Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 17
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ОглавлениеMaras Vater war Faschist gewesen, ein ranghoher faschistischer Funktionär, nicht irgendeiner, der Mussolini nur verehrte. Und Jul hatte Mara in einer antifaschistischen, außerparlamentarischen Bewegung kennengelernt. Er sah sie während nächtelanger Diskussionen in einer Garage ohne Autos, in einem italienischen Viertel Bozens, nicht allzu weit von der historischen, deutsch-österreichischen Altstadt entfernt, unter einem der schnell gebauten Nachkriegshäuser. Ich sah zuerst, Mara, deine scheinbar ins Ferne schauenden Augen, die mir riesengroß und blau vorkamen.
Aber Mara saß ja immer ziemlich weit weg und das elektrische Licht mag ihn getäuscht haben, auf jeden Fall hatte sie in all der Zeit, in der er sie nur stumm beobachtete, blaue Augen, erst als er mit ihr zu reden anfing, bemerkte er, dass ihre Augen braun waren, braun wie polierte Milchschokolade. Er wusste damals nichts von ihr, außer wie sie aussah und was ihn anzog an ihr – das Italienische, das Fremde, ja, für ihn war sie ein italienisches Mädchen, also etwas Fremdes, das Andere. Er wusste nicht, kümmerte sich nicht, wer ihre Eltern waren, woher sie kam, tatsächlich erschrak er beinahe, als er erfuhr, dass sie eine deutsche Mutter hatte, und zwar eine Mutter, die sich erkundigte, wer das war, der da nach Mara gefragt hatte. Doch Jul hatte lange keine bestimmten Fragen im Sinn. Er hörte der politischen Debatte in dem Garagenkeller abends bis weit über Mitternacht zu, war im Großen und Ganzen einverstanden, wenn es um den Sinn oder die Notwendigkeit von Veränderung ging (ich hätte gerne an einer Veränderung mit Hand angelegt – wie auch immer – ich hätte an jeder Art, Versuchsart von Revolution mitgemacht, ich weiß nicht … hab mir nie im Einzelnen Gedanken gemacht, ob das meine Haut gekostet hätte oder anderer Leute Blut, ich war jedenfalls bereit, auf der anderen Seite zu stehen, auf der Seite jener, denen nicht zugeklatscht wurde, ich wollte was tun für eine andere, natürlich gerechtere Zukunft). Aber konkrete Vorstellungen zu irgendeiner Veränderung gewann er nicht, sah keine Möglichkeit zur Verwirklichung all dieser Dinge, die sie in den nächtlichen Diskussionsrunden besprachen, es ging tatsächlich nicht so sehr um bestimmte Vorschläge oder Pläne, sondern vielmehr um die Erfassung und die Beurteilung der erlebten gesellschaftlichen Situation. Gegen Mitternacht überkam ihn zunehmend Müdigkeit, sein Schlafwiderstand ließ nach, es fiel ihm von Minute zu Minute schwerer, die Augen offen zu halten. Die Garagenwände waren kahl, rau in ihrer betonierten Nacktheit, nicht einmal ein Plakat, kein Poster, kein Manifest hingen daran, alles Klebbare löste sich nach einem Tag oder schon in einer Nacht von den Wänden und fiel zu Boden, rollte sich ein. Jul schaute auf diese grauen Wände, hörte die düsteren Analysen und verglich Maras Augen mit den Augen der anderen.
Er weiß nicht den Tag und auch nicht, wo er erfahren hat, dass Maras Vater Faschist gewesen war, wahrscheinlich hatte Mara es ihm gesagt, aber dass sie die Tochter eines toten Faschisten war, störte seine Gefühle nicht. Dass er und sie zusammen auf die Straße gingen, um auf der Seite der anderen zu sein, der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen, vielleicht löschte das für sie die Vergangenheit ihrer Väter aus: Auch Juls Vater war ein Nazi gewesen, kein großer und kein kleiner Funktionär, aber doch einer von den vielen Mitläufern.