Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 16

12

Оглавление

Dieses Landhaus war Maras Erinnerungshaus, hier hatte sie ihren ersten Hund gehabt, auch ihren ersten Hasen in einer Kiste, hier grub sie sich im Garten mit ihren Geschwistern ein Haus unter der Erde („ich rieche noch die lehmfeuchte Erde, und es war finster, weil wir Bretter über das Loch gelegt hatten, mein älterer Bruder Raffaele rauchte mit Freunden gestohlene Zigaretten, und wir spielten Karten“).

Das Landhaus hatten sie nach dem letzten Weltkrieg gebaut, ein Häuschen, eine Zwergenvilla. Der Vater hatte diesen Maurer aus Sizilien gefunden, Calogero. Sehr früh am Montagmorgen kam Calogero in blauem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte, zog sich hinter einem Bretterverschlag um und schuftete, bis es Nacht wurde. In wenigen Wochen hatte er die Mauern samt Decken stehen. Für unseren Vater wohl der schönste Lebensabschnitt, war Raffaele immer überzeugt, es war sein erstes selbstgebautes Haus, das nur er (und nicht seine sizilianische Familie oder die deutsche seiner Frau) finanziert hatte, ein kleines Haus, das er Ziegel um Ziegel und Brett um Brett bis zum First hinauf mit seinem selbstverdienten Geld hatte bauen lassen. Damals, in den frühen fünfziger Jahren, hatte er, der Meeresmensch, sogar die fixe Idee, sich – wenn schon nicht als Tiroler Bauer, so doch als eine Art Agrarunternehmer – eine zusätzliche Einkommensquelle zu schaffen, vielleicht auch, um der deutschen Verwandtschaft seiner Frau etwas wie ländliche Verbundenheit zu beweisen. Kaum war die Villa gebaut, ließ er ein Waldstück roden, die Wurzelstöcke sprengen und den Boden zu einem großflächigen Erdäpfelacker umpflügen. Zeitweilig beschäftigte er bis zu achtzehn Landarbeiter für das Setzen und Ausgraben der Erdäpfel, wobei auch die Frau und die Kinder mithelfen mussten. Die schönste Stunde am Tag war, erzählte Mara, wenn Mutter zu Mittag mit den Maccaroni in Paradeissoße auftauchte.

Tatsächlich konnten schon im ersten Erntejahr drei Waggons Erdäpfel verkauft werden, aber nach dem zweiten Jahr rebellierte Maras Mutter – sie hatte ihre Kinder und den Haushalt zu betreuen und sollte dazu noch die Arbeitskräfte im Dorf suchen, sie beaufsichtigen und bewirten, während der Advokat in der Stadt hinter dem Studiotisch saß oder in der Toga im Gerichtsgebäude große oder kleine Reden hielt. Also gab Maras Vater das Erdäpfel-Projekt auf und ließ Pfefferminze auf den Äckern säen und später Lavendel. Dazu brauchte es nur von Zeit zu Zeit einen Landarbeiter. Er habe die geernteten Kräuterberge in großen Tüchern fassen und bündeln lassen, erinnerte sich Mara, ja, einmal sei sie selbst mit Vater nach Bozen gefahren, das Auto sei innen bis zum Dach hinauf vollgepresst gewesen mit Kräuterbündeln. Im Süden der Stadt, in der Nähe der Etsch, habe der Vater die Duftbündel in einer riesigen Lagerhalle abgeliefert, also wohl auch verkauft, sagte sie. Aber das hat sich ja alles nicht ausgezahlt, Maras Mutter schüttelte noch in späteren Jahren als Witwe den Kopf, Mitleidslachen um den Mund.

Auf den ehemaligen Erdäpfel- und späteren Minze- und Lavendelfeldern ließ der Vater schließlich Pappeln setzen, ähnlich wie es unter Mussolini in den versumpften Etschauen südlich von Meran geschehen war, Pappeln wie in der Poebene und wie in Teilen von Sizilien, Maras Meeresmenschvater ließ dort, wo er Jahre zuvor, um seine Erdäpfeläcker anlegen zu können, Fichten, Föhren und Lärchenbäume fällen und deren Strünke hatte sprengen lassen, dort ließ er nun Pappeln pflanzen, die schnell wachsen und daher schnell wieder für Bauholz abgeschnitten werden sollten. Zum Schutz vor Rotwild oder Baumdieben ließ er den Jungpappelwald mit einem hohen Stacheldrahtzaun absichern. Aber gerade der Stacheldrahtzaun war das Einzige, erzählte Mara, auf das die Diebe es abgesehen hatten in der abgelegenen Gegend, der Draht wurde ratenweise, Länge für Länge, abgezwickt und fortgebracht. Ihren Vater habe dies tief gekränkt, am Anfang habe er geradezu getobt, zuletzt sei es ihm schon egal gewesen, was mit dem Pappelwald geschah, ob die Pappeln nun wuchsen oder verkamen. Es wurde jedenfalls auch nichts aus der Pappelplantage; in kurzer Zeit sprossen die angeflogenen Samen von Fichten und Föhren, und bald wuchs wieder ein Tiroler Bergwald heran, vor allem Föhren zwischen den südländischen Pappeln, und gediehen so prächtig, dass sie die Laubbäume mehr oder weniger schnell abwürgten. Die Platanen erstickten in wenigen Jahren in einem immer finsterer werdenden Nadelgehölz, und zuletzt war der ursprüngliche Wald zurückgekehrt, den Maras Vater Jahre zuvor mit forstamtlicher Genehmigung, einer mühevoll erkämpften, erstrittenen Genehmigung, abholzen und bis auf die Wurzelstöcke hatte wegputzen lassen. Was davon übriggeblieben war, bekam Jul von Mara auf einem ihrer frühen Spaziergänge durch die Kukuruzfelder und über Wiesenpfade gezeigt: die „Grub’n“ – eine fast bis zur Grenze der Bezirksstadt Bruneck sich hinunterziehende breite Mulde, die streckenweise von einem talwärts plätschernden Bergbach durchschnitten wird. Jul sah ein langgezogenes Stück Wiese, die überging in einen zuerst schütteren, dann immer dichter verwachsenen Wald, und nach längerem Hinsehen, angespornt von Mara („Schau da links unten, und hier auch! gleich neben dem, nein, zwischen den zwei dicken Föhren dort, siehst du?“). Ja tatsächlich, er konnte, zwar mit Mühe, aber nach längerem Hinsehen konnte er vereinzelt ein paar verkümmerte Laubbäume zwischen dem Föhren- und Fichtenwald erkennen, die grünweiße Rinde von schmalen, verhungerten Pappelstämmchen.

Der Schmerz der Gewöhnung

Подняться наверх