Читать книгу Coyote - Jens-Uwe Sommerschuh - Страница 19

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Als wir die Mitte der Brücke erreichten, war es dunkel. Wir beugten uns übers Geländer. Unmittelbar über unseren Köpfen, so nah, dass wir sie anfassen konnten, zog sich eine der beiden fast meterdicken rostroten Trossen hin, an denen die Brücke hing. In Wirklichkeit waren es mächtige Metallschläuche, in denen sich jeweils mehr als siebenundzwanzigtausend miteinander verdrillte Stahlsehnen aneinanderschmiegten, vereint unzertrennlich. Links und rechts von uns schwangen sich die Trossen zu den Pfeilern empor, die Armlehnen eines göttlichen Thronsessels. Die Riesin Fortuna, unsichtbar überm Golden Gate thronend und ihre Füße in der Bay kühlend, gewährte zwei Ameisen in ihrem Schoße Audienz.

»Wenn du hier runterspuckst«, sagte Linnet, »kannst du dir so lange was wünschen, bis die Spucke unten aufklatscht. So viel Zeit lässt dir eine Sternschnuppe nicht.«

Sie räusperte sich und schickte dann eine satte Probe auf die Reise. Ich spuckte nicht. Wenn sich mir später ein Wunsch erfüllte, wusste ich nicht mehr, von wann er stammte und ob ich mich höherer Gewalt bedient hatte. Es gibt zwei Tragödien, besagte ein Aphorismus, die eine, nicht zu bekommen, was man möchte, die andere, es zu bekommen. George Bernard Shaw und Oscar Wilde hatten das beide fast wortwörtlich als eigenen Einfall verkauft. Wer weiß, wer von wem abgeschrieben hatte, oder beide von einem Dritten oder auch nicht.

Ich fragte Linnet nach ihren Wünschen.

»Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen nicht wissen, was sie wollen, aber alles tun, um es zu bekommen«, dozierte Linnet. »Gut, nicht wahr? Ein großer Satz meines Urgroßvaters. Er war der Einzige meiner Sippe, der es wenigstens zu vorübergehender Berühmtheit brachte. Donald Marquis. Er starb 1937, kurz bevor die Brücke eingeweiht wurde, als armer, vergessener Schriftsteller. Wenn ich nach meinem Nachnamen gefragt werde, sagt kein Mensch: Hach, da bist du wohl mit dem großen Don Marquis verwandt? Ich wäre selbst gern berühmt. Oder reich. Am besten beides. Ich ertrage es nicht, nur ein Krümel auf der großen Kuchenplatte zu sein. Irgendwann schaffe ich es, und das wird eine tolle Geschichte, das sage ich dir.«

Sie fröstelte. Als ich den Arm um ihre Schultern legte, schmiegte sie sich an mich. Ich spürte an meinem Bauch ihren Herzschlag, und da ich noch eine Hand frei hatte und nicht wusste, wohin mit ihr, zeigte ich ihr das Pochen, es war schön warm unter dem Latz. Blue Asphalt.

Ich fing einen schrägen Blick. So viel Nähe war kaum auszuhalten für einen, der sich schon vor Jahren auf den Beobachterposten zurückgezogen hatte. Ich sollte lieber eine rauchen, dachte ich, Hände weg, aber die hörten mir überhaupt nicht zu.

»Jetzt bin ich beherzt«, flüsterte Linnet.

»Ich tue so etwas nicht mehr«, raunte ich zurück, »ich lebe mit dieser Frau nur platonisch zusammen. Ich bin völlig weg vom Sex.«

Es sollte beruhigend klingen, aber es klang nur bescheuert.

»Oah, halt die Klappe, Mann!« Linnet stieß mich weg, fast sah es so aus, als würde sie mich hier stehen lassen.

Ich zündete mir nun doch eine an. In anderthalb, zwei Stunden würde ich zu Fuß wieder in der Stadt sein. So ein Spaziergang eignete sich bestens, die Gedanken zu ordnen, ich konnte wenigstens dabei nichts falsch machen.

»Diese Frau interessiert mich grad herzlich wenig«, sagte sie schrill. »Und ob du weg bist vom Sex, ist mir so egal wie dein Verhältnis zum Lottospiel. Weg vom Sex! Bist du wirklich so blöd? Weißt du nicht, dass du einer Frau immer das Gefühl geben musst, dass du sie begehrst, ganz gleich, welche Absichten und Aussichten du hast?«

Ich nuckelte an meiner Gitane, der Zigeunerin unter den Zigaretten, und sie erglühte, Glut zu Asche, es war immer dasselbe.

»Weißt du, wir können ja mal Tacheles reden«, sagte sie und drehte mir den Rücken zu. Sie blickte auf die Bay hinab oder ins Leere, und ich musste die Ohren spitzen, wenn ich verstehen wollte, was sie zwischen den Zähnen hervorstieß.

»Ich habe für mich entschieden, dass meine Möse kein Gästezimmer ist, in dem sich jemand langmachen kann, wenn ihm danach ist. Meine Möse ist ein Tempel, auf dessen Altar ich meine Zukunft, meine Freiheit nicht leichthin opfern werde, indem ich ihn entweihe, nicht für ein paar Seufzer des Entzückens.« Sie reckte die Arme, sie gestikulierte wie die Hauptrednerin einer Friedensdemonstration, nur dass da unten kein Publikum kauerte, das gebannt an ihren Lippen hing, da unten war nur Wasser. »Ich werde nichts opfern und so auch selbst kein Opfer sein, keine Zufallsmama, die sich, ihr unerwünschtes Kind schaukelnd, nicht mehr erinnern kann an den kleinen fröhlichen Moment, als es passierte. Ich bin ein ungewolltes Kind, ich bin die überlebende Kronzeugin einer misslungenen Abtreibung, verstehst du? Papa und Mama haben dann schnell geheiratet, und sie waren immer nett zu mir, so nett, wie es sich gehört. So nett, dass ich mir mein Studium mit diesem wunderbaren Kneipenjob finanzieren darf, denn eigentlich sollte ich nicht studieren, sondern in den Hafen der Ehe einlaufen. Ich habe ihnen alle paar Wochen meinen Verlobten vorgestellt, und da es jedes Mal ein anderer war, haben sie den siebten rausgeschmissen. Meine netten Eltern, die kann ich auch nicht riechen. Ich bin total fit in Literaturgeschichte und Psychologie, absolut firm in allen Methoden, anderen was vorzumachen, ich bin die perfekte Lügnerin und … aber … Was erzähle ich dir da eigentlich?«

Ich wusste es auch nicht genau.

Es fehlte noch was. Der Kreis hatte sich noch nicht geschlossen. Welche Rolle spielte ich in diesem Kreis? Aber da ich nun mal hier war, trat ich hinter sie und knüpfte da an, wo ich mich vorhin selber unterbrochen hatte, nur dass ich diesmal beide Hände nahm.

Sie scheuerte mir keine. Ihr Herz klopfte wild, sie war in Rage nach wie vor. Falls ich gehofft hatte, es würde sie beruhigen, war ich auf dem falschen Dampfer. Die Galionsfigur fühlte sich warm an, und das Schiff hielt Kurs, ein blinder Passagier sollte nicht fragen, wohin die Reise geht.

»Die Geschichte von deinem Tempel gefällt mir nicht«, sagte ich. »Das Leben läuft anders. Im Leben ist alles möglich. Ein gutes Leben ist die beste Rache. Ob es gut war, wirst du jedoch erst am Ende wissen. Und noch was: Ein Schoß ist weder Gästezimmer noch Tempel. Diese Bilder sind Unsinn. Du brauchst sie nur, um deine Geschichten zu spinnen. Übrigens braucht eine gute Geschichte einen guten Schluss. Aber dann ist sie zu Ende.«

Ich hatte mich in schnelleres Fahrwasser begeben und war nun nicht mehr zu halten.

»Du willst dein Leben als Story leben. Kann sein, alles läuft bestens, und die Hauptfiguren benehmen sich, wie sie sollen. Aber sag mir doch, was für ein Happy End dir vorschwebt. Und sag mir auch, was du danach anfangen willst.«

Eigentlich wollte ich nur wissen, welche Rolle sie mir in ihrer Geschichte zugedacht hatte.

»Falsch«, flüsterte sie, »du irrst dich. Was ich dir erzählt habe, ist ein Fragment mit offenem Ende. Darin ist gar kein Platz für dich. Aber in deiner Geschichte ist für mich Platz, und ob dir das schon klar war oder nicht: Ich bin längst drin in ihr, und du bist machtlos dagegen.«

Mein Stolz verbot mir, rundheraus zu sagen, dass niemand sich ungefragt und ungebeten in mein Leben zu mischen hatte, nie und nimmer, nirgendwann. Ich dachte an Vickie. Ich fragte mich, was ich hier anstellte. Als Erstes musste ich meine Hände wieder frei bekommen.

»Das geht nicht«, hörte ich mich sagen. »Vergiss es. Da ist kein Platz für dich. Das geht überhaupt nicht.«

»Doch«, widersprach sie, »das geht. Das geht schon eine ganze Weile. Und du wirst sehen, wie das geht. Das wird spannender als du denkst. Und doch! Und doch!«

Coyote

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