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Geschichtspolitik und Nationalüberlieferung

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In der Forschungsliteratur wiesen Stimmen wiederholt darauf hin, welche erhebliche Bedeutung die Zeithintergründe für die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Brüder Grimm besaßen.7 Allerdings müssen die originären Werke und spätere meist selektive Bezugnahmen darauf trennscharf auseinandergehalten werden, um die Komplexität rezeptionsgeschichtlicher Vorgänge adäquat erfassen zu können.8 Jacob und Wilhelm Grimm selbst versuchten, vor dem Hintergrund einer wahrgenommenen französischen Hegemonie dem romantisch inspirierten Streben nach Kriterien deutscher Identität eine wissenschaftliche Basis zu geben.9 Während die entsprechenden Ansichten der Brüder im Wesentlichen deckungsgleich waren, fokussierte die Forschung überwiegend auf das Werk des älteren Bruders Jacob. Gegenüber dessen nationalpolitisch inspirierten Publikationen unter anderem zu Mythologie und Rechtsgeschichte blieben die meisten von Wilhelms Veröffentlichungen vornehmlich literaturwissenschaftlich, konzentriert etwa auf Heldendichtung und Märchen.10

Indes kann bei den Brüdern Grimm von einem monolithischen Politik- und Staatsverständnis ebenso wenig die Rede sein wie von eindeutigen lager- oder parteipolitischen Zuordnungen.11 Schnittmengen mit dem liberalen Denken der Zeit waren eher in der Übereinstimmung mit einzelnen politischen Forderungen als in einem freiheitlichen Menschenbild und Staatsverständnis begründet. Grundrechte wie beispielsweise die Pressefreiheit oder der Grundsatz der Volksvertretung waren für sie keine voraussetzungslos zu gewährenden Prinzipien. Stattdessen machten die Brüder deren Geltung davon abhängig, ob sie selbst die moralische Reife der Bevölkerung für ausreichend hielten.

Als Anhänger des monarchischen Prinzips wollten sie die in ihren Augen stabilisierende Ständeordnung prinzipiell erhalten, auch wenn sie durchaus partielle Kritik am konkreten Verhalten der deutschen Fürsten übten. Aber als Protestanten sahen sie im Gegensatz zur zunehmend katholisch geprägten politischen Romantik ihr ständisches Ideal nicht im Mittelalter verwirklicht, sondern in den noch älteren Epochen einer germanischen Geschichte.12 Grundsätzlich waren die Brüder von der Denkrichtung der Romantik vor allem in ihrem organischen Verständnis von Volkskultur und Bauerntum geprägt. Sie kritisierten aber zunehmend die dort praktizierte und ihres Erachtens spekulative Praxis der Nachdichtungen, die sie in ihren akademischen Arbeiten zugunsten philologischer Treue überwinden wollten.13

Die Brüder Grimm lehnten eine umstandslos konservative Restauration der politischen Verhältnisse ebenso ab wie das Machbarkeitsdenken des radikalen Liberalismus.14 Stattdessen schwebte ihnen als Ideal eine behutsame und gleichsam evolutionäre Erneuerung vor, in die aber bewährte Teile der Tradition einzubeziehen seien. Die Französische Revolution von 1789 kritisierten sie daher wegen der aus ihr resultierenden politischen und sozialen Erschütterungen in ganz Europa. Hingegen zeigte sich Jacob Grimm 1830 inmitten der revolutionären Bestrebungen von deren Unvermeidlichkeit überzeugt, während sein Bruder die verabschiedeten Konstitutionen als Notwendigkeit zumindest akzeptierte.

Ebenso wenig wie Tieck, Eichendorff und Arndt hatten die Grimms ein tiefer gehendes Verständnis für die gravierenden sozioökonomischen Umwälzungen, die sich zu ihren Lebzeiten vollzogen.15 Während ihr ahistorisches Ideal eine stadtferne Gesellschaft von Bauern und Hirten war, begriffen sie dennoch als Stadtbewohner und Akademiker unter Volk in politischer Hinsicht hauptsächlich das Bildungsbürgertum. Das entstehende Industrieproletariat blieb außerhalb ihrer Beachtung, genau wie sie die bäuerlichen Lebenswelten nicht zum Thema eigener Studien machten.

Als Teil der Göttinger Sieben verloren die Brüder Grimm aus politischen Gründen ihre Professuren, nachdem sie gegen die Annullierung des auf die Verfassung geleisteten Amtseides protestiert hatten.16 Im Jahr 1848 war Jacob Grimm zuerst Mitglied des Vorparlamentes von Anfang Mai, wonach er für den Wahlkreis Essen-Mülheim in die Paulskirchenversammlung gewählt wurde. Dessen Delegierter sollte ursprünglich Arndt sein, der aber parallel seine Kandidatur im Wahlkreis Solingen gewonnen und sich schließlich für diesen entschieden hatte.17 Jacob Grimm kritisierte als Abgeordneter deutlich die radikaldemokratischen und revolutionären Bestrebungen, die ihm zufolge nicht die Interessen der Volksmehrheit vertraten. Ebenso wandte er sich gegen den fortgesetzten Partikularismus der Fürsten, der eine Vereinigung der deutschsprachigen Territorien unmöglich zu machen drohte. Obwohl er die Frankfurter Volksvertretung als gesamtdeutsche Einrichtung generell begrüßte und darin mitwirkte, blieben ihm die grundlegenden Prinzipien demokratischer und parlamentarischer Herrschaft durch wechselnde Parteien zeitlebens fremd.18

Jacob Grimm setzte sich als fraktionsloser Abgeordneter vor allem für die Einigung der deutschsprachigen Gebiete und für festgeschriebene Freiheitsrechte ein.19 Wahre Freiheit war seiner Auffassung nach jedoch erst durch die nationale Einheit zu erreichen. Daher berief er sich nicht auf die in seinen Augen abstrakte liberté der Französischen Revolution, sondern auf eine vermeintliche Tradition deutscher Libertät seit germanischer Zeit. In diesem Sinne forderte er bei einer seiner wenigen parlamentarischen Wortmeldungen, die altehrwürdigen Adelsprivilegien sowie die zivilen Orden im Interesse des Bürgertums abzuschaffen und stattdessen eine neue Militärauszeichnung ohne Standesschranken einzuführen.20 Außerdem schlug er einen später abgelehnten ersten Verfassungsartikel vor, der anstelle der sprichwörtlichen Stadtluft das Land zur Grundlage der Freiheit machte und in der – hier durchgängig beibehaltenen – Kleinschreibung Jacob Grimms zitiert wird: „alle Deutschen sind frei, und deutscher boden duldet keine knechtschaft. fremde unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“21 Eine solche imaginierte Boden- wie Waldfreiheit Germaniens sollten als Basis für eine traditionsgemäße politische Ordnung der Gegenwart dienen.

Eine besonders wichtige Rolle spielte in Denken und Wirken der beiden Philologen die Idee des Nationalen, obgleich sie in ihren Arbeiten ähnlich wie Tieck oder Eichendorff und anders als etwa Arndt die Kulturen und Sprachen zahlreicher anderer Völker einbezogen. Es lässt sich auch in der den Brüdern Grimm gewidmeten Forschungsliteratur eine Entwicklung feststellen, die im Zeitverlauf von affirmativer zu kritischer Darstellung führte.22 Gegenüber dem Begriff der Nation dominierte im grimmschen Wortschatz allerdings noch der ältere Ausdruck Vaterland, unter dem sie ein Kompositum aus Geschichte, Landschaft und Volk verstanden. Volk war in Jacob Grimms Sichtweise unabhängig von etwaigen Staatsgrenzen „der inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden“23. Der Staat als Institution sollte wesentlich die nationale Einheit ermöglichen und festigen, stand aber als historische Potenz in seiner Bedeutung klar hinter Kultur, Literatur und Sprache zurück. In diesem Sinne strebten beide nach einer konfessionsübergreifenden christlichen Religion und betonten die Bedeutung der von Luther geprägten Hochsprache gegenüber einzelnen Dialekten. Bei Jacob und Wilhelm Grimm zeigte sich ähnlich wie bei Eichendorff und dem ihnen persönlich bekannten Arndt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine stufenweise Entwicklung der kollektiven Identität von der regionalen zur nationalen Ebene.24

Diese korrespondierte mit den politischen Geschehnissen der damaligen Zeit, vor allem der französischen Vorherrschaft und den Kriegen gegen Napoleon. Aus einer Identifizierung mit der hessischen Heimat entwickelte sich ein Gleichklang von regionaler und gesamtdeutscher Identität, die über existierende Territorialgrenzen hinaus sprachlich definiert war.25 Demgemäß setzte sich Jacob Grimm für die Interessen deutschsprachiger nationaler Gruppen in anderen Ländern ein, etwa im Elsass, in Südtirol und in Schleswig. Für ihn blieb der französischer Volkssouveränität entgegengesetzte deutsche Volksgeist am stärksten ausgeprägt in der Vielfalt der Klein- und Mittelstaaten und nicht in den beiden Großmächten Österreich und Preußen. Später kam infolge der Übersiedlung nach Berlin 1841 jedoch noch eine borussisch-monarchische Identitätskomponente hinzu, die frühere preußenkritische Äußerungen vergessen machen sollte.26

Als grundlegende Quelle kann in diesem Zusammenhang Jacob Grimms Göttinger Antrittsvorlesung De Desiderio Patriae (1830) gelten. Dort sprach er eindrücklich über seine „begierige Liebe zur Heimat“27, die er zu diesem Zeitpunkt bereits als hessische und deutsche zugleich verstand. Die Bindung an das eigene Vaterland war für ihn bei den Menschen so tief verwurzelt und naturgegeben, dass man sie im Laufe des Lebens nicht einfach durch eine andere ersetzen könne. Als definierendes Element diente vor allem die gemeinsame Sprache, deren Entwicklungsgrad er in einen engen Zusammenhang mit dem jeweiligen Stand der Freiheit stellte. Auch wandte er sich gegen die seiner Ansicht nach durch die Aufklärung beförderte „Minderung und Unterdrückung des Volkstümlichen“28, dem er mit seiner wissenschaftlichen Arbeit wieder eine gebührende Wertschätzung geben wollte.

Eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des nationalen Bewusstseins spielte auch bei den Brüdern Grimm die Auseinandersetzung mit dem romanisch verstandenen Frankreich. Bereits 1805 beschrieb Jacob Grimm in seinen Briefen aus Paris eine „leichtsinnige französische Nation“29 und bediente sich zur Beschreibung der Stadt wie ihrer Bewohner der etablierten Stereotype von Oberflächlichkeit und Frivolität. Anlässlich der napoleonischen Besetzung Kassels ein Jahr darauf klagte Wilhelm in einem späteren autobiographischen Text eindringlich über „fremde Menschen, fremde Sitten, […] eine fremde, laut geredete Sprache“30. Allerdings enthielt die grimmsche Frankreichkritik im Gegensatz zu der Arndts keine aggressive Komponente des Völkerhasses, zumal sie wiederholt mit Wissenschaftlern aus dem Nachbarland zusammenarbeiteten.31

Als die starken patriotischen Emotionen von 1813 wieder abgeflaut waren, akzeptierte Jacob Grimm 1841 die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion des ehemaligen Kriegsgegners. Generell positiv war die Einstellung gegenüber den slawischen Völkern – mit Ausnahme des in seinen Augen despotisch veranlagten russischen Volkes.32 Aus diesem Grunde sympathisierte er 1831 zwar mit dem antizaristischen Freiheitskampf in Kongresspolen, stimmte 1848 aber gegen die Eingliederung des preußisch beherrschten Großherzogtums Posen in einen neu zu gründenden polnischen Staat. Erwähnungen des Judentums schließlich finden sich nur sehr vereinzelt im Briefwechsel und in wenigen Märchen, wobei Wilhelm Grimm möglicherweise durch seine enge Bekanntschaft mit Achim von Arnim von dessen antijüdischen Einstellungen beeinflusst wurde.33

Während der Besatzung ihrer hessischen Heimat vertieften sich die Brüder in die Überlieferung der Vergangenheit, indem sie mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte der gebildeten Öffentlichkeit zugänglich machten. Eingeführt und inspiriert wurden sie darin vor allem von Jacob Grimms akademischem Lehrer Carl Friedrich von Savigny (1779–1861), dem Begründer der Historischen Rechtsschule.34 Literarische Anregungen waren ihnen die von Tieck herausgegebenen Minnelieder sowie die dreibändige Sammlung Des Knaben Wunderhorn ihrer Freunde Arnim und Brentano. Für das Wunderhorn lieferten die Brüder mehrere Beiträge und waren an dessen Redaktion beteiligt, wenngleich sie zunehmend Kritik an dem in ihren Augen unwissenschaftlichen Umgang mit den tradierten Texten übten.35

Die vorgeschichtliche Mythologie und deren angenommener Nachklang in Märchen, Sagen und Volksliedern dienten Jacob Grimm dazu, als „unsichtbare, schirmende waffe gegen den feindlichen übermut“36 den ernüchternden politischen Gegebenheiten einen kritischen Spiegel vorzuhalten. Eine heroisch verstandene Geschichte fungierte mithin als nationalpädagogisches Instrument, womit etwa das Nibelungenlied zu einer geistigen Grundlage für das ersehnte kulturelle Selbstbewusstsein erklärt wurde.37 Auch das in den 1840er-Jahren zusammen mit seinem Bruder begonnene Projekt eines umfassenden Deutschen Wörterbuches verstand er als zutiefst „vaterländisches werk“ aus dem Geiste der Philologie und fragte in seiner Vorrede die Leser fast verzweifelt: „was haben wir denn gemeinsames als unsere sprache und literatur?“38

Jacob und Wilhelm Grimm spendeten Subskriptionserlöse der Quellenedition Der arme Heinrich (1815) für die Freiwilligen der antinapoleonischen Kriege, in denen zwei ihrer Brüder damals kämpften.39 Die deutschtümelnden Aktivitäten der Turner und Burschenschafter sahen sie aber ebenso kritisch wie die Inszenierung nationaler Gefühle etwa beim Hambacher Fest 1832, während sie das Wartburgfest 1817 noch begrüßt hatten. Patriotisch inspiriert schrieb Wilhelm Grimm einen Artikel über einen Besuch im Teutoburger Wald als vermeintlichem Ort der militärischen Auseinandersetzungen zwischen germanischen Kriegern und römischen Truppen.40 Sein Bruder Jacob gab 1835 Tacitus’ Germania für seine Studenten neu heraus, ergänzt um weitere die Germanen betreffende Stellen aus dessen Werken. Daneben hielt er in Göttingen und Berlin Vorlesungen, die diese „unsterbliche schrift über Deutschland“41 dem Publikum näherbringen sollten. Die Germania sowie die Annales des römischen Autors hatten die Brüder bereits als eine wichtige Quellengrundlage für ihre zweibändige Anthologie Deutsche Sagen (1816/1818) herangezogen.42

Unter der Annahme einer gemeinsamen germanischen Vorgeschichte beschäftigten sich beide ausführlich mit der Sagenwelt und den Sprachen Skandinaviens, wo sie eine im Vergleich zur Heimat ursprünglichere Volksüberlieferung vermuteten.43 Jacob Grimm erwog langfristig sogar eine Vereinigung der deutschen und skandinavischen Gebiete, deren Bevölkerungen er immer noch in enger Stammesverwandtschaft verbunden sah. Generell hielten die Brüder die nordisch-protestantische Kultur für weiter entwickelt als diejenige der romanisch-katholischen Länder Frankreich und Italien, ohne indes wie etwa Arndt eine ungebrochene Kulturkontinuität mit den gegenwärtigen Völkern zu behaupten. Vielmehr hoben sie wesentliche kulturelle und religiöse Entwicklungen seit germanischer Zeit hervor, beispielsweise die Entstehung der deutschen Sprache und die Ausbreitung des Christentums. Gleichwohl verstanden auch die beiden Philologen in klimatheoretischer Perspektive den kalten bewaldeten Norden als positives Gegenbild zum heißen waldarmen Süden.

Der deutsche Wald

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