Читать книгу Coyote - Jens-Uwe Sommerschuh - Страница 16

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Als ich wieder auf dem Dach war und in die frühe Abendsonne blinzelte, fühlte ich mich um Längen besser. Ich winkte dem lieben Gott zu für den Fall, dass er mich belauscht hatte.

»Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte«, sagte ich laut. »Matthäus fünf fünfundvierzig«. Was der Evangelist an der Stelle noch gesagt hatte, ließ ich lieber stecken: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen. Das nun nicht. Niemand war vollkommen, ich machte da keine Ausnahme. Meine Feinde sollte der Teufel holen.

Ich spähte über die Dachkante auf die Stockton Street hinunter, aber ob Signore Morbo oder sonst wer mir auf dieser chinesischen Ameisenstraße auflauerte, war von hier oben nicht auszumachen. Ich kletterte auf das Nachbardach. Die Pacific Street lag ruhiger. Beim Abstieg musste ich die letzten drei Meter springen. Eine chinesische Omi, so winzig wie alt, der ich vor die Füße fiel, riss den Mund auf.

»Vom Himmel hoch, da komm ich her«, sagte ich, schnitt eine Rambo-Grimasse und klopfte mir den Staub von den Knien. Gloßmüttelchen verstand mich nicht und sah zu, dass es um die Ecke kam.

Niemand schien sich für mich zu interessieren, keine Sonnenbrille weit und breit. Ich passierte eine Sackgasse, eine Ampelkreuzung, grün, dann die Beckett Street, zwei Sekunden Warten auf Godot, noch hundert Schritte, hoffentlich hatte ich Linnet nicht verpasst.

Die Brewing Company war gestopft voll. Die Leute nahmen die letzten zehn Minuten der Happy Hour kampferprobt mit. Wer jetzt seinen Pegel noch nicht hatte, würde in Kürze das Doppelte zahlen müssen, ihn zu erreichen. Echte Biertrinker sind nur selten so blöd, wie manche Abstinenzler aussehen. »Na, ein Alcatraz?«, wisperte eine fröhliche Stimme hinter meinem Rücken. Ich fuhr herum.

»Hey, kannst du Gedanken lesen?«, fragte ich.

Sie hielt vor dem Bauch ein Tablett, auf dem sich Pintgläser voller Bier in allen Bierfarben drängten, schwarzer, roter, gelber Bruder, gib uns die Hand, die Palette war schwer, und die Gemeinde wartete, während Linnet mich hier, mitten im Akkordtrinken, nach meinen Wünschen fragte. Ich war gerührt.

»Na ja, das ist nun mal kein Milchladen«, kicherte sie. Woher nahm sie am Ende ihrer Schicht diese blendende Laune?

Mit Schwung verfrachtete sie das Tablett auf den nächsten Tisch und reichte mir ein Alcatraz.

»Mönsch«, maulte einer, der leer ausging, »der ist doch grad erst gekommen.«

»Genau«, sagte Linnet leichthin, »das ist der kleine Unterschied. Die einen kommen grad, und die andern sind immer schon da.«

Ich trank im Stehen. Aus den Boxen drang Chris Isaaks Things go wrong, und vorn am Piano, gleich neben dem Eingang, packten zwei ältere schwarze Musiker ihre Instrumente aus, Saxofon und Kontrabass, während der Dritte, ein Weißer, mit langem Finger auf dem Klavierdeckel Staub wischte, wahrscheinlich der Pianist. Es war hier üblich, dass sich gegen Abend Musiker einstellten und irgendwann loslegten. Nie wurde Eintritt genommen. Stattdessen ging ab und zu jemand mit dem Hut rum, und vornehmere Bands stellten einen Pitcher aufs Klavier, einen Bierkrug, in den jeder, der ging, seine diamantenbesetzte Uhr, Microsoft-Aktien, einen Hunni oder eine Münze werfen konnte. Die meisten gaben nichts, denn sie hatten die Musik ja nicht bestellt, aber ich hatte Pianisten erlebt, die sich trotzdem bedankten, vielleicht fürs Gehen. Der Obolus der Kneipe bestand aus Freigetränken, ein guter Grund für clevere Musiker, schon lange vor dem Gig aufzukreuzen.

Forever blue, sang Mr. Isaak, die Tresenuhr zeigte halb sieben, draußen in der Columbus Avenue hatte das späte Nachmittagslicht sich milchig eingetrübt. Der Nebel kam.

Plötzlich stand Linnet erneut vor mir. Sie hatte das schwarze T-Shirt unter ihrer Latzhose gegen was Helleres und Zarteres getauscht.

»Goodbye und Amen«, sagte sie, »ich mach mich vom Acker.«

Ich grinste doof. Wenn ich jetzt nicht achtgab, würde dieses Grinsen für immer bleiben, und ich würde als Vertreter für Rührgeräte enden.

»Schon was vor«, krächzte ich, und es gelang mir nicht mal, das wie eine Frage klingen zu lassen.

»Mhm«, machte sie, »Johnny Depps Einladung zum Abendessen habe ich ausgeschlagen, weil ich zu Bill Gates nach Sausalito rüber will. Seine Maus ist krank. Mein Verlobter ist allerdings dagegen. Der meint, das mit der Maus sei eine Finte, es könne sein, Bill Gates wolle mir an die Software, und ich solle mich nicht unnötig in Gefahr begeben. Drum habe ich beschlossen … Äh, hast du nicht eine Idee?«


Zehn Minuten später fuhren wir in Linnets kleinem blauen Mercury an der Bay entlang, die jetzt in dickem Nebel lag. Wir kamen nur langsam voran, und das war auch nicht schlimm, denn wir wollten nicht heim zur Serie, unser Film würde auf uns warten, und wer die Hauptrolle hatte, würde sich zeigen. Ich kannte das Drehbuch nicht.

Sie hatte Otis Redding eingelegt, Sittin’ on the Dock of the Bay, und wir schwiegen dazu. Das Ende des Liedes pfiff sie leise mit. Ich zog den Chronicle aus der Jacke. Angesichts dieser Waschküche würden wir kaum Stunden auf der Golden Gate Bridge verbringen, aber mit ein wenig Glück fand sich der definitive Konzerttipp. Ich schlug die Zeitung auf und hatte wieder die Seite von heute Mittag vor mir. Der Name sprang mir entgegen, noch bevor ich ihn las. Manchmal wusste ich auf den ersten Blick, dass in all dem Kleingedruckten etwas Bekanntes verborgen war, ein vertrauter Begriff oder ein Name, der mir etwas bedeutete, ich brauchte nur noch zu suchen.

»Edith Jeanne LaFleur«, sagte ich halblaut, mehr so für mich, um dem Klang nachzulauschen und der Botschaft, die der Name zu bergen schien. Ich hatte den Nachnamen dieser alten Dame schon mal gesehen, ich war mir da plötzlich ganz sicher. Ja, gesehen. Und mir war, als wäre das schon lange her.

Linnet sah rüber, ihr Blick war hellwach.

»Kennst du Edith Jeanne LaFleur?«, fragte ich sie.

»Ja«, erwiderte sie zögernd, »klar. Die Geschichte ist gut ein Jahr her. Steht wieder was über sie in der Zeitung?«

»Dass sie gestorben ist. Mit neunzig Jahren und einem sehr schönen Lächeln.«

»Mehr steht da nicht?« In Linnets Stimme kratzte ungläubiges Staunen.

Sie bremste spät, die Rücklichter vor uns starrten uns groß und rot an. Hinter uns hatte es auch gequietscht. Wir standen, und wenn das der Rückstau von der Brücke war, die noch gut anderthalb Meilen entfernt sein musste, konnte es dauern.

»Sie taucht nur in den Spalten mit den Kurznachrufen auf. Nicht mehr als drei Zeilen. Immer ein sehr schönes Lächeln, trotz eines turbulenten Lebens bis ins hohe Alter. Morgen wird sie beigesetzt. Keine Geschichte ansonsten.«

»Soviel ich weiß, stammte sie aus Europa, aus Frankreich wohl, und ihr Mann hatte vor Jahrzehnten Millionen gemacht, ich glaube, aus Spekulationen mit Baugrundstücken, auf denen dann Öl angebaut und nach Baumwolle gebohrt wurde oder so. Ist auch egal.« Linnet wiegte den Kopf, als wolle sie die Erinnerung zurechtschaukeln. »Jedenfalls saß sie, nachdem der Mann in den Siebzigerjahren gestorben war, auf einem Riesenhaufen Geld. Sie soll Anfang der Achtziger noch einiges in eine Computerfirma unten in San Jose gesteckt haben, und Geld in dieser Branche heckt wie die Mäuse. Aber wo es Mäuse gibt, sind oft die Katzen nicht weit, die Raubkatzen, um genau zu sein. Letztes Jahr im Sommer überraschte Mrs. LaFleur einen Einbrecher, der sich an ihrem Safe zu schaffen machte, und ging mit dem Krückstock auf ihn los. Der Stock stammte von ihrem Mann, der seit dem Krieg ein Holzbein gehabt hatte. Er war mitsamt Holzbein bestattet worden, den Stock aber hatte die Witwe LaFleur behalten, sicher in der Annahme, dass es im Himmel viel schönere Krücken gibt, und sie tat gut daran. Der Einbrecher schoss auf sie, traf sie aber wohl nicht richtig. Sie fand noch Kraft und Muße, ihm den Schädel einzuschlagen, sie erwischte ihn mit dem Metallknauf an der Schläfe. Zack und knacks, ein Gangster weniger. Der muss sie völlig unterschätzt haben, denn es stellte sich heraus, dass er ein Auftragskiller war, der offenbar über das Honorar hinaus auf eigene Rechnung einsacken wollte. Komische Profis gibt’s. Kurios war auch, dass die Haushälterin von Mrs. LaFleur, die an dem Abend frei hatte, nicht wiederkam. Und genauso verschwunden blieb der Schmuck der alten Dame, der im Safe gelegen hatte. Hinter der ganzen verzwickten Geschichte, die in ihren Einzelheiten nie aufgeklärt wurde, soll ihr Sohn gesteckt haben, der nicht länger aufs Erbe warten wollte. Er hat bis zuletzt geleugnet, aber die Indizien reichten offenbar. Jetzt sitzt er in San Quentin. Die alte Mrs. LaFleur, die relativ rasch von der Verletzung genas, war kurioserweiser von seiner Unschuld überzeugt und hat ihn nicht enterbt. Wenn der mit achtzig oder so rauskommen sollte, ist er einer der reichsten Ex-Sträflinge der Vereinigten Staaten.«

»Du spinnst«, sagte ich, »das hast du dir eben ausgedacht.«

Hinter uns hupte es. Die roten Lichter vor uns waren weg. Sie schob den Knüppel der Automatik auf Drive und gab Gas. Mit auf- und abschwellendem Summen suchte sich das Getriebe seine Gänge.

»Nein«, versetzte sie, überhaupt nicht gekränkt, »so war es, ungefähr so, okay, ich hab’s ein bisschen ausgeschmückt. Wieso ist dir die Sache wichtig?«

Das wusste ich selber nicht genau.

Kurz bevor wir die Brücke erreichten, senkte sich der Nebel, und für einen Augenblick kamen zwei rötliche Titanenleitern in Sicht, die aus der weißen Watte in den Himmel zu führen schienen, gehalten von zarten, ins Nichts schwingenden Seilen.

Der Verkehr floss jetzt zügig. Nordwärts erhoben sie keinen Brückenzoll, sodass wir nicht stoppen mussten. Außerdem hatten sie in unserer Richtung eine vierte Fahrbahn freigegeben, während sich die Wagen stadteinwärts durch die verbliebenen zwei Spuren drängten. Vom schönsten Bauwerk der Westküste war nicht mehr viel zu sehen, die Trossen huschten vorbei, dann der erste Pfeiler, ein eiserner Klumpfuß aus diesem Blickwinkel, nach einer knappen Meile der zweite, und in kaum fünf Minuten waren wir drüben. Die Würde der Golden Gate Bridge war so nicht einmal zu ahnen gewesen. Mit Linnet hier zu sein, das hatte ich mir ganz anders vorgestellt.

»Ich zeig dir meine Lieblingsstelle«, sagte Linnet. Sie bog auf einen Parkplatz ein, wir knallten die Türen zu, und dann führte sie mich Hand in Hand unter der Brücke durch. Über uns rumpelte der Verkehr, fünfzig Millionen Autos, hatte ich gehört, rollten hier jährlich drüber, mehr Wagen, als wahrscheinlich in ganz Italien zugelassen waren. Der von Stahlgeländern gesäumte Gang lag im Halbdunkel und hätte genauso gut durch den Maschinenraum eines Schiffes oder einer alten Fabrik führen können. Dann ging es ein paar Stufen hoch. Unschlüssig schaute ich mich um. Wir hatten händchenhaltend den Highway 1 unterquert, kein Grund zur Begeisterung.

»Komm«, sagte sie und zog mich zu einem Pfad, der sich im Nebel den Berg hinaufwand. Wollte ich sie nicht aus den Augen verlieren, durfte ich ihre kühle Hand nicht loslassen, sie hatte Eisfinger.

Nach schier endlosen Serpentinen erreichten wir eine Straße, und plötzlich brach Linnet in juchzende Schreie aus. Ich fragte mich, ob der Tag nicht doch zu hart für sie gewesen war, der Umgang mit so viel Bier und jetzt der steile Aufstieg. Doch dann sah ich es auch. Der Nebel lichtete sich, nahm einen gelblichen Ton an, der ins Orange changierte. Und dann riss er auf.

Der Anblick verschlug mir den Atem. Unmittelbar vor uns schwang sich in unvergleichlicher Eleganz die Brücke über den Meeresarm. Die Pfeiler leuchteten rotgolden im Abendlicht, dahinter funkelten fern die Lichter der City, und wir zwei, wir befanden uns über den Wolken.

Als ich mich verlegen umschaute, sah ich, dass wir zwischen den Resten eines alten Forts standen. Wir hockten uns auf einen meterhohen Mauerstumpf. Ein Windhauch zupfte an Linnets Haaren, na bitte, mir ging das Herz auf. Ich beugte mich rüber und tupfte ihr einen Kuss hinters Ohr, und ich musste kurz nach ihrer Schulter fassen, wegen des Gleichgewichts.

»Huch«, sagte Linnet. Ich ließ schnell wieder los.

Ich rauchte und gab mich ganz dem seligen Genuss einer unverhofften Pause hin. Mir war, als wäre ich jahrelang durch eine Wüste gegangen, nichts anderes im Sinn als die kleinen Schlucke aus dem Schlauch mit dem Wasser, und das hatte von Tag zu Tag schaler geschmeckt. Jetzt saß ich an einer munteren Quelle und brauchte mich nur vorzubeugen, falls ich Durst verspürte. Manchmal liebte ich diese Kitschfilme.

»Ich mag dich«, sagte Linnet. »Immer wenn ich dich sehe, kommt mir die gute Laune. Tu es noch einmal. Die Stelle war nicht schlecht.«

Ich tat es noch einmal, diesmal ohne mich festzuhalten.

Linnet erschauerte leicht. »Wenn das mein Verlobter sieht«, sagte sie dann. »Sex vor der Ehe!«

Coyote

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