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1.4.4 Strukturen

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Für die sozialgeschichtliche Untersuchung antiker Vereinigungen ist die Frage nach den strukturellen gesellschaftlichen Gegebenheiten von besonderer Bedeutung. Dabei ist wahrzunehmen, dass sich das gesellschaftliche Gefüge der römischen Kaiserzeit einigermaßen komplex darstellt und en détail weit ausdifferenziert ist, sodass sich für diese Epoche ein vielgestaltiges Bild ergibt, dass die Gewinnung exakter Beschreibungen und Aussagen erschwert.1 Zur Bestimmung des gesellschaftlichen Standorts eines Bewohners des Imperium Romanum sind eine Vielzahl an Parametern von Bedeutung, die regional variieren konnten, und die in der Summe jede Person innerhalb des sozialen Gesamtgefüges verorteten. Anhand der folgenden Überlegungen wird aber auch deutlich werden, dass es sich bei den dargestellten Strukturen nicht um ein erstarrtes Konstrukt handelte, sondern dass die römische Gesellschaft trotz aller Reglementierungen und Konventionen auch Flexibilität aufwies. So gab es mannigfaltige Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs und Interferenzen, die eine gesellschaftliche MobilitätMobilität ermöglichten und illustrieren.2

Am Bild einer Pyramide orientiert, ergibt sich für das Imperium Romanum zunächst eine ungleichmäßige Zweiteilung der Gesellschaft in zahlenmäßig geringe, die Spitze der Pyramide bildende Oberschichten (honestiores)3 und in starke, den unteren Teil der Pyramide bildende Unterschichten (humiliores).4 Zur ersten Gruppe sind die ordines der Senatoren, Ritter, vermögende Freigelassene und Dekurionen zu zählen, aus deren Reihen sich eine Führungsschicht im engeren Sinne rekrutierte, deren Umfang noch einmal bedeutend kleiner war.5

Bestimmt wurde der gesellschaftliche Standort einer jeden Person zunächst von einer geographischen Komponente: Handelte es sich um einen Angehörigen der Land- (plebs rustica) oder Stadtbevölkerung (plebs urbana)?6 Je nachdem unterschieden sich Lebensstandard und Aufstiegsmöglichkeiten, Kultur und Tradition, Beruf und Lebensart. Auch die regionale Herkunft war für die soziale Schichtung bedeutsam. Sodann ist ferner die soziale Abstammung von Bedeutung: Soziale Positionen konnten zumeist vererbt werden, sodass die Nachkommen von honestiores ebenfalls die soziale Stellung der Vorfahren einnehmen konnten.7 Neben dem Faktor der Abstammung ist die Rechtsstellung ebenfalls ein primäres Kriterium der Einordnung innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge. Zu unterscheiden ist näherhin zwischen römischen Bürgern, Freigelassenen und Unfreien. Innerhalb dieser rechtlichen Kategorien war ein gesellschaftlicher Aufstieg beispielsweise im Falle eines Sklaven durch Freilassung möglich. Geburt bzw. Herkunft und Freilassung sind dabei lediglich zwei Faktoren, die für die soziale Standortbestimmung ebenfalls relevant sind.8 Auch der Umfang des persönlichen Vermögens ist für die Verortung einer Person innerhalb der kaiserzeitlichen GesellschaftsordnungGesellschaftsordnung nicht zu unterschätzen.9 Die genannten Kriterien sind jedoch nicht exklusiv zu verstehen. Vielmehr ergab sich die soziale Stellung einer Person aus der Summe der genannten Einzelkriterien.

Ungleich schwerer in dieses Gefüge einzuordnen sind persönliche Voraussetzungen und Begabungen: „Rein persönliche Fähigkeiten und Leistungen, Geschick, Bildung, politische Verdienste waren nichtsdestoweniger wichtig, auch wenn ihrer Auswirkung auf die Bestimmung der sozialen Position unverkennbare Grenzen gesetzt waren und sie eher nur in Ausnahmefällen zu glänzenden Karrieren führen konnten.“10 Somit konnten sie zwar eine gewisse modifizierende Auswirkung auf die soziale Stellung haben, allerdings nicht die gesellschaftlichen Gegebenheiten außer Kraft setzen. Lediglich für den militärischen Bereich ist ein größerer Einfluss persönlicher Fähigkeiten anzunehmen, der jedoch zugleich den Faktor der Herkunft bzw. Abstammung nicht obsolet erscheinen ließ. „Diese Ambivalenz war für die römische GesellschaftsordnungGesellschaftsordnung höchst charakteristisch: Sie beharrte einerseits auf dem aristokratischen Prinzip des Vorranges der adligen Geburt und überhaupt der Bestimmung der sozialen Position durch Herkunft, zugleich bot sie jedoch auch einen Spielraum für persönliche Qualitäten und Ambitionen.“11

Anhand der Zusammenschau aller Kriterien zeigt sich, dass die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit in verschiedene Stände und Schichten eingeteilt war. Fraglich bleibt dabei aber deren innere Homogenität. So ist zu erwägen, dass unter den Unfreien Menschen mit höherer Bildung zu finden sind, die u.a. als Arzt praktizierten.12 Zugleich erfüllte nicht jedes Mitglied des Ritterstandes qua Geburt die Anforderungen, die der Militärdienst an ihn stellte. Daher ist von einer facettenreichen GesellschaftsordnungGesellschaftsordnung auszugehen, die durch die Gliederung in Schichten bzw. Statusgruppen nur schwerlich abgebildet werden kann. Das entstehende und sich ausbreitende Christentum hatte sich innerhalb dieser komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge einzuordnen.

Für die vorliegende Studie ist von Bedeutung, dass sich innerhalb der aufgezeigten Gesellschaftsstruktur weitere Gruppen etablierten, die ihrerseits eigene OrganisationsformenOrganisationsform und Gemeinschaftsgefüge zu schaffen in der Lage waren und zu einer Diversität der Gesellschaft beitrugen. Konkret zu benennen sind die sich primär innerhalb der Unterschichten bildenden Vereinigungen. Dazu gehören u.a. KultvereinigungenKultvereinigung, Berufsverbände, sogenannte collegiaCollegia, oder aber auch BegräbnisvereinigungenBegräbnisvereinigung.13 Bedeutsam ist an ihnen die Schaffung von Parallelstrukturen, indem sie gesellschaftliche Gegebenheiten und HierarchienHierarchie nachahmten. Diese NachahmungNachahmung zog nach sich, dass sich innerhalb ihrer OrganisationsformOrganisationsform genuine (und gesamtgesellschaftlich gesehen fiktive) Aufstiegsmöglichkeiten etablierten. Neben diesen Gruppen etablierten sich auch die frühen christlichen Gemeinden. Weil Vereinigungen und Gemeinden nebeneinander in einem gemeinsamen sozialen Bezugssystem existierten, müssen Berührungspunkte zwischen diesen beiden angenommen werden. Deswegen verdient das soziale Gefüge antiker Vereinigungen Beachtung, weil ihre Organisation und ihre HandlungsvollzügeHandlungsvollzüge als VorbildVorbild für das sozial-fürsorgliche Handeln der christlichen Gemeinden gedient haben könnten. Aus diesem Grund bietet eine Untersuchung antiker Vereinigungen wichtige Erkenntnisse für die Genese und Bedeutung des Konzeptes diakonischen Handelns in seinem sozialgeschichtlichen Kontext.

Aus den dargestellten sozialgeschichtlichen Aspekten wird deutlich, dass die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit ein komplexes Gebilde darstellt, dem dennoch eine gewisse Flexibilität zu Eigen ist. Zeitgenössische Quellen illustrieren, dass eine vertikale und horizontale MobilitätMobilität gegeben war und Ausnahmefälle die Regeln der römischen Gesellschaft bestätigten. So sahen die gesellschaftlichen Konventionen einen sozialen Aufstieg, z.B. durch die Freilassung von Sklavinnen und Sklaven, regelmäßig vor. Gesellschaftliche MobilitätMobilität im weiteren Sinne ergab sich auch durch das engmaschige Netz von Straßen und Handelswegen, die einen kulturellen und gesellschaftlichen Austausch ermöglichten und zu kulturellen Transformationsprozessen beitrugen. Ein weitgehend einheitlicher Sprachraum trug dazu bei, dass sich gesellschaftliche Phänomene und religiöse Entwicklungen im Reich verbreiten und an Einfluss gewinnen konnten. Für die vorliegende Studie bedeutet das, dass die Auseinandersetzung mit Vereinigungen nicht auf die Orte beschränkt bleiben muss, für die die Existenz von VereinigungsinschriftenVereinigungsinschrift und christlichen Gemeinden gleichermaßen erwiesen ist. Vielmehr haben die Überlegungen gezeigt, dass das Wissen um soziale Phänomene keine lokale Beschränkung besitzt und deswegen christliche Gemeinden zu Vereinigungen in Beziehung gesetzt werden können, auch wenn sie nicht an einem gemeinsamen Ort lokalisiert sind.

Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl

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