Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 12

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Es war ja alles schon längst vergangen. So viele Jahre und doch wie gestern, dass er Natalie die moosige Lichtung im Wald gezeigt hatte an einem Märztag, dieses Wasserloch mit den Gelbbauchunken, nicht weit von ihrem Berghaus entfernt. Jetzt hörte Jul sich jeden Abend das Konzert der zeternden Spatzen in den Bäumen am Moro-Platz an. Unter der größten Magnolie hockte er in einem dunkelgrünen Plastiksessel und hörte den Spatzen zu. Wenn der letzte Sonnenstrahl am letzten Zweig verlöschte, verstummten sie jäh. Dann war wieder vereinzeltes Autohupen zu hören, der Motorenlärm von der Piazza Vittorio Emanuele und natürlich das Debattieren der Männer an den Bar-Tischchen und auf den Bänken des Parks. Durch das lockere Geflecht eines weißblühenden Zierstrauchs sah er ein etwa zwanzigjähriges Mädchen, das vorbeispazierenden Männern Aschenbecher aus glänzendem Metall um tausend Lire zum Kauf anbot. Mit überkreuzten Beinen saß diese Schwarzhaarige auf einer Bank und kreischte jeden Vorbeigehenden an, dabei lachte sie so seltsam über das ganze Gesicht, griff sich mit der freien Hand immer wieder ins dunkle, über die Schulter fallende Haar. Jul blickte auf ihre dicksohligen geschnürten Schuhe, sie schien ausgerüstet für kühlere Nächte im Freien, mit einer lackschwarzen Lederjacke und schwarz-weiß gestreiften Mephistohosen. Die Männer in seiner Nähe waren auch auf sie aufmerksam geworden, mehrmals hörte er den einen und anderen sagen: Una bella ragazza. Und ein schönes Mädchen war sie, solange sie nicht ihren Mund verzerrte, was sie von Zeit zu Zeit aber tat, indem sie die Lippen jäh nach oben oder in die Breite verzog.

Es war Nachmittag gewesen – ein wolkengrauer Nachmittag, sagten sie später im Dorf. Und Mara hatte Natalie zu deren Freundin Manuela gebracht, in dieses kleine Hotel an der Straße (mit Restaurant und Hallenbad). Während er, Jul, unterwegs war in Passau für eine Radio-Reportage (Suizid unter Jugendlichen). Tags darauf wusste er, dass Mara nicht allein mit Natalie zu dem Hotel gefahren war, sondern in Begleitung eines ortsfremden Italieners.

Die Kacheln im Schwimmbecken waren blau, blaues Wasser bis zu den Knien beim Einstieg, doch der Beckengrund neigte sich bis zu zwei Meter Tiefe am Beckenende. Und dort gab es eine kleine Leiter zum Ausstieg mit weißen Sprossen, die Natalie nicht mehr erreichte.

Ihm fehlt Maras Schweigen. Als ob er ohne eine Haut aus Wald und Gras und ohne Schnee und Regen und das Feuer in seinem Ofen nicht leben könnte. Es würgt ihn, die untergehende Sonne erwürgt ihn, es interessiert ihn nicht, dass Maras Vater irgendwann einmal an diesen Magnolienbäumen hier als Kind vorbeigelaufen oder als junger aufstrebender Mussolini-Faschist in der schwarzen Uniform eines Federale mit wadenengen Lackstiefeln die Via Atenea herunterparadiert ist. Er will nicht daran denken, will von dieser dröhnenden, muffigen Vergangenheit nichts wissen. Er möchte –, ja, was möchte er?

Jetzt, wo er das Meer sehen kann, läuft er nicht zum Meer hinunter, er könnte in einen Bus steigen, nach Porto Empedocle oder San Leone fahren, doch er möchte durch das vermodernde Herbstlaub zum Wald hinauf, stumm mit seinem Hund durch das Heidelbeerkraut, mit geducktem Kopf durchs Unterholz und zwischen den hohen wartenden Fichten und Föhren hindurch. Und weiß, dass ihm das nicht helfen kann, dass er seinen Kopf in den breiten Stamm eines alten Baumes müsste drücken können, aber er wäre auch dort nicht geborgen.

Dieses Hallenbad war der Stolz eines kleinen Hotels an der Straße, da oben auf dem Berg, so weit weg vom Meer. Und es gehörte Manuelas Großeltern, und Manuela war Natalies beste Freundin –, die Fliesen der Hallenwände schimmerten weiß.

Der Schmerz der Gewöhnung

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