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Er hatte einen Kaffee am Bahnhofsbuffet in Passau getrunken und eine Buttersemmel mit Käse gegessen, bevor er Mara anrief. Maras Stimme wird er für immer im Ohr haben: Ich kann es dir nicht sagen, ich kann es dir nicht sagen. Nun sag schon endlich, was ist – hatte er in die Telefonmuschel geschrien. Und wusste doch schon alles.

Als hätte er etwas versäumt, als müsste er etwas suchen, rannte Jul aus dem Hotel hinaus und durch die verwinkelten Gangliengassen die Salita della Madonna dei Greci hinauf, über die Scaletta Gubernante, hörte am helllichten Sonnenwerktag singende Frauenstimmen aus der Kirche und schlappte an Arbeitern vorbei, die oben auf dem bischöflichen Hügel den Tuffstein an den Mauern der Kathedrale sauberkratzten. Er stieg über die weitgeschwungenen Steinstufen zum Hauptportal hinauf. Es war verschlossen, und so drehte er dem Dom wieder den Rücken zu, ja, er schwenkte seine Arme wie Flügel, weit und breit kein Tourist, kein Passant. Zwischen den Hausdächern blitzte das Meeresblau auf, und rechter Hand sah er tief unten das von Straßenbändern durchzogene Hügelland, Flecken von gedämpftem Mandelbaumgrün, auch Olivenhaine und Weinäcker, vor allem aber die graubraunen, viereckigen Flächen der abgeernteten Weizenfelder. Wo immer er Dörfer ausmachte, waren sie an Hügelhänge oder an die Flanke eines Bergrückens hingeduckt. Bist du mit deinem Leben zufrieden? hatte er unvermittelt Zia Delia gefragt. Wie oder was hätte sie darauf antworten sollen? Sie zuckte die Schultern, drehte ihre nach oben gerichteten Handflächen hin und her. Hab keine Wahl, sagte sie mit erstaunten (oder erschrockenen?) blaugrauen Augen, und er hatte sie zu verstehen geglaubt: Hab nie viel auswählen können. Ihr Mann habe immer jede Wahl gehabt, mehr als genug Frauen und Mädchen, sagte sie und schüttelte ihre hochgehobene Hand.

Mehrmals umrundete Jul die Piazza Don Giovanni Minzoni unterhalb der Kathedrale, trank in der Bar „Duomo“ einen Campari, den der Bruder des Barkeepers erst aus dem Magazin-Verschlag vom Hinterhof holen musste. Langsam, als könnte er so den latenten Druck in seinem Kopf wenigstens im Gleichgewicht halten, schlug Jul dann (mit gerecktem Oberkörper) den Vicolo Seminario hinunter zum Stadtzentrum ein, es wäre auch die Richtung zum Meer gewesen. Vor einem einst wohl häufig aufgesuchten Ladeneingang blieb er stehen: Eine verrammelte Holztür, die bräunlichrote Farbe in winzigen Äderungen zersprungen, blätterte ab, an der Mauer links von der Tür konnte er auf einem verrosteten Blech noch „burro naturale“ entziffern. Als er von dem Vicolo Seminario in die Via Lo Cicero einbog, mit diesem ungebremsten Abwärtsschritt, erschrak er – fast wäre er auf eine kauernde Männergestalt aufgelaufen. Vor einem dieser links und rechts sich immer wieder einmal öffnenden kleinen Hinterhöfe, eigentlich Vorhöfe (cortili), mit oft mehr als einem Stiegenaufgang, also halb auf der Gasse, halb schon innerhalb eines solchen cortile (c. Balletti oder cortile Aranciario), blickte er auf einen gekrümmten Männerrücken, und erst im zweiten Moment begriff er, dass ein schwarzstoppeliger, eher junger Mann über einer Katze kniete. Nach einem flüchtigen Blick wollte Jul schnell vorbei, aber da wandte sich der Fremde ihm zu und hob ihm sogar die Katze entgegen: Verletzt, si è fatto male, sagte er in gutem Italienisch, nicht im Dialekt, auch wenn die Aussprache ihn als Sizilianer auswies. Als ob er ihn als Zeugen erwartet hätte, führte er Jul vor, wie schlecht es der Katze ging, genauer einem Kätzchen, das Jul auf zwei oder drei Monate schätzte. Das Tier zog eine Hinterpfote schlapp über das Pflaster, konnte er deutlich erkennen, aber der junge Sizilianer wollte ihn die Verletzung noch genauer sehen lassen, reckte ihm das braunweiß gefleckte Kätzchen mit einer Hand entgegen, und da sah Jul die Bisswunde, eigentlich die Abbisswunde: Am rechten Hinterbein fehlte die Pfote. Eine Kanalratte vielleicht, kaum ein Hundebiss, meinte der Schwarzstoppelige mit strengem Ernst im Gesicht. In diesem Moment hörte Jul sich reden, sah geradezu, wie er sich an die Stirn griff, weil er so Unwichtiges daherredete: Er sei ein Katzenliebhaber, sagte er, habe jahrelang eine Siamkatze bei sich gehabt, hier freilich sei er ein Fremder, rief er aus und hob die Arme, er kenne in dieser Stadt keinen Veterinär. Da streckte ihm der junge Mann die katzenfreie Hand hin und stellte sich vor: Angelo. Diese Katze müsste zu einem Tierarzt gebracht werden, sagte Jul. Und Angelo, der eine rostighelle Lederjacke trug, nickte zustimmend, andiamo! forderte er sich, die Katze und Jul auf, als ob sie sich nicht zufällig, sondern fix verabredet in dieser Via Lo Cicero getroffen hätten. Aber sie gingen nicht zu einem Veterinär, und vielleicht gab es in dieser Stadt auch keine Tierklinik, immerhin trug Angelo die Katze behutsam an seiner Brust und achtete nicht einmal auf die Blutflecken, die seine Lederjacke abbekam. Am Ende der Gasse überquerten sie die Via Atenea und stapften die abschüssige Via Bagli hinunter, wobei Jul immer wieder den Meereshorizont hinter der einen oder anderen Biegung in den Blick bekam. Der Platz, von dem eine enge Betontreppe zu Angelos Behausung hinaufführte, war auf einer Seite flankiert von vielstöckigen Büro- und Wohntürmen und auf der anderen Seite von einer Kirche mit Glockenturm. Vor seiner Wohnungstür angekommen, reichte Angelo ihm die Katze. Und dann stand Jul mit dem verletzten Tier in den Händen in einem Maleratelier und sah von einem Fenster auf diesen Parkplatz mit Tankstelle hinunter. Während er Angelo half, die Bisswunde, also die Amputationsstelle, zu versorgen (Angelo goss eine Desinfektionsflüssigkeit darüber, Jul hielt die Katze fest umklammert, bis sie, vielfach bandagiert, in eine Kartonschachtel gelegt wurde, die Angelo mit einem Pullover ausgelegt hatte), blickte Jul, ob er wollte oder nicht, auf großflächige Ölbilder, auf Schiffskiele, die in popartiger Ausführung bis auf Handbreite aufeinander zuzustreben schienen. Es war nicht so, dass Angelo ihm seine Arbeiten vorgeführt hätte. Im Gegenteil, er stand nicht neben ihm, lehnte auch nicht an einer Wand und wies ihn nicht auf dieses oder jenes Detail hin. Nein, er winkte ihm zu folgen und führte ihn über eine winkelige Stiege auf eine kleine Dachterrasse über dem Atelier und genoss sichtlich Juls Staunen über den großartigen Ausblick. Tatsächlich glaubte Jul das Meer zu seinen Füßen zu haben, so prall leuchtete das Blau des Wassers bis zum Horizont. Unter sich sah er freilich auch die Tankstelle, davor die daran vorbeiziehende Via Empedocle und direkt unter dieser Straße Zuggeleise, dahinter eine Häuserkulisse, die aber den Meereshorizont nicht zu verdecken vermochte.

Angelo bot ihm ein Glas Rotwein an aus einer grünen Gallonenflasche. Und sie begannen zu reden. Tranken und redeten mitten am Tag, redeten über alles, auch über Angelos Vater, den er früh verloren habe, aber von dem er wusste, dass er dort oben im Norden, in diesem Alto Adige, seine Rekrutenzeit verbracht und sich verliebt hatte in eine Südtirolerin (una ragazza tedesca). Seine Geschichte ist auch meine Geschichte, murmelte Angelo, wenigstens soweit sie seinen Vater zu einem glücklichen oder zu einem unglücklichen Menschen gemacht habe.

Dobbiamo vederci quanto possibile – hatte Angelo irgendwann am Nachmittag gesagt. Und Jul versprach ihn anzurufen. Aber er wusste schon in diesem Moment, dass es zumindest halb gelogen war.

Der Schmerz der Gewöhnung

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