadens. Sie war später gewohnheitsrechtlich anerkannt.128

91Das Bedürfnis für ein vorvertragliches Schuldverhältnis wird deutlich, wenn man sich eine Leitentscheidung des RG vor Augen führt: Dieses hatte zu entscheiden, ob einem Kunden eines Baumarkts ein Schadensersatzanspruch gegen den Inhaber zusteht. Er war in das Geschäft getreten und von einer Linoleumrolle verletzt worden, die der ansonsten immer sehr gewissenhafte Angestellte des Baumarktinhabers infolge einer Unachtsamkeit umgestoßen hatte.129 Das RG hatte darüber zu befinden, ob der Kunde einen Schadensersatzanspruch geltend machen kann. Ein vertraglicher Anspruch war erkennbar ausgeschlossen, denn bislang hatten der Kunde und der Warenhausinhaber noch keinen Vertrag geschlossen. Denkbar war allenfalls ein deliktischer Anspruch. Dieser wäre hier aus § 831 herzuleiten, da der Angestellte des Warenhausbesitzers als dessen Verrichtungsgehilfe im Sinne dieser Norm anzusehen ist. Dieser Anspruch führte jedoch ebenfalls nicht zum Ziel, da sich der Eigentümer des Warenhauses exkulpieren konnte, § 831 Abs. 1 Satz 2. Folglich half dem Kunden auch dieser Anspruch nicht weiter; ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 im Zusammenhang mit einem Organisationsverschulden war der damaligen Rechtssystematik nicht bekannt, sondern ist eine Entwicklung der späteren Zeit. Im Ergebnis wäre also der Kunde in dieser Fallgestaltung leer ausgegangen. Das befriedigte deshalb nicht, weil dem Kunden ersichtlich Unrecht geschehen ist. Seine Haftung gegen den Angestellten selbst, aus § 823 Abs. 1, wird möglicherweise nicht zu realisieren sein, wenn der Angestellte keine ausreichenden Mittel zur Verfügung hat.

92Das RG folgte in diesem grundlegenden Fall der von Ihering entwickelten Konstruktion der „culpa in contrahendo“: Es nahm also bereits in dieser vorvertraglichen Situation ein Schuldverhältnis zwischen dem Kunden und dem Warenhausbesitzer an. In diesem Schuldverhältnis bestehen Pflichten beider Partner, sorgsam mit den Rechtsgütern des anderen umzugehen. Wird diese Pflicht verletzt, entstehen Ersatzansprüche. Eine Verletzung kann aber nicht nur durch die beiden Partner selbst geschehen, sondern auch durch andere, sofern eine Zurechnungsnorm besteht. Hier liegt der entscheidende Punkt: Denn der Warenhausbesitzer muss sich, da es sich nun um ein bestehendes Schuldverhältnis handelt, das Verhalten seines Angestellten zurechnen lassen, da insofern § 278 (ohne Entschuldigungsmöglichkeit) greift.130 Der Angestellte ist nämlich sein Erfüllungsgehilfe bei der Beachtung der Sorgfaltspflichten, die er aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis gegenüber dem Kunden wahrzunehmen hat. Auf diese Weise fand das Reichsgericht die überzeugende Lösung für die Problematik, die zuvor skizziert worden war: Dem Kunden konnte geholfen werden, indem ihm ein vorvertraglicher Anspruch gegen den Eigentümer des Warenhauses zugebilligt wurde, die Exkulpationsmöglichkeit aus § 831 Abs. 1 Satz 2 war überwunden.

93Ob man diese Vorgehensweise billigt, die letztlich die Grundwertung des BGB überlistet (denn schließlich gab es für den Kunden durchaus einen Anspruchsgegner, nämlich den Angestellten aus § 823 Abs. 1, dieser war halt „nur“ nicht solvent), mag hier dahinstehen. Denn die Anerkennung eines solchen vorvertraglichen Schuldverhältnisses stand bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts außer Frage. Rechtsdogmatisch kann man neben der Begründung über die angesprochene Gesamtanalogie immer noch auf die grundlegende Vertrauensbeziehung rekurrieren, die zwischen denjenigen besteht, die planen, ein vertragliches Schuldverhältnis miteinander einzugehen. Weil sie darauf vertrauen, dass sie miteinander vertraglich verbunden sein werden, ist es auch berechtigt, ihnen besondere Pflichten aufzuerlegen. Schon diese Begründungsüberlegungen machen deutlich, dass in einem vorvertraglichen Schuldverhältnis nicht alle Schäden zu ersetzen sind. Zudem wird deutlich, dass man eingrenzen muss, wann man von einem solchen vorvertraglichen Schuldverhältnis ausgehen kann: Weil das Vertrauen die zentrale Basis für einen Anspruch ist, werden nur solche Schäden zu ersetzen sein, die auf dem enttäuschten Vertrauen (auf das Zustandekommen eines Vertrags) beruhen; darüber hinaus muss es bereits in eine Phase gekommen sein, in der ein solches Vertrauen auch berechtigt ist.

94Die lange Zeit gewohnheitsrechtlich anerkannte Anwendung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses wurde mit der Schuldrechtsreform im Jahre 2002 – endlich – kodifiziert. Voraussetzungen und Rechtsfolgen haben eine eigenständige gesetzliche Grundlage, nämlich in § 311 Abs. 2. Er gibt an, unter welchen Voraussetzungen ein solches Schuldverhältnis entsteht. Aus systematischer Sicht handelt es sich bei dieser Norm aber nicht um eine Anspruchsgrundlage.131 Die Anspruchsnorm für Ansprüche aus einer „c. i. c.“ findet sich vielmehr in § 280 Abs. 1; der Inhalt der entsprechenden Pflichten, die für die Parteien dieses besonderen Schuldverhältnisses bestehen, wird durch eine Verweisung auf § 241 Abs. 2 festgelegt.

Schuldrecht I - Allgemeiner Teil

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