Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 26

22

Оглавление

Wann immer Mara nun an Wochenenden nach Bozen kam, fuhren sie in die Wälder um den Montiggler See, wanderten auf den Traktorwegen der Weinäcker, saßen auf nachmittäglich heißen Gasthofterrassen unter Weinlauben. Sie kauten Speck und Käse, tranken Kalterer oder Magdalener oder Lagreindunkel. Er redete mit Mara italienisch, weil sie für ihn eine Italienerin war. Auch wenn sein Italienisch wohl hölzern klang, mit deutschem Akzent. Aber er liebte Maras italienisches Reden wie eine Geheimsprache, die ihre gemeinsame Nähe nach außen absicherte.

Was ihn verwunderte und irgendwann auch ärgerte, war, dass ihre deutsche Südtiroler Mutter auch italienisch mit ihr sprach, nicht viel weniger hölzern als er und ebenso mit diesem deutschen (Crucco-)Akzent. Denn Mara konnte Deutsch sprechen, lesen und schreiben, ihr sizilianischer Vater hatte sie als einzige seiner Kinder in eine deutsche Volksschule geschickt. Trotzdem redeten ihre Mutter und auch Jul italienisch mit Mara – die Mutter vielleicht aus einer Art Treue zu ihrem Mann, während Jul glaubte, dass Maras Gedanken und Gefühlswelt durch und durch italienisch sein müssten, möglicherweise, weil er sie zuerst nur Italienisch reden gehört und überhaupt unter Italienern kennengelernt hatte. Tatsächlich war Maras Deutsch anfangs vielfach ein italienisches Deutsch. Sie übersetzte spontan italienische Denkweise zu wörtlich ins Deutsche und beging auch entsprechende kleine grammatikalische Sünden, von denen sie einige nie endgültig ausmerzen sollte. Aber für Jul waren diese Sprachabweichungen oder Redeeigenheiten (Mara sagte zum Beispiel, wenn sie vom Ehemann einer Frau sprach, statt ihr Mann immer wieder einmal sein Mann) von einem besonderen, fast exotischen Reiz, sofern sie überhaupt deutsch miteinander sprachen, was in der ersten Zeit selten geschah, und wenn, war es wie Ballspielen, auch eine Art Liebesspiel oder der wechselseitige Versuch, hinter die Grenze des anderen zu gelangen, einzudringen in das Andere, in das abenteuerliche Unbekannte. Er liebte an Mara die Fremde oder überhaupt das Fremde.

Und so wanderten sie, Italienisch sprechend, auch durch ihren ersten Mai, der kühl war zu Füßen des Skiberges und windig, aber für Stunden, wenn die Sonne durchbrach, öffneten sich die Löwenzahnblüten, und die leicht geneigten oder welligen Wiesen verwandelten sich in wogendes Gelb. Es war schön, aufwärts dem Waldgrün entgegenzugehen, dann den Bach zu überqueren, auf die kugeligen, weißgrauen Steine hinunterzuschauen, im Ohr das Aufglucksen, Aufsprudeln des abwärtsdrängenden Bergwassers, und irgendwann abzubiegen, an friedlich geduckten Häusern vorbei, zwischen Stadel, Stall, Misthaufen und dem Wohngebäude eines Gehöfts hindurch, schließlich ins unbewohnte Freie der Wiesen, streckenweise noch an grau verwitterten Lattenzäunen entlang, erdig und in der Mitte mit Grasnarben besetzt die Wege, manchmal durchschnitten vom mageren Lauf eines Wiesenbächleins, Holunderbüsche erst im Ergrünen. Für Jul ein Wandern durch die Gerüche seiner Kinderwünsche, die er in einem anderen Dialekt gedacht, geträumt oder auch ausgesprochen hatte, jetzt versuchte er sie zu übersetzen, sie Mara auf Italienisch nahezubringen, so wie sie ihm die Baumgruppen oder auch einen einzelnen Baum zeigte: am Waldrand die dickstämmige Lärche, unter deren zum Teil blankliegenden Wurzeln sie Höhlenhäuser, Rindenhäuser, Grashäuser gebaut und eingerichtet hatte. Möglicherweise war es hier oder doch in dieser Zeit, dass sie plötzlich deutsche Wörter einschob und dann auch halbe Sätze, schließlich ganze und ihn anlachte, als wollte sie die gemeinsame Berechtigung, diese Wiesen und diese Bäume als Heimat zu haben, in sein Bewusstsein bringen.

Auf dem Weg nach Lamprechtsburg nahm er in winzigen Portionen Besitz von Maras zwiespältiger Heimat, und sie verwandelte sich allmählich, je öfter sie ihre Kindheitswege gemeinsam gingen, von einer italienischen Italienerin in eine deutsche Italienerin (von einer aus Mailand oder Bozen gekommenen Italienerin in eine deutsche Italienerin) und von einer deutschen Italienerin in eine italienisch-deutsche Südtirolerin, in jedem Fall verwandelte sie sich in eine andere – zum einen war sie ein Pustertaler Mädchen, das vom frühesten Kleinkindalter hier durch diese Wiesen gelaufen war, in diesen Wäldern Beeren und Pilze gesucht und gepflückt hatte, mit ihren Händen in diese Erde eingetaucht war zu den Erdäpfeln ihres Vaters, das mit den Bauernkindern gespielt und auf die Gipfelzacken der Ahrntaler Berge geschaut hatte wie ihre Mutter, deren Mutter von einem armseligen Bauernhöfl in Taisten als Kellnerin in dieses Bergstädtchen Bruneck gekommen war und dort Maras Großvater geheiratet hatte, diesen Kirchenkuppel klempernden, Milch- und Waschschüssel herstellenden Schmied, Witwer und Sonntagsjäger, auch Kartenspieler – zum anderen war Mara für Jul die sizilianische Italienerin oder überhaupt die Sizilianerin, deren Vater als Kind und als Erwachsener auf die Reste einer griechischen Tempelstadt schaute, an der Südküste der größten italienischen Insel geboren, mit vielleicht griechischen, normannischen und arabischen Ahnen im Blut, ein hochrangiger Befehlsvollstrecker, nach Südtirol gekommen, um diese alpine Habsburgerwelt in ein faschistisches Stück Italien zu verwandeln. Jul begann Mara von einem Mal zum anderen verschieden zu erleben, wurde allmählich zum Mitwisser ihrer Verschiedenheit. Aber sie lebten jetzt, am Anfang und auch lange danach nur im Jetzt.

Der Schmerz der Gewöhnung

Подняться наверх