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ОглавлениеMaras Vater kam aus Agrigent in dieses deutschsprachige, seltsame Bergland Südtirol, das die Faschisten (wie schon Napoleon) Alto Adige nannten – Oberetschland. Dieses österreichische Alpengebiet sollte nach Mussolinis Willen schnell italianisiert werden, möglichst von heute auf morgen. Maras Vater kam als Vizefederale, war Centurione (bei Kriegsende General), verantwortlich für die Jugend, die oberste Autorität für Erzieher, vor allem für Turnlehrer, er war für nichts weniger als für die Faschisisierung der Kinder und Jugendlichen zuständig: Die Italianisierung der Südtiroler Zukunft hatte er zu erledigen. Wenn er erfolgreich sein wollte, musste ihm die Verwandlung von (verschiedenartigen) tirolischen Dialekt sprechenden Berg- und Talkindern in italienisch parlierende Faschisten glücken.
Caetano de Pasqua war als Halbwaise herangewachsen, eine von sechs Halbwaisen, die sein Vater zurückgelassen hatte, als er achtundvierzigjährig an Nierenversagen starb. Keine arme Familie, in der Maras Vater mit zwei Schwestern und drei Brüdern groß wurde. Sein Vater hatte das Kapitänspatent der Handelsschifffahrt erworben, war auch Mitbegründer einer Bank und schließlich Direktor an dem hochangesehenen Istituto Tecnico seiner Heimatstadt. Nein, keine arme Familie.
Maras Vater trug, als er nach Bozen kam, den damals so bewunderten Streifen, der die Rom-Marschierer ehrenvoll kennzeichnete, auf dem Ärmel seiner imposanten schwarzen Uniformjacke. Er war einer der jüngsten faschistischen Gauleiter, mit vierundzwanzig Jahren hatte er bereits als Federale in seiner Geburtsstadt Agrigento Befehlsgewalt. Auf einem Foto, das Mara nach seinem Tod von der Mutter gezeigt bekam, sah sie einen kleinen, gertenschlanken jungen Mann, der vor einer auf zwanzigtausend Köpfe geschätzten Menschenmenge sprach, in der Stadt, in der er nur wenige Jahre zuvor noch in die Oberschule gegangen war.
Dass Maras Vater auch Natalies Großvater war – dieser Gedanke hatte Jul nie beschäftigt. Als Natalie geboren wurde, ein Kilo sechzig leicht, war Fasching, eigentlich noch Winter, aber über den Talferwiesen strahlte ein blitzblauer Vorfrühlingshimmel. Ein Engerling war sie, eine überdimensionale Schmetterlingspuppe in einem Terrarium ohne Erde, aber aus Glas. Jul konnte mit hautdünnen Gummihandschuhen durch zwei runde Löcher in den Brutkasten hineingreifen und Natalie berühren.
Dass auch Maras Vater sie hätte berühren dürfen, und sei’s mit Gummihandschuhen wie er, das war Jul über all die Jahre nie in den Sinn gekommen. Erst recht nicht damals in Rom (wie hätte es anders auch sein können), als Mara und er auf umgestürzten, im Gras liegenden Säulensegmenten des Forum Romanum hockten, im Blick großflächige Akanthusblätter, das warme Märzblau des südlichen Himmels und den Vesta-Tempel, und dann doch wieder weiterlasen in dem Buch über die Arbeitskämpfe in den Turiner Fiatwerken. Mara hatte kurzes, aber dichtes, dunkelbraunes Haar, das sie gerne hinter das linke oder rechte Ohr strich, sie war fast knabenhaft schlank. Wenn sie sich berührten, machten sie es wie Verschwörer, als könnten sie damit jemandem einen Streich spielen.