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Entstehung deutscher Ultragruppen

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Seit Anfang der 1990er Jahre nahm die Bedeutung der Fanklubs, in denen zumeist Kuttenfans organisiert waren, in Deutschland rapide ab.57 Mit der Abwendung von den Kuttenfans, „die sich alles gefallen ließen“, aber auch strikt distanziert von den gewalttätigen Hooligans, entstand zunächst eine Mischform zwischen britischem, deutschem und italienischem Fanstil. Es entstanden die sogenanten Supporter. Diese Fanform, so viel darf man vorwegnehmen, wandelte sich jedoch nach und nach in Richtung Ultrastil, da der Stil der italienischen Ultrakultur, gerade für heranwachsende Fans, wie oben beschrieben, wesentlich mehr Orientierungspunkte und Identifikationsmöglichkeiten lieferte als der englische. Dennoch existierten zunächst supporter- und ultraorientierte Fangruppen nebeneinander, denn nicht alle Fans waren sofort von der neuen Fangruppierung, in der zumeist viele junge Menschen organisiert waren, und ihrer eigenwilligen Anfeuerungsart überzeugt. So mussten sich die Ultras Akzeptanz innerhalb der Szene erst erarbeiten.

Dies war aber gerade bei den traditionellen Kuttenfans problematisch: „Viele meiner Freunde fahren schon ewig auf Schalke. Die müssen sich nicht von den Jungen erzählen lassen, wie man den Verein unterstützt“, wird dementsprechend ein traditioneller Schalke-Fan im 11Freunde-Magazin zitiert.58 Im Gegensatz zu den Supportern war zudem die Kenntnis über die Ultrakultur bei traditionellen Fans äußerst gering: „(…) betttuchgroße Fahnen ins Stadion schleppen oder gemeinsam fluchtartig durchs Geviert zu 40 hüpfen, weil es beeindruckend aussieht, wenn das viele Fans gleichzeitig machen? Die Skepsis war groß“.59 Ebenso in der öffentlichen Wahrnehmung, denn die Ultragruppen wurden aufgrund mangelnder Kenntnis, unterstützt durch undifferenzierte Medienberichterstattung, schnell mit den gewaltbereiten Ultras aus Italien gleichgesetzt.

Im weiteren Verlauf orientierten sich immer mehr Gruppen an den Vorbildern aus Italien und passten sich dementsprechend an. Dies geschah jedoch nicht eins zu eins oder als bloße Kopie, sondern mit bedeutenden Veränderungen. So spielten zu Beginn der Verzicht auf das Politische und besonders das Thema Gewalt eine eher untergeordnete Rolle für diese neue, heranwachsende deutsche Fankultur. Der relevanteste Faktor bei der deutsch-italienischen Fankulturadaption ist die Tatsache, dass die Fans lernten, nicht alle Entscheidungen der Verbände oder Vereine hinzunehmen, sondern begriffen, dass sie ein aktiver Teil des Gesamtkonstrukts Fußball sind bzw. sein können. Von dieser neu entdeckten Möglichkeit wurde auch gleich Gebrauch gemacht, um gegen die beschleunigte Kommerzialisierung und Eventisierung des deutschen Fußballs zu protestieren. Es war die Zeit des Pay-TV und der Einführung der Champions League, die Zeit, in der Traditionen gebrochen wurden und Spieltage möglichst gewinnbringend auseinandergezerrt und sogar Stadionnamen an Sponsoren verkauft wurden. Die gerade genannten Entwicklungen und Tendenzen ließen den Fan nicht unberührt, und einige begannen, die Geschehnisse rund um den Fußball kritisch zu hinterfragen. Ausgangspunkt der Entstehung einer kritischen Fanszene war der FC St. Pauli. Im Zuge der oben erwähnten stadionbaulichen Veränderungen protestierten die Fans des Vereins gegen die Pläne für ein neues Stadion. Ein Neu- oder Umbau des Stadions hätte einen erheblichen Eingriff in die Struktur des Stadtteils bedeutet und widersprach so den Wünschen der Fans. Der Protest hatte Erfolg. Es folgten Kampagnen gegen Rassismus, der in der deutschen Fußballlandschaft in den 1980er Jahren zu einem immer größeren Problem wurde. Der FC St. Pauli wurde zum Symbol und Vorbild und bewies, dass es durchaus möglich war, sich gegen kommerzielle Interessen zur Wehr zu setzen.60

Der Grund, dass sich die ultraorientierten Gruppen mit der Zeit schließlich durchsetzten, liegt in der Tatsache begründet, dass sich die älteren Kutten und Supporter nach und nach aus der aktiven Fanszene zurückzogen und die nachkommende junge Generation, wie eben mehrfach skizziert, von Natur aus eher ultraorientiert war und es noch immer ist.

Doch zunächst: Eine der ersten ultraähnlichen Gruppen in Deutschland waren 1986 die „Fortuna Eagles“ rund um den Verein Fortuna Köln und etwas später, 1989, die „Soccer Boyz“ (heute: „Mad Boyz“) aus Leverkusen. Der große Aufschwung mit rapide steigenden Mitgliederzahlen, mit ausgelöst und gefördert durch das „Sprachrohr“ Internet, kam dann noch vor der Jahrtausendwende. So gründeten sich 1997 zum Beispiel die Gruppe „Eastside Bremen“ (SV Werder Bremen), die „Wilde Horde Köln“ (1. FC Köln) und 1998 unter anderem die „Harlekins Berlin“ (Hertha BSC) oder die „Generation Luzifer“ (1. FC Kaiserslautern). Die Gruppen wuchsen stetig, und erste Soziologen sprachen von einer neuen Bewegung, Jugendkultur oder Szene.61 Mit dem Wachstum der Gruppen wurden auch ihre Motive deutlicher. Ziemlich schnell und durch die klare Artikulation auf Bannern und Doppelhaltern konnten drei bzw. vier Hauptadressaten der neuen Demonstrations- und Protestbewegung in und um deutsche Stadien ausgemacht werden. Dies sind die Medien, die Polizei und die Verbände DFB/DFL (national) bzw. FIFA/UEFA (international). Als Viertes können hier die gegnerischen Ultragruppen genannt werden. Alle Adressaten fungieren in der Szene als mehr oder minder ausgeprägte Feindbilder.62

Im Jahr 2000 war die Ultrabewegung in fast allen Stadien angekommen. In der obersten deutschen Spielklasse verfügte nun fast jeder Verein über eine ultraorientierte Anhängerschaft, da in diesem Zeitraum ebenfalls noch die „Natural Born Ultras“ aus Freiburg, die „Suptras Rostock“ oder die „Ultras Hannover“ entstanden. Dieses Niveau konnte über die Jahre bis heute gehalten werden, wobei nicht übersehen werden darf, dass sich ebenfalls in hierarchisch tieferen Spielklassen bedeutende Gruppen, die sich selbst als Ultras verstehen, entstanden sind und auch heute noch aktiv sind. Zu diesem Zeitpunkt konnte man eine für Fanforscher interessante Entdeckung machen. Anders als bei den Gründungsmitgliedern sämtlicher Ultragruppen oder Mitgliedern von Fanklubs oder Kutten konnte die nachwachsende, neue Generation des (Ultra-)Fans nicht die normale, bis dato übliche Fankarriere nachweisen. Immer mehr Jugendliche schlossen sich relativ schnell und ohne vorherige Fanleidenschaft den wachstumsbestrebten Ultragruppierungen an, ja sogar die Ultragruppen selbst wurden zum Grund des Stadionbesuchs.

Trotz verstärkter Aufmerksamkeit in den Medien und dem wachsenden (sozial-)wissenschaftlichen Interesse an dieser neu entstandenen Fan- und Jugendkultur war und ist es nach wie vor schwer, eine genaue Gruppenanzahl für Deutschland zu nennen, da sich ständig neue Gruppen bilden oder sich andere zusammenschließen. Zu Zeiten meiner ersten Recherchen 2007 gab es in Bielefeld keine Ultragruppe, jedoch waren es beim FC Bayern München zum gleichen Zeitpunkt gleich fünf Gruppen. Die größte Ultragruppierung Deutschlands befand sich 2001 in Frankfurt mit ca. 600 Mitgliedern.63 Heute kann man neben den Frankfurter Ultras, nach wirklich sehr vorsichtigen Schätzungen, da keine Gruppe genaue Zahlen nennt und man ebenfalls zwischen aktiven und eher passiven Mitgliedern unterscheiden muss, die Gruppe „Schickeria München“ um den FC Bayern München, „The Unity“ (Borussia Dortmund), die Gruppe „Commando Cannstatt“ (VfB Stuttgart) und die Dresdener Ultras nennen. Jedoch sind genau die zuletzt Genannten, nach den Vorkommnissen im DFB-Pokalspiel bei Borussia Dortmund vom 25.10.2011, ein gutes Beispiel für die Vermischung von gewaltbereiten Fans, Hooligans oder Ultras im Sinne ihrer eigentlichen Definition und lässt erahnen, wie schwierig die sozialwissenschaftliche Separierung der Fanszene sein kann. Erschwerend kommt hinzu, dass es im Osten Deutschlands eine ganz andere Ultraszene als in den alten Bundesländern gibt. Dort existiert, wie gerade am Beispiel gezeigt, mitunter eine Mischform hinein in die Hooliganszene.64

Ultras im Abseits?

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