Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 7
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ОглавлениеDie nächste Nacht verbrachte Jul in einer Pension „Ferrara“. Die hohe Flügeltür ließ sich nicht abschließen, und auch wenn er den Schlüssel umdrehte, genügte ein Ruck gegen die Klinke, dann war für jedermann der Eintritt frei. Er schob einen Stuhl formhalber gegen die Tür. Da sah er einen handgeschriebenen Zettel hängen, keinen Preiszettel oder Ähnliches, sondern einen mit blauem Kugelschreiber sorgfältig geschriebenen Beschwerdebrief irgendeines Vorbewohners, und keine Putzfrau hatte ihn bemerkt oder es wert gefunden, ihn an die Pensionsinhaber weiterzureichen. Der Schreiber beklagte sich im Übrigen ja auch, dass er in den acht Tagen, die er das Zimmer benützt habe, nie eine Reinemachfrau gesehen hätte, und die Urin-, Kot- und Spermaspuren auf dem Fliesenboden seien immer die gleichen geblieben. Nun, Jul war froh, endlich wieder ein Bett hinter vier Wänden für sich zu haben. Er war den ganzen Tag gefahren, mit dem Zug und dem Flugzeug, wollte eigentlich in Catania noch den Nachtbus erreichen nach Agrigent, schaffte es aber nicht, sein Flug war wegen technischer Probleme mehrmals verschoben worden. Als er endlich landete, war der letzte Bus schon weg. Jedenfalls war die Bettwäsche, soweit er bei dem mageren Lampenlicht sehen konnte, wohl unbenützt. Das nächste Hotel beim düsteren Bahnhof war, wie der junge Portier sagte, schon völlig belegt, was Jul wunderte, er wischte sich den Schweiß vom Gesicht, eine Nacht wie eine warme Sommernacht am Meer, zweiunddreißig Grad tagsüber, meinte der Portier, der ihm zu einem Bett verhelfen wollte und ihn deshalb durch eine Tür, auf der „Privat“ zu lesen war, und über eine Kellerstiege in einen Raum hinunterführte, in dem zwei Betten mit Matratzen (aber ohne Wäsche) standen und dessen zweite offene Tür, eine Art Garagentor, den Blick auf einen dunklen Hinterhof oder Lagerraum freigab. Also zog Jul mit Dank weiter, durch menschenleere, smoggraue Straßen. Dreck auf den heruntergelassenen Geschäftsrollos, er fragte werkelnde Straßenkehrer, konnte nicht glauben, dass es in Bahnhofsnähe kein zweites Hotel geben sollte, fragte auch bei einem Zeitungskiosk, alle wiesen ihn weiter „geradeaus, dann links, dann rechts“ – schließlich irrte er durch finstere Gassen, aber die Punks, die er vor einer schließenden Pizzeria fragte, gaben sich sehr freundlich: Wieder links, geradeaus und dann rechts, bis er endlich am Ende aller Straßen auf diese Pension „Ferrara“ gestoßen war.
Eine vier Meter hohe Jalousientür ließ sich öffnen, davor ein schmales Balkönchen, dessen Stangengeländer ihm gerade bis zum Bauchnabel reichte. Er sah auf ein Gässchen, halb zugedeckt von niederen Hausdächern, nicht weit entfernt ragte eine pompöse Barockfassade auf, wohl eine Kirche. Bis zum Morgen hin hörte er immer wieder einmal das Husten eines Mannes und von Zeit zu Zeit eine keifende Frauenstimme – alle Schlafzimmerfenster bei dieser Hitze wohl wie seines geöffnet. Dann rumpelten die Mülleimer durch die Gasse. Er hatte Glück: Um sechs fand er ein Taxi, das ihn zum frühesten Autobus nach Agrigento brachte.