Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 19

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Es war ein heller Morgen, ein blauer Südhimmeltag, als er Zia Delia mit dem Taxi abholte zum Friedhof über dem Tal der Tempel. Die Leute standen auf den Trottoirs herum, zwischen den Palmen im Park, im Schatten der Magnolien, vor den Fischgeschäften, in den Bars; die Autos rollten Stoßstange an Stoßstange ohne irgendein Gehupe. Er führte Zia Delia am Arm, bemerkte erst jetzt, dass sie gar nicht so eine hochgereckte Riesin war, sondern ihm eben noch bis über die Schulter reichte, und einen leicht geneigten Nacken hatte sie auch. Das Taxi ließen sie vor dem großen Tor der Totenstadt warten. Zwanzig Minuten etwa, sagte Delia zu dem Fahrer, der ihr mit auffälligem Respekt aus dem Auto geholfen hatte. Einen bunten Strauß in der linken Hand, spazierte Jul mit Delia am rechten Arm langsam in die Nekropole hinein, tatsächlich eine Stadt mit Straßenfluchten und beidseitig aufragenden kleinen Totenhäusern. Flachgräber sah er nur wenige, auf jeden Fall nicht in dem Teil, durch den Zia Delia ihn dirigierte. Kuppelhäupter von Pinien, in denen ein feiner Meereswind wedelte. Und da sah er, noch bevor Delia ihn darauf hinweisen konnte, aus einem Augenwinkel Maras Familiennamen in großen schwarzen Buchstaben auf einem der größten Grabhäuser prangen. Ein etwa sieben Meter hohes und fünf Meter breites Mausoleum, die Stirnwand mit grauweißen Marmorplatten bedeckt, und zwei marmorne Stufen zur drei Meter hohen vergitterten Glastür. Zia Delia sperrte das Schloss auf, Glas hinter schwarzen Metallstangen, und Jul trat in einen Kapellenraum mit Altartisch, zwei dreiarmigen Kerzenständern und einem Kruzifix. Darüber ließ ein Glasfenster, auf dessen blauem Grund weiße grünblättrige Blumen gemalt waren, blässlich gefiltertes Licht herein. Acht braune Kaffeehausstühle luden vor dem Marmoraltärchen zum geruhsamen Meditieren ein. Er setzte sich neben Delia und las die Namen auf den Marmorplatten an der linken Wand, hinter der Maras sizilianische Toten lagen. Zehn Kammern zählte er, sechs davon schon belegt: die Eltern ihres Vaters und vier von deren Kindern. Maras Vater lag nicht hier, er lag in Bozen auf dem St. Jakobsfriedhof unter der Smoghaube der Industriezone, aber beschützt von den so hohen Tiroler Bergen. Als Zia Delia das Familienmausoleum wieder schloss – das Taxi wartet, sagte sie –, ging Jul noch die wenigen Meter zum Ende dieser Totenstraße und hatte den weiten blauen Horizont im Blick, das Meer, über das die Kartharger gekommen waren und die Griechen und die Araber, er sprang auf die niedere Mauerbrüstung und sah unter sich das Tal der Tempel, schüttere Mandelbaumwäldchen, Olivenhaine, und dahinter den langgezogenen Sandstrand zwischen San Leone und Porto Empedocle. Das Licht, die rasende Helligkeit, machte ihm Herzklopfen, Lebenslust.

Damals, als Maras Stimme aus der Telefonmuschel zu ihm drang (und dieser eine Satz, mit dem er alles erfuhr), hatte er sich wie weggerissen von ihr gewusst statt zu ihr hingerissen.

Jul brachte die alte Frau nach Hause und flanierte dann über die sonnengrelle Via Gioeni hinunter zur Porta di Ponte, von dort schlenderte er zwischen Autos und dahintrödelnden Passanten gemächlich die Via Atenea hinauf. Bevor er aber in sein Hotelzimmer zurückkehrte, sah er kurz in die Bar „Arlecchino“ des Benito Peri hinein, obwohl er wusste, dass ihn dessen fensterlose, muffige Bude kaum weiter aufmuntern würde: staubige Flaschen und alte Keksschachteln und vor der Theke kein anderer Kunde. Der schlohweiße Barinhaber mit dem niedlichen Vornamen des einst (und von nicht wenigen noch heute) hochverehrten Duce Benito saß auf einem Stuhl (auf der anderen Seite des Gässchens, das kaum zwei Meter breit war) gegenüber der offen stehenden Bartür und erhob sich erst, als Jul bereits an der unbeleuchteten Theke stand. Vor sich hin summend ließ der rotwangige Benito eine Neonröhre aufflammen und fragte ihn dann in fast verschwörerischem Ton nach seinem Wunsch. Campari? Kein Problem, sogar mit limone, aber ohne Eis.

Ein andermal würde Jul mit dem Alten auch ein paar Worte wechseln, nur heute nicht.

Von einem deutschen Bahnhof aus hatte er – nein, er wusste es genau, es war in Passau gewesen, er hatte am Tag zuvor Studenten interviewt, ein Junge, gerade sechzehn, war aus einem Fenster gesprungen, auf den Platz vor der Nibelungenhalle, Kopf voraus und offenbar freiwillig –, Jul war am Morgen (ohne Frühstück) zu Fuß vom Hotel zum Bahnhof, wollte mit dem ersten Zug über München nach Hause, er hatte zwanzig Minuten bis zur Abfahrt, trank einen Kaffee, kaufte Zeitungen (las mit Wut und Verachtung Reagans neuesten Einsparungsplan im Sozialbereich bei gleichzeitig beschlossener Erhöhung der Rüstungsausgaben) und rief dann aus einer gelben Telefonkabine Mara an. Gestern Mittag hatte er noch Natalie im Ohr gehabt, sie war eben von der Schule heimgekommen –, jetzt war sie tot.

Der Schmerz der Gewöhnung

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