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Naturkultur und Märchenlandschaften

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Für Wilhelm Grimm waren die deutsche und skandinavische Poesie der solide „nordische Eichbaum“, dem in offensichtlicher Anspielung auf Goethe der „warme betäubende Orangenduft südlicher Dichtungen“ entgegenstand.44 Diese Dichotomie trat auch in einer Akademierede Jacob Grimms zutage, in der er seine Eindrücke von kurz zuvor unternommenen Reisen in Skandinavien und Italien schilderte. Dort beschrieb er die baumreichen Nordländer als naturnahe Sehnsuchtslandschaft der Ernsthaftigkeit und Tiefgründigkeit.45 Seine Abhandlung zum finnischen Epos führte den dortigen Natursinn unter anderem darauf zurück, dass die umgebende Landschaft „waldbewachsen und hügelig“46 sei. Mit seinem Nordideal kontrastierte er die sonnenbeschienenen und meerumflossenen Ebenen des mediterranen Südlandes, die er in enge Verbindung mit der Lebensweise ihrer Bewohner brachte. In diesen Kulturlandschaften jahrhundertelanger menschlicher Nutzung vermisste er im Gegensatz zu seiner Heimat eine klar erkennbare Trennung zwischen Ackerland, Gartenflächen und Wald.47 Grundsätzlich widmete er seine Aufmerksamkeit aber statt den Phänomenen der Gegenwart mehr den sichtbar gebliebenen Resten der römischen Geschichte, Kunst und Kultur.

In der Tradition deutschsprachiger Italienreiseliteratur finden sich einzelne kritische Bemerkungen über die damalige italienische Bevölkerung, die dem erlesenen Ideal vergangener römischer Größe nicht entsprach – und gar nicht entsprechen konnte.48 Allerdings stellte Jacob Grimm zugleich unter Rückgriff auf gängige Völkerstereotype „die natürlichste und ungezwungenste lebensart“ der wärmeverwöhnten Italiener den Charakteren anderer Nationen positiv entgegen: Dafür nannte er etwa weniger vorteilhaft „den gezierten, übertriebnen Franzosen, den feierlichen Spanier, den eingebildeten Engländer und unbeholfnen Deutschen“.49 Er unternahm aber anders als beispielsweise Arndt nicht den Versuch, die Italiener pauschal als Räubervolk abzuwerten und die sie umgebende Landschaft als eintönig-oberflächlich zu charakterisieren. Vielmehr sprach er anerkennend von dem „paradiesischen landstrich“50 mit unter anderem schönen Eichen, Olivenbäumen und Pinien. Daneben lobte er die beeindruckend wilden Alpen Italiens gegenüber der alles in allem gezähmten deutschen Bergwelt. Indes machte er an anderer Stelle deutlich, dass die weniger bewaldeten Landschaften Italiens keineswegs mit der Natur seiner Heimat konkurrieren könnten – ebenso wenig wie diejenigen des Nachbarlandes Frankreich.51

Der deutsche Rhein verkörperte gewissermaßen zeittypisch im Denken der Brüder Grimm wie bei Arndt ein natürliches Nationalsymbol eigener Stärke und war auch für sie keine Naturgrenze zwischen französischem und deutschem Gebiet. Dieser Strom war für Jacob Grimm „unser geliebter fluß“52, weswegen er sich anerkennend über die patriotische Grundintention der arndtschen Rhein-Schrift äußerte und ihr eine weite Verbreitung wünschte. Sein Bruder Wilhelm bezeichnete den Fluss noch expliziter als „ganz zum deutschen Wesen“53 gehörend und unternahm im Laufe seines Lebens mehrere längere Rheinreisen, unter anderen mit dem befreundeten Carl Friedrich von Savigny. Im Jahr 1853 hielt er sich für insgesamt drei Monate in der Rheingegend auf und besuchte während dieser Zeit wiederholt die Familie Arndt in Bonn. Besonderen Eindruck machten auf ihn die „Felsen, Weinberge und alten Burgen“54, was in der Kombination von kulturellen und naturalen Elementen ganz der Tradition der deutschen Rheinromantik entsprach.

Über die veröffentlichten Werke hinaus wird eine solche Bedeutung der konträren wie komplementären Sphären von Kultur und Natur in vielen Briefen deutlich. So unterstrich Jacob Grimm ausdrücklich den Vorrang echter Bäche und Wasserfälle vor den nur angelegten Wasserspielen des Kasseler Schlosses.55 Sein Bruder beschrieb angesichts des Lebens in dieser Residenzstadt seine unstillbare Sehnsucht „nach den grünen Wiesen, Wäldern“56 der Umgebung. Jacob Grimm äußerte 1840 klare Bedenken gegenüber einem bevorstehenden Umzug „in die Heide von Berlin und in die Steinhaufen darauf“57. Während anstrengender Verhandlungen der Frankfurter Paulskirche wünschte er sich 1848 an den Urlaubsort der Familie seines Bruders „unter den waldbäumen und an der tosenden see“58. Wilhelm Grimm floh immer wieder aus der lauten Stadt in „herrliche Buchenwälder mit tiefen Schluchten und einer Einsamkeit, in der das Herz aufgeht“59. Er lobte aber gleichwohl ihre naturnahe Berliner Wohnlage direkt am Tiergarten, der damals noch an der Stadtgrenze lag und als zeitweilige Zuflucht vor Enge und Lärm diente.

Schließlich betonten Schriften der Brüder gleich mehrfach den Einfluss, den die jeweilige Naturumgebung auf die Ursprünglichkeit der Volksüberlieferung von Brauchtum, Märchen und Sagen habe. Diese konnte sich nach Jacob Grimms Verständnis am reinsten erhalten „in abseits gelegenen berg- und walddörfern, wo die natur selbst alter sitte und überlieferung gleichsam einen hinterhalt gegönnt hat“60. Anlässlich seiner Beschäftigung mit jagd- und waldbezogenen Redensarten hielt er die Ausdrucksweise der „hirten, jäger, vogelsteller, fischer“61 für weit naturnäher und ursprünglicher als diejenige der Gelehrten und Stadtbewohner, zu denen die Brüder Grimm indes selbst zählten. Den Anhängern der von ihm kritisierten demokratisch-konstitutionellen Bewegung machte Jacob Grimm den Vorwurf, sie wollten „berggipfel […] ebnen, stolze wälder ausrotten“62 – vergleichbar würde Eichendorff der Aufklärung intentionale Naturzerstörung vorhalten.

Als Wilhelm Grimm die nordische Tradition mit der deutschen unter dem Aspekt der Ursprünglichkeit verglich, assoziierte er jene mit der Welt „abgeschlossener Thäler und Berge“ und diese mit den „Städten der offenen Landschaft“.63 Zur Unterscheidung der in seinen Augen wahren Volkspoesie von lediglich kunstvoll produzierter Dichtung zeichnete er das Idealbild einer blühenden und grünenden Natur, dem das Schreckbild einer dürren und lebensfeindlichen Wüste entgegengesetzt war. Überdies verwies er auf das verborgene Paralleluniversum einer magischen Märchenwelt, die sich besonders urwüchsig „in heimlichen Wäldern, unterirdischen Höhlen, im tiefen Meere“64 zeige. So wurde im Werk der Brüder Grimm der Wald weit mehr als etwa das Wasser zum Element jenseits der domestizierten menschlichen Kulturlandschaften von Feld, Forst oder Garten und mithin zum märchenhaften Gegenort.

Der deutsche Wald

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