Читать книгу Coyote - Jens-Uwe Sommerschuh - Страница 17

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In sechs Jahrzehnten hatten sich mehr als tausend Leute von dieser Brücke in die Fluten gestürzt. Ich hatte gehört, dass die meisten mit Blick zur Stadt hinuntersprangen. Fast siebzig Meter freien Falls, bevor es vorbei war, ich konnte verstehen, dass sie zum Ende hin noch einmal Wert auf gute Aussicht legten, schließlich war es die letzte, die sie sich gönnten.

»Bist du wirklich verlobt?«

Es klang, als hätte ein Kannibale eine Vegetarierin gefragt, ob sie tatsächlich nur Grünzeug esse.

»Ja, ständig«, erwiderte Linnet, »und ich finde die Methode nicht schlecht.«

»Was für eine Methode?«

Denn je mehr Worte, desto mehr Eitelkeit; was hat der Mensch davon? Denn wer weiß, was dem Menschen nützlich ist im Leben, in seinen kurzen, eitlen Tagen, die er verbringt wie einen Schatten?

Salomo hilf, dachte ich, hilf mir, keine blöden Fragen mehr zu stellen und am besten die Klappe zu halten.

Es ist besser, zu gebrauchen, was vor Augen ist, als nach anderem zu verlangen. Das ist auch eitel und Haschen nach dem Wind.

Oh Salomo! Aber ich merkte schon, der würde mir auch nicht helfen.

»Na, erstens macht es sich gut im Umgang mit den übrigen Männern, denen es nichts schadet, wenn sie mir mit ein wenig Respekt begegnen, die aber nicht völlig das Interesse an mir verlieren, denn ich bin ja als Verlobte von Mister Unbekannt noch nicht ganz unter der Haube. Ich habe mit ziemlich vielen Männern Umgang, aber keine Lust, ständig Anträge abzuwehren oder als Schneekönigin dazustehen, die man meiden sollte, kalt und gefährlich, wie sie ist. Zweitens ist es wirklich praktisch, verlobt zu sein. Ich mache damit einen netten Jungen zu meinem Favoriten, worauf der sich was einbilden kann. Jemand, mit dem ich essen oder ins Konzert gehen und mich drüber unterhalten kann, ein Partner, der mich akzeptiert, wie ich bin, und die Tatsache, dass vor der Ehe nichts läuft.«

»Und das funktioniert?« Ich war ganz Ohr.

»Nee«, meinte sie und klatschte fröhlich in die Hände, »nicht richtig. Aber die Zeit, bis sie dann doch anfangen zu drängeln, ist immer recht schön. Manche machen mir einen Heiratsantrag und fallen aus allen Wolken, wenn ich sage, dass ich nicht heiraten will. Überhaupt nicht, denke ich. Noch nicht, schwindle ich, und meistens war’s das dann.«

Mir sträubten sich leis die Haare, denn Menschen, die glauben, ihr Vergnügen berechnen zu können, sind mir unheimlich. Sie organisierte sich wohldosierten Spaß in unverfänglicher Gesellschaft. Ihr Spiel hieß nicht Schach, sondern Dame, ein Spiel, in dem kein König vorkommt, nicht mal ein schwacher. Ich schien das zweifelhafte Talent zu haben, an Frauen zu geraten, die eine besondere Art hatten. Falls das kein Irrtum war. Falls sie nicht alle diese besondere Art hatten.

Die Männer, die mit den Frauen am besten auskommen, das stammte von Baudelaire, sind dieselben, die wissen, wie man ohne sie auskommt.

Wenn sie mich sehe, hatte Linnet gesagt, komme ihr die gute Laune. Ich kannte noch eine Frau, die mich ständig sehen wollte. Guten Tag. Angenehm, ich bin der Mann Ihres Vertrauens. Was kann ich für Sie nicht tun?

»Wie oft warst du denn schon verlobt?«

Das hielt ich für eine unverfängliche Frage.

»Zwölfmal. Nein, elfmal. Wenn du so fragst, elfmal. Mit dem zwölften bin ich noch zusammen. Wieso? Willst du Nummer dreizehn werden? Das wäre aber dumm.«

Ich lachte gequält und schüttelte den Kopf.

»Und du hast … du hattest mit keinem von diesem runden Dutzend …«

Ich überließ es ihr, sich zusammenzureimen, was sie hatte oder eben nicht.

»Lass uns das Thema wechseln«, sagte sie. »Lass uns über dich reden. Ich bin nicht verklemmt, falls du das denkst, und ich habe auch keine Angst. Ich studiere im Nebenfach Psychologie, ich bin total fit, und wenn ich in der Kneipe arbeite, ist die Psychologie, die Seelenkunde, sogar mein Hauptfach. Was dich betrifft, spüre ich jedenfalls ziemlich genau, was da intern abgeht.«

Wenn sie sich da mal nicht irrte. Ich selbst hatte keine Ahnung, was in mir vorging.

»Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, du seist so etwas wie ein Priester«, schmeichelte sie. »Oder ein Maler. Du warst entweder in Gedanken versunken oder hast die Gäste beobachtet, aber nicht richtig neugierig, sondern mit … mit so einer Milde, obgleich ich dir aus dem Stand hundert Stammgäste zeigen könnte, die alles andere verdienen als ausgerechnet Milde. Und dann hast du mich eines Tages angesprochen: Deine Augen sind wie zwei Bergseen, vom Wind gekräuselt und so tief, dass ein Nichtschwimmer in ihnen ertrinken würde. Einfach so.«

Ich lachte.

»Und warum Maler und nicht Dichter zum Beispiel?«

»Hab ich auch überlegt. Aber ein Poet würde niemals Nichtschwimmer sagen. Denn das ist ein ganz und gar unpoetisches Wort. Nach und nach fiel mir auf, dass sich manchmal und sehr unvermittelt etwas Wildes in deine Züge mischte. Du hattest für einen Augenblick etwas von einem Coyoten, von einem Raubtier, das zum Sprung ansetzt und sich auf seine Beute freut. Demut und Hingabe sind dir fremd, du unterscheidest nur Schwäche und Stärke, und deine Milde ist Desinteresse. Du bist ein Coyote …« Sie schüttelte sich.

Ich schwieg. Es war ein Monolog, wie ich ihn nicht alle Tage geboten bekam.

Da unten passierte ein Schiff die Brücke, eins von den riesigen, doch es wirkte wie ein daumenlanges Plastikschiffchen, das ein Kind mit in die Badewanne genommen hatte.

»Du hattest die Hände in den Jackentaschen und döstest vor dich hin, und du rochst wie die Sünde, aufregend und gefährlich. Ob ich wollte oder nicht, ich musste mir das reinziehen. Ich sträubte mich dagegen, aber nach fünf Minuten stand ich wieder hinter dir. Die netten Männer, meine lieben Begleiter, die kann ich noch so sympathisch und vertrauenswürdig finden, riechen mag ich sie nicht. Ich glaube, nette Menschen riechen nicht gut. Kennst du das? Dieses Schwanken zwischen Attraktion und Aversion?«

Das Badewannenschiffchen hatte das offene Meer erreicht, und obwohl es jetzt weiter entfernt war, sah es wieder aus wie ein Ozeanriese. Die Golden Gate Bridge schien die Kraft zu haben, alles ringsum in Spielzeug zu verwandeln. Am Ende war ich selber eins.

»Ich kann Männer prinzipiell nicht riechen«, sagte ich, »nicht mal die sympathischen. Bei Frauen ist es unterschiedlich. Das Mädchen in meinem Hotel duftet fantastisch, ohne dass ich deswegen scharf auf sie wäre, sie duftet wie … wie Sandelholz, mit dem Saft überreifer Früchte getränkt und in Zimt gewälzt.«

»Ja, die Inderinnen«, unterbrach sie mich spöttisch.

Ich wunderte mich. Ich hatte nichts von einer Inderin erwähnt.

»Dann habe ich mir gedacht«, sprach sie versonnen weiter, »dass du dunkle Stellen in deiner Vergangenheit hast. Ich war fast enttäuscht, als ich erfuhr, was es war. Ein Bankraub, na ja …«

Coyote

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