Читать книгу Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl - Jan Quenstedt - Страница 79
1.3 Das Konzept diakonischen Handelns – Semantisch-inhaltliche Hinweise
ОглавлениеAnhand von Kapitel I.3 wurde bereits deutlich, dass eine Orientierung lediglich am Lexem διακον- und seiner Derivate zu keinem umfassenden Bild dessen führt, was als „Diakonie“ verstanden werden kann, weswegen auch die Frage nach einer biblischen Begründung und MotivationMotivation christlicher „Diakonie“ erschwert wird. Die im vorangehenden Abschnitt beschriebenen vier formalen Kriterien ermöglichen eine sinnvolle Auswahl von Quellentexten, die für den Vergleich zwischen antiken Vereinigungen und frühen christlichen Gemeinden im Blick auf diakonisches Handeln gewinnbringend sind. Für die Frage nach Wechselwirkungen zwischen dem frühen Christentum und seiner Umwelt ist nun ergänzend eine heuristische Bestimmung des Konzepts diakonischen Handelns zu entfalten. Diese ermöglicht es, die Quellentexte auf Aussagen hinsichtlich ihres Bezugs auf sozial-fürsorgliches HandelnHandeln, sozial-fürsorglich – d.h. auf ein Handel, das sich in der FürsorgeFürsorge für Menschen in einem gesellschaftlichen Kontext vollzieht – hin zu untersuchen, ohne dieses Handeln zuvor auf einen bestimmten Begriff bzw. bestimmte HandlungsvollzügeHandlungsvollzüge einzugrenzen. Somit ist die Lektüre nicht allein auf eine semantische Ebene festgelegt, sondern vielmehr auf eine inhaltliche Analyse bedacht. Diese Betrachtung inhaltlicher und semantischer Aspekte trägt dem Umstand Rechnung, dass die vorliegende Studie fernerhin „Diakonie“ nicht als einen Begriff, sondern als ein Konzept versteht, dem vielfältige Handlungsbezüge zugehörig sein können.
Für die Quellenstudie soll folgende heuristische Bestimmung des Konzepts diakonischen Handelns vorgeschlagen werden:
Das Konzept diakonischen Handelns ist als zwischenmenschliches Geschehen zu verstehen, das im besten Falle eine wechselseitige AnteilgabeAnteilgabe und -nahmeAnteilnahme an der Nächsten bzw. am Nächsten beinhaltet.1 „Diakonie“ ist demnach primär ein Konzept, das ein sozial-fürsorgliches HandelnHandeln, sozial-fürsorglich beschreibt, dessen Movens nicht in der Erlangung eines finanziellen Vorteils besteht, der über die Kompensation der aufgewendeten Mittel hinausgeht. Es ist daher im weitesten Sinne als altruistischAltruismus in Bezug auf materielle GüterGüter bzw. finanziellen Vorteil zu bezeichnen. Diakonisches Handeln vollzieht sich jeweils im Rahmen persönlicher Möglichkeiten und ist zunächst auf kein bestimmtes Handlungsfeld begrenzt. Damit ist es unterschieden von sozialen Dienstleistungen, die auf die Erlangung eines materiellen Gewinns abzielen oder durch bestimmte Gesetzmäßigkeiten motiviert oder geboten sind.
Heuristisch ist diese Definition aus mehreren Gründen zu nennen: Unklar bleiben konkrete Begründungs- und Motivationszusammenhänge für das Konzept diakonischen Handelns. Dieses Desiderat wird im Gespräch mit den Quellen eine Klärung erfahren und daran anschließend in Korrelation mit dem Neuen Testament für die vorliegende Fragestellung fruchtbar gemacht werden. In dieser Form jedoch kann das dargestellte Konzept ein breites Spektrum an HandlungsvollzügenHandlungsvollzüge abdecken.2 Inwieweit sich diese Spannbreite als vorteilhaft erweist, wird im weiteren Verlauf zu prüfen sein.
Das umschriebene Konzept diakonischen Handelns ergibt sich nicht zuletzt aus den dargestellten Annäherungsversuchen an die Thematik und die Begrifflichkeit. Darin wurde durch die Darstellung der Ausführungen von Beyer, Collins und Hentschel deutlich, dass keine Konvergenz zwischen dem griechischen Lexem διακονέω und seinen Derivaten und dem vorherrschenden Verständnis des deutschen Terminus „Diakonie“ besteht. Sowohl das griechische als auch das deutsche Lexem haben unterschiedliche Zielrichtungen und inhaltliche Füllungen. Dieser Umstand problematisiert bzw. verhindert eine biblische Begründung dessen, was gemeinhin unter dem Begriff der „Diakonie“ bzw. des diakonischen Handelns verstanden wird. Insofern ist nach anderen BegründungszusammenhängenBegründungszusammenhang zu fragen, die sich nicht in einem singulären Ausdruck erschöpfen, sondern stattdessen den Konzeptcharakter diakonischen Handelns betonen. Die heuristische Begriffsbestimmung nimmt außerdem wahr, dass das Konzept diakonischen Handelns ein konsequent zwischenmenschliches Geschehen beschreibt. Sowohl in Bezug auf das griechische Lexem, das beispielsweise nach Hentschel u.a. als „BeauftragungBeauftragung“ verstanden werden kann, als auch in der Perspektive des deutschen Terminus, der damit ein sozial-fürsorgliches HandelnHandeln, sozial-fürsorglich beschrieben wissen möchte. Insoweit trägt das vorgestellte Konzept beiden Perspektiven Rechnung, ohne eine davon zu verabsolutieren, und nimmt zugleich die etymologische Bedeutung des Begriffs auf, die mit den Bedeutungsspektren „sich beeilen“, „beschäftigt sein“ und „besorgen“ einen weiten Verständnishorizont eröffnet.3
Das Verständnis von „Diakonie“ als ein Konzept von Handlungen, das auf keinen finanziellen Vorteil bedacht ist, erfordert eine genauere Erläuterung. In drastischer Weise hatte Beyer diakonisches Handeln im Anschluss an Mk 10,45Mk 10,45 als „Vollzug eines ganzen OpfersOpfer, als Hingabe des LebensLebenshingabe“4 charakterisiert. In dieser Perspektive ist für diakonisches Handeln nicht nur kein Lohn zu erwarten, sondern vielmehr ist „Diakonie“ als ein Handeln beschrieben, das zur SelbstaufgabeSelbstaufgabe, zu einem die eigenen Kräfte übersteigenden Unterfangen wird und gleichsam einen LebenswandelLebenswandel bzw. -stil beschreibt, der mit einem niedrigen sozialen Status verbunden ist. Demgegenüber stehen die Beiträge von Collins und Hentschel, die unter der Beschreibung des griechischen Lexems mit „go-between“ und „BeauftragungBeauftragung“ einen Aspekt herausgearbeitet haben, der sich sowohl mit der Erlangung eines Gehaltes als auch mit einem höheren Status verbinden lässt und der streng genommen ebenso mit AutoritätAutorität verbunden sein könnte.
Die hier vorgetragene Definition bewegt sich vor dem Hintergrund der drei Forschungsperspektiven in einem Zwischenraum. Allgemein plausibel ist, dass eine dauerhafte bzw. wiederholte Hinwendung zum Nächsten nur gelingen kann, wenn die eigenen Bedürfnisse bzw. der eigene Lebensunterhalt gesichert sind. Demgemäß spricht das Konzept diakonischen Handelns nicht von der Erlangung eines finanziellen Vorteils in der Ausführung einer Handlung, die diesem Konzept zuzuordnen ist, schließt aber ebenso die Erstattung der eingesetzten (finanziellen) Mittel nicht aus.5 Keine Relevanz für die Definition besitzen Leistungen, die im Anschluss an die erbrachte bzw. in Anspruch genommene „Diakonie“ zwischen den beteiligten Personen ausgetauscht werden. Durch diese Grenzziehung wird deutlich, dass sich das Konzept diakonischen Handelns zunächst nur im Rahmen persönlicher Möglichkeiten vollziehen kann, da es keinen Gewinn an Finanz- bzw. Sachmitteln verspricht. Es ist insofern auch nicht auf materielle ReziprozitätReziprozität ausgelegt. Damit ist auch die oben angesprochene Wechselseitigkeit nicht im Sinne einer ReziprozitätReziprozität zu verstehen, sondern liegt in der basalen Annahme begründet, dass sich die Hinwendung zur Nächsten bzw. zum Nächsten nur vollziehen kann, sofern ein Einverständnis zwischen der Hilfeempfängerin bzw. dem Hilfeempfänger und der Helferin bzw. dem Helfer besteht. Anders ausgedrückt muss die Hilfeempfängerin bzw. der Hilfeempfänger die Helferin bzw. den Helfer Anteil haben lassen an ihrer bzw. seiner Situation unter der Perspektive einer möglichen Veränderung dieser Situation aus der AnteilnahmeAnteilnahme ihres bzw. seines Helfenden heraus. Ein dem Konzept diakonischen Handelns nachfolgender Erweis der Dankbarkeit, der sich im gängigen Rahmen geltender gesellschaftlicher Konventionen verortet und in einem sinnvollen Verhältnis zum erbrachten Hilfehandeln steht, ist in diesem Zusammenhang freibleibend.6 Vielmehr zeigt das Wechselspiel von Hilfeleistung und Ausdrücken der Dankbarkeit die gesellschaftliche Verortung und Akzeptanz des Konzepts diakonischen Handelns auf. Zugleich versteht sich dieses Konzept auch nicht als eine Erfüllung vorgegebener Konventionen, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaftsschicht ergeben, z.B. durch die Mitgliedschaft in einer Vereinigung und deren finanziellen Verpflichtungen oder aber aufgrund familiärer Beziehungen.
Die Definition bestimmt das Konzept diakonischen Handelns als einen Vollzug, der altruistischAltruismus genannt werden kann. Der Begriff des AltruismusAltruismus geht auf Auguste Comte (1798–1857) zurück und ist in seiner gegenwärtigen Bestimmung und seinem Verständnis umstritten, wie sich u.a. anhand verschiedener Erschließungsmöglichkeiten bzw. Analyseebenen der Begrifflichkeit zeigen lässt.7 Allgemein gesprochen stellt sich AltruismusAltruismus zunächst als ein Antonym zum Begriff des EgoismusEgoismus dar. Egoistisches Handeln hat das eigene Wohlergehen und Befinden, auch auf Kosten anderer, im Blick, während der Altruist von sich absieht und seine Kraft und eventuell auch seine materiellen Möglichkeiten uneigennützig für einen Anderen einsetzt.8 Allerdings stellen sich die Verbindungen und Gegensätze differenzierter dar als es die Gegenüberstellung beider Begriffe nahelegt. So kann der EgoismusEgoismus durchaus zum Motivator altruistischenAltruismus Handelns werden, wenn sein Ziel allein in der Steigerung des SelbstwertgefühlsSelbstwertgefühl des aus EgoismusEgoismus altruistischAltruismus Handelnden oder in der Verpflichtung anderer für die eigene Sache besteht.9
Die Ausführungen zur Begrifflichkeit des AltruismusAltruismus fokussieren sich in dieser Arbeit insgesamt auf sozialpsychologische Perspektiven.10 Aus evolutionstheoretischer Perspektive lassen sich darüber hinaus einige Formen des AltruismusAltruismus durch Verwandtschaftsverhältnisse bzw. Verwandtenselektion erklären.11 Diese Erklärungsversuche sind für die vorliegende Studie jedoch nur bedingt plausibel, weil das als „Diakonie“ bezeichnete Handeln nicht auf Gruppen von Verwandten bezogen ist, sondern auf ein Verhalten abzielt, das die Grenzen dieser Gruppe überschreitet. Der Begriff der Nächsten bzw. des Nächsten ist, wie bereits erwähnt, demgemäß in einem weiten Sinne zu verstehen und beschreibt keine verwandtschaftlichen Verhältnisse zwischen den Akteuren. Also fällt die Erfüllung familiärer Verpflichtungen nicht unter das Konzept diakonischen Handelns. Die hier beschriebene „Diakonie“ vollzieht sich vor diesem Hintergrund primär afamiliär. Auch der Gedanke eines reziproken AltruismusAltruismus erscheint in der Perspektive der Begriffsbestimmung nicht weiterführend, da diakonisches Handeln innerhalb dieser Definition nicht daraufhin ausgelegt ist, ihrerseits ein altruistisches Verhalten zu erwarten bzw. sich von dieser ErwartungshaltungErwartungshaltung her motiviert.12
Unter AltruismusAltruismus ist differenzierter gesprochen ein Verhalten zu verstehen, das „weder einen materiellen noch einen psychologischen Nutzen aus seiner Hilfeleistung gegenüber dem Hilfeempfänger erfährt.“13 Dieses empathische Verhalten zielt darauf ab „die Situation des Hilfeempfängers zu verbessern, der Handelnde zieht [dabei, JQ] seine MotivationMotivation nicht aus der Erfüllung beruflicher Verpflichtungen und der Empfänger ist eine Person und keine Organisation.“14 Der Gebrauch des AltruismusAltruismus-Begriffs korreliert mit der Bestimmung des Konzepts diakonischen Handelns als ein solches, das auf keinen finanziellen Vorteil bedacht ist.15 Weiterhin ist altruistisches Handeln zwar als ein prosoziales Verhalten zu verstehen, hebt sich jedoch von diesem durch ein nicht egoistisch motiviertes Handeln ab, da es primär keinen persönlichen Vorteil zu erlangen versucht.16 Offen bleiben in dieser Bestimmung die Beweggründe für diese Art Handeln, für die es je nach Analyseebene eine Vielzahl an Theorien und Erklärungsversuchen gibt, die jeweils situativ bedingt sein können.17 Die Verwendung des AltruismusAltruismus-Begriffs impliziert letztlich die Entscheidung für eine säkular geprägte Terminologie im Gegensatz zu einer Bezeichnung mit dem religiös geprägten Terminus der NächstenliebeNächstenliebe, womit allerdings nicht ausgesagt wird, dass beide Begriffe inhaltlich in eins fallen.18 Diese Entscheidung soll eine möglichst objektive Sichtung und Untersuchung der Quellen ermöglichen, ohne von vornherein auf religiös konnotierte Quellen festgelegt zu sein.19 Mit anderen Worten: „Das Leitwort des AltruismusAltruismus bietet die große Chance, in den gegenwärtigen Wissenschaften ein Gespräch zwischen Biologie und Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Theologie anzustoßen, bei dem es um EthikEthik, aber nicht nur um Moral geht, sondern auch um Menschenbilder und Lebensentwürfe, um das Verhältnis zu anderen Geschöpfen, um Sozialformen und Gesellschaftsentwürfe, um Handlungsoptionen und Leiderfahrungen, um Anerkennung und BarmherzigkeitBarmherzigkeit.“20