Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 13
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ОглавлениеTagsüber, manchmal auch noch nach Mitternacht, drängten Stimmen an seine Tür, dann wurde diese Tür zunehmend dünner, eine durchlässige Haut, die ihn gerade noch vor Blicken schützte, nicht aber vor den schrillen oder herausgekehlten Worten auf dem Korridor. Am Vormittag waren es fast nur Arbeitsrufe zwischen dem Portier Mario und dessen Bruder Salvatore oder zwischen Mario und Lucia, der unauffälligen Putzgehilfin, die jedoch von den pensionierten, siebzig- und achtzigjährigen Gerichtsbeamten, Buchhaltern und Geometern, den Dauergästen des Hotels, bei jedem Sichtkontakt im Stiegenhaus oder im Gang oder unten in der Halle wie eine Schönheitskönigin begrüßt („Buon giorno, bellissima“) und mit geschnurrten oder geglucksten Komplimenten überhäuft wurde. Niemand in diesem Hotel dachte offenbar daran, dass sich irgendjemand von lautem Gerede gestört fühlen könnte. Tatsächlich fühlte auch Jul sich nie davon gestört, schon gar nicht erschreckt, im Gegenteil, diese Stimmen waren für ihn wie Lebensgesang. Er versuchte nicht, die einzelnen Worte zu verstehen – sie waren wie das Heranklatschen der kleineren und größeren Wasserränder am Meer (oder als hörte er Radio während des Rasierens, auch wenn er weder Radio noch Fernsehen in seinem Zimmer hatte). Das Auf und Ab der Stimmen war so etwas wie ein Taucherschlauch, an dem er in der Tiefe hing. Sogar dann, wenn sie mitten in die Nachmittagsstille hinein plötzlich durch die Wände hereinbrachen, keifende Frauenstimmen, japsende Altmännerwut, ein Hin- und Hergezerre zwischen Fisteltönen und Raucherbass, nicht selten noch spät nach Mitternacht – besoffenes Gezänk, Hurengekeife.
Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, bis er nach Tagen Maras einzige Verwandte in dieser Stadt anrief, Zia Delia, die Witwe ihres Onkels Vincenzo, der der ältere Bruder ihres Vaters gewesen war. Zunächst schien es die Hausnummer gar nicht zu geben, schließlich fand er heraus, dass er auf der falschen Straßenseite suchte, dort wo die ungeraden Nummern waren, sie aber hatte eine gerade. Es war ein fünfstöckiges Haus oberhalb des pompösen Post- und Telegrafenpalasts aus der Duce-Zeit, an einer guten Straße gelegen, ein graugrün gestrichenes Haus mit einer marmorierten Treppe. Den Lift benützte er nicht, lief schwitzend das Stiegenhaus hinauf, bis endlich im letzten Stock schon eine Wohnungstür offen stand. Keine gebückte runzelige Frau in schwarzem Kleid und schwarzem Kopftuch gab ihm die Hand, nein, Zia Delia wirkte eher wie eine Dame, großgewachsen, silberhaarig kam sie ihm in einem metallblauen, um die Hüften gefältelten Kleid entgegen, schritt wortlos lächelnd vor ihm her über den Fliesenboden ins Wohnzimmer: fünf Meter hohe Wände, drei gleich große, gleichfarbige (blaurötlichgraue) schmale Perserteppiche, ein langes Kanapee, Glastischchen und zwei Polstersessel. Jul trocknete mit einem Taschentuch sein Gesicht, blickte vom Kanapee auf diese fremde Frau, die abwartend ihm gegenüber in einem der goldbezogenen Polstersessel saß. Was sollte er reden? Warum er hier war? Um Grüße von ihrer Nichte Mara zu bringen. Fast fühlte er einen Anflug von Scham, ein Fremder für sie zu sein, dazu noch ein deutscher Fremder, und war doch ein auf Sizilianisch sehr ernst genommener Verwandter: Du bist Maras Mann, also gehörst du zur Familie, auch wenn du noch so deutsch bist, schnaubte Delia freundlich empört. Vor Jahren war er schon einmal in dieser Stadt gewesen, damals mit Mara, er wunderte sich, dass Delia sich daran erinnerte. Sie war eine pensionierte Lehrerin, hatte vierzig Jahre, wie sie selbstironisch zugab, Mathematik unterrichtet. Jetzt wollte sie von ihm auf ihr Alter geschätzt werden, sie sah wie Mitte siebzig aus, aber er wusste, dass sie zehn Jahre älter war, und heuchelte. Dem Kanapee gegenüber ein hoher gerahmter Spiegel über einer ebenholzschwarzen Konsole, eigentlich ein Flügelkästchen, rechts davon (in seinem Blick) das gemalte Porträt einer sehr schönen jungen Frau, die schwarzen Locken zu einer Haarkrone aufgesteckt, von der zu beiden Seiten geringelte Strähnen auf die Schultern fielen. Er musste immer wieder auf dieses Ölbild schauen, auf diese sinnlich vollen Lippen und die dunklen Augen, die nicht lächelten. Zia Delia folgte seinem Blick: Maras Urgroßmutter, sagte sie (la bisnonna di tua Mara), deren Mann habe sie gemalt. Ja, ja, er war Maler. Das wusste er schon, dass Maras Großmutter einen malenden Vater gehabt hatte. Und dass sie geheiratet wurde von einem Kapitän der Handelsschifffahrt, der mit achtundvierzig Jahren starb, der Vater von Maras Vater. Zia Delia bot Jul einige Aperitifs zur Auswahl an, und er nahm sich ein Glas Chinotto. Eigentlich wollte er Delia fragen, wie sie sich an Maras Vater, ihren Schwager, erinnere, wie sie ihn gesehen, erlebt habe. Aber er fragte nichts von alldem, ja, ob der Bahnhof und das Postgebäude in den zwanziger Jahren, zu Mussolinis Zeiten gebaut … Natürlich, so sahen sie doch aus, besonders das Postgebäude mit den in den Himmel reichenden Säulen und dem kolossalen Krieger-Fresko. Auch das Gebäude der Banca d’Italia war zu dieser Zeit errichtet worden. Auf dem jetzigen Bahnhofsareal sei ein Familiengrundstück enteignet worden, murmelte Delia. Eine kalte Gleichgültigkeit lähmte ihn. Um nicht unhöflich zu sein, versprach er, sie noch einmal in dieser Woche anzurufen: Vielleicht könnten wir gemeinsam das De-Pasqua-Familiengrab besuchen? Sie nickte ihm mehrmals zu: Sì, sì, warum nicht!
Statt den Lift zu benützen, rannte Jul die Treppen vier Stockwerke hinunter, lief zum einzigen Kino der Sechzigtausendeinwohnerstadt und verschlang Kubricks „Eyes Wide Shut“, er war von jedem nackten Frauenarsch auf der Breitleinwand hingerissen.