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Jul wusste, dass er sich bei der Festnahme in Welsberg komisch benommen hatte, aber ihm hatte sich nicht so sehr die Demütigung eingeprägt als vielmehr dieses neue Gefühl des Ausgeliefertseins mit Mara, dieses jähe öffentliche Zusammengehören, auch wenn es List war seinerseits, ein Gewaltakt, diese Erfindung von Nähe, erlogene, aufgezwungene Vertrautheit, er bereute davon nichts. Ja, er hatte Mara überrumpelt, er hatte sich in Maras Kopf als ein möglicher Verlobter hineingedrängt.

Auf jeden Fall hatte sich ihr Verhältnis verändert, auch wenn sie mit den zwei compagni im Wagen fast ausschließlich wieder über politische Themen sprachen. Von diesem Tag an verband Mara und ihn etwas Bestimmtes, ebendieser Vorfall. Sie wollten sich wiedersehen und vereinbarten ein anderes Wochenende zum Skifahren. Diesmal in nächster Nähe der Wälder und Wiesen, wo Mara ihre Kindheit während der Sommer- und Weihnachtsferien verbracht hatte, eben auf dem Berg über dem kleinen Landhaus ihres Vaters.

Sie waren nicht allein, sondern in Gesellschaft von Maras älterem Bruder Raffaele und ihrer Schwester Teresa, die von ihrem Mann Carlo begleitet war. Jul genoss die Minuten, die er oben auf der Bergkuppe (zwischen Gondelstation und dem nächsten Hüttenausschank) ohne Ski an den Füßen verschnaufen konnte – den Rundblick und die Sonne –, dann allerdings suchte er an eine Theke zu kommen, und während Mara sich auf der Toilette vermutlich Sonnencreme auf den Wangen verstrich, trank er ein großes Glas Grappa. Mara liebte den Nordhang mit Blick auf den Talkessel, ein Schattenhang mit schnellerem Schnee, eine mit riesigen Schneewarzen übersäte, breite Piste vom Start weg, und Mara vergnügte sich, wedelte in kurzen Schwüngen hinunter, er stürzte ihr mit angeschnapster Kühnheit nach, manchmal schaffte er es, einem Schneehügel auszuweichen, meistens nicht, aber diesmal wartete Mara jedes Mal in freundlicher Entfernung, bis er sich wieder aufgerappelt hatte. Ihre Geschwister kümmerten sich zum Glück nicht um ihn, waren längst woanders unterwegs. Es war schön, hinter Maras Schwüngen herzustürzen, in weitem, aber scharfkantigem Zickzack, und dann aufwärts gezogen zu werden von einem Schlepplift, im Blick immer Maras schwarzes, auf den Jeanshintern genähtes Perlonherz. Und es war schön, mit ihr längs einer Glaswand des Berggasthauses Spaghetti alla Bolognese zu essen bei einer Flasche Rotwein. Sie fuhren am frühen Nachmittag sogar die ganze Länge der Silvesterpiste hinunter, von wo Maras väterliches Ferienhaus dann zu Fuß schnell erreichbar war.

Damals war er zum ersten Mal durch das dunkelbraune Gartentörchen gegangen, über den verschneiten Gartenrasen und hatte zum ersten Mal Maras Mutter gesehen, eine schöne, feingesichtige Frau mit kurzgeschnittenen, silbergrauen Haaren und einem fast ängstlich lachenden Gesicht, einem Dauerlächeln, das wie eine Schutzschicht über Neugier und Sorge gezogen schien (erst später bemerkte er die hoch angesetzten Wangenknochen, die ihrem Ausdruck beinahe slawische Züge verliehen). Er wurde in eine laute Herzlichkeit hereingeholt und fühlte sich dennoch eher wie ein abgetastetes Objekt, ein betrachteter Gegenstand. Vielleicht war es dies, warum Mara und er sich bald verabschiedeten. Er weiß nicht mehr, ob er Mara durch einen Blick oder ein zugerauntes Wort aufgefordert hat oder ob sie beide es gleichzeitig wollten, jedenfalls unternahmen sie allein mit dem Auto noch eine Spazierfahrt in die Umgebung. Wahrscheinlich tranken sie auch etwas in einer Bar oder einem Gasthof, um schließlich nur mehr so durch die verschneiten Felder zu laufen. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass er Maras Haare berühren durfte und auch ihr Gesicht. Sie blieben auf einer Brücke stehen, lauschten auf das Lärmen des Wassers, und Jul zog den Ehering seiner toten Mutter von seinem Finger und warf ihn in den Bergbach, um Mara näher zu sein.

Seither begann Mara ihm aus Mailand zu schreiben, auf kuriosem Format, Kärtchen, die in vier mal sechs Zentimeter kleine Kuverts hineinpassten, witzige Sätze, zum Beispiel: Ich bin heute Morgen einer Bürste begegnet.

Jul hatte kein Telefon. Aber eines Tages klingelte die Wohnungsglocke, und als er die Tür öffnete, sprang die Siamkatze von seiner auf Maras Schulter, kaum dass sie ihre Arme um ihn gelegt hatte. Er lachte voll Stolz auf seine Katze, die sich über Maras leicht gebeugten Nacken schmiegte, es war das erste Mal, dass Mara seine Garçonnière betrat. Sie hatte es ihm zuletzt versprochen (als der Ring in den sprudelnden Bach geflogen war). Trotzdem war er überrascht, denn Mara war vom Bahnhof direkt zu ihm gekommen, ihre Mutter wusste nicht, dass sie in der Stadt war. Er ließ das heiße Wasser in das Waschbecken der Küche laufen, schöpfte Nescafépulver in zwei Gläser und sah dann, wie Mara daran nippte und zurückzuckte, sie lächelte und sah sich zwischen Zimmer und Balkon um, er nahm ihr das Kaffeeglas aus der Hand. Es war ihr erstes Geheimnis: dass sie da auf dem Betonbalkon standen und über die Häuser schauten, Mara vielleicht auch in Richtung des Hauses ihrer Mutter blickte, die sie jetzt in Mailand vermutete.

Juls Matratzenbett überragte vielleicht um zwanzig Zentimeter den Parkettboden; seine Siamkatze schlief am liebsten auf dem Kopfpolster, aber sie verschwand sofort, als Mara sich auf der Decke niederließ. Wahrscheinlich vergingen Minuten, möglicherweise auch eine Viertelstunde, bis ihm Maras Veränderung auffiel, eine Veränderung ihrer Haut, zuerst sah er diese winzigen roten Flecken an ihrem Gesicht, dann auf ihrem Hals und auf den Brüsten, ihr ganzer Körper war übersät von diesem Scharlachrot. Er erschrak und dachte, Maras Körper reagiere auf ihn allergisch, auf seinen Bart oder weiß was sonst. Mara atmete schwer, er zog sie hoch, und sie atmete auch stehend nur mit Mühe, hustete, röchelte, er wagte sie nicht mehr mit einer Fingerspitze anzurühren. Sie musste möglichst schnell zu einem Arzt gebracht werden, aber Mara wollte nichts von Ambulatorium oder Krankenhaus hören, sie sagte, ihre Familie habe seit jeher einen Hausarzt, und dem werde sie sich anvertrauen, daher müsse sie, und zwar gleich, zu ihrer Mutter. Es waren ja nur hundert oder zweihundert Meter bis zu ihrem Haus, Jul begleitete sie, aber sie wollte allein mit dem Aufzug in den dritten Stock fahren – er könne sie am Abend anrufen.

Ihr Hausarzt war schon ein älterer Herr, wahrscheinlich einer, der Maras Vater noch aus früheren Zeiten gekannt hatte. Er diagnostizierte bei Mara eine akute Rippenfellentzündung und verordnete zwei Wochen strengster Bettruhe und täglich eine Penicillinspritze. Und so bekam Mara ein gutes Dutzend Ampullen injiziert, obwohl sie keinerlei erkältungsbedingte Entzündung hatte, sondern, wie sich später herausstellte, eine asthmatische Allergie, verursacht und ausgelöst durch Pulcinella, Juls Siamkatze.

Als er am Abend anrief, bekam er nicht Maras ruhige Stimme zu hören, sondern eine Unglückslitanei vonseiten ihrer Mutter, mit freundlich hoch angesetzter Stimme, die sich öfters überschlug, aber ohne Vorwurf ihm gegenüber. Jul begann Mara zu besuchen, betrat zum ersten Mal dieses Haus am Gerichtsplatz, das ihr Vater nicht lange vor seinem Tod gebaut hatte. Ein nüchternes, unauffälliges Wohnhaus der frühen sechziger Jahre, auf italienische Weise rational, mit schmalen, langgezogenen Balkonen und einem Aufzug. Maras Mutter führte ihn zu einem Zimmer, das wie eine Zelle zwischen zwei anderen in einer Art Klostergang lag, einem Seitenarm der großen Wohnung. Plötzlich sah Jul nicht mehr aus einer Garagenperspektive auf ein großäugig vor sich hin sinnierendes Mädchengesicht, sondern stand vor einem fremden Bett, sah auf Mund und Augen, die in Polster versinken wollten. Er war jäh in eine Nähe gerückt und fühlte sich ratlos, auch irgendwie schuldig.

Er kam jeden Tag und er war Maras Mutter dankbar, dass sie ihm so selbstverständlich die Wohnungstür öffnete und ihn die paar Schritte bis zu diesem Zellenzimmer allein weitergehen ließ. Obwohl ihm bewusst war, dass er aus der Sicht dieser Frau wahrscheinlich wie ein Unglück durch die Tür hereintrat. Er war um einiges älter als Mara und hatte eine völlig andere Welt hinter sich. Und schon seine erste Annäherung hatte Mara krank gemacht. Aber Jul tat, was er tat, mit der Leichtigkeit eines Menschen, der sich auf Essen und Trinken freut, aus einer Notwendigkeit, die wie Atmen war. Von jetzt an gehörten sie zusammen. Als Mara sich wieder erholt hatte und nach Mailand zurückfuhr, verabredeten sie, sich Mitte März in Rom zu treffen.

Der Schmerz der Gewöhnung

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