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WARUM GENUSS ES SO SCHWER HAT

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Ob Konzert- oder Galeriebesuch, ausgiebige Zeitungslektüre oder ein Frühstück mit den Liebsten am Sonntagmorgen: Etwas achtsam zu genießen bedeutet, sich zurückzulehnen. Sich Zeit für sich und andere zu nehmen. Mal fünf gerade sein zu lassen und (unerledigte) Aufgaben für einen Moment zu vergessen. Anders gesprochen: Genießen bedeutet faulenzen! Denn wer genießt, schafft nichts. Über Jahrhunderte hinweg waren Genüsse, auch die kulinarischen, daher einer kleinen Gruppe vorbehalten, Adeligen etwa – im Gegensatz zu den Bauern. Für Letztere bedeutete Essen Nahrungsaufnahme, um sich mit dem Nötigsten zum Überleben zu versorgen. Faulheit galt passenderweise als eine der sieben Todsünden und jedweder Genuss war damit aufs Jenseits verschoben. Entsprechend bildete für den Großteil der Bevölkerung lange Zeit allein der sonntägliche Gottesdienst eine Gelegenheit zu genießen, zumindest optisch: Die üppig ausgestalteten katholischen Kirchen zeigten in Fresken, Statuen und bunten Glasfenstern aufs Prächtigste den sinnenbetörenden Überfluss, der all jene nach dem Tod erwartete, die auf Erden eine gottes- (und obrigkeits-)fürchtige Existenz geführt hatten.

Mit dem Siegeszug des Protestantismus erfasste das Arbeitsethos als Lebensmaxime dann alle Bevölkerungsschichten. Leistung galt fortan als Möglichkeit, aufzusteigen und reich zu werden. Faulenzen war etwas für Bonvivants und Dandys, selbst kleine Genüsse, wie der Whiskey mit Bekannten, sollten bitte schön erarbeitet werden.

Auch wenn wir es mitunter nicht wahrhaben wollen: Dieser Vorstellung folgen die meisten von uns bis heute. Spätestens seit dem deutschen Wirtschaftswunder ist der Begriff der Leistung zentral für unsere Gesellschaft geworden, teilen Wörter wie »Low« und »High Performer« Menschen nach neoliberalen Gesichtspunkten ein in »besonders leistungsstark« beziehungsweise »besonders leistungsschwach«.

All diese Entwicklungen haben zu einer paradoxen Situation geführt: Auf der einen Seite sehnen wir uns nach mehr freier Zeit und Gelassenheit, auf der anderen hat viele von uns ein Optimierungswahn erfasst und jeden Genuss vertrieben. Dies gilt besonders für den Bereich der Ernährung. Hochkalorische Lebensmittel – vom Salamibrot über Lasagne bis hin zu Schokopudding und Chips – stehen auf einer vermeintlich allgemeingültigen Verbotsliste, gelten damit als »Sünde« und »Luxus«. Die Folge: Nach dem Konsum genussversprechender Lebensmittel ringen wir beinahe zwangsweise mit einem schlechten Gewissen, das extreme Gesundheitsapostel uns so gern vermitteln. Umgekehrt gilt vielen beispielsweise Astronautennahrung aus der Flasche fälschlicherweise als gesund. Schließlich bietet sie uns angeblich alle Nährstoffe, die wir brauchen – und spart uns dabei noch unendlich viel Zeit, die wir sonst fürs Kochen aufbringen müssten.

Eine krasse Folge solcher Genussfeindlichkeit bilden Störungen wie Orthorexia nervosa. Mit diesem Begriff bezeichnen Mediziner eine relativ neue Verhaltensproblematik: So wie magersüchtige Patienten zwanghaft möglichst wenig essen, sind Menschen mit Orthorexia nervosa davon besessen, die qualitativ besten Lebensmittel zu finden und sich nach extremen, teils selbst auferlegten Regeln zu ernähren. Gesund? Ist das alles nicht! Denn wie Sie bereits gelesen haben, bildet eine ausgeprägte Genussfähigkeit die Voraussetzung dafür, sich dauerhaft gut zu ernähren und als Mensch zufrieden sein zu können. Grund genug also, uns in dieser Hinsicht zu schulen.

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