Читать книгу Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer - Страница 5
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ОглавлениеBald nach Natalies Tod hatte dieses Kopfweh begonnen, eigentlich mit dem Knarren des Friedhofstors, als es ins Schloss fiel. Vor vielen Jahren jedenfalls schon. Ein dumpfer Druck, der plötzlich einsetzte, wenn er alles wieder vor sich sah. Auch mitten in der Nacht. Obwohl er nicht dabei gewesen war, eine Woche vor ihrem neunten Geburtstag. Aber er sah alles vor sich, als ob er zugeschaut hätte, sah auch das durchsichtige, leicht chlorisierte bläuliche Wasser.
Durch das offen stehende Fenster drang die kühle Nachtluft ins Zimmer, aber noch nicht genug Dämmerlicht, dass er Maras Gesicht auf dem Kissen neben sich hätte betrachten können. Er hörte eine Weile ihrem leisen Atmen zu, dann streckte er den Rücken durch, legte die Hände flach auf den Bauch, dachte sich als Embryo, halb eingerollt in seinem Bauch. Das Kopfweh ließ nicht nach, es musste schon im Schlaf da gewesen sein und war stärker und stärker geworden, bis es ihn geweckt hatte. Ein dumpfes Drücken, von innen gegen sein Schädeldach. Ohne die Lampe anzuknipsen, schob er die Beine zum Bett hinaus, tastete nach der Tür. Im Bad machte er Licht, sah auf die Armbanduhr: halb vier. Sein Gesicht sah ihn im Spiegel forschend an, er hatte nicht getrunken, seit Wochen, Monaten hatte er nicht mehr getrunken. Jetzt, da er vor dem Spiegel stand, ließ der Kopfdruck nach; er trat auf die Terrasse hinaus: Durch einen dichten Hochnebelschleier schimmerte ein halber Mond. Es würde ein sonniger Tag werden, ein heißer Spätsommertag. Langsam gewöhnte sich sein Blick an das Dämmergrau, er atmete tief durch. Die Kopfschmerzen waren verschwunden – die frische Luft, sagte er sich, aber als er wieder im Bett lag, auf dem Rücken, war der Druck erneut da.
An diesem Morgen, Nebelschwaden hingen noch über den Wiesen, begleitete ihn Mara zum Waldkopf hinauf. Der Hund sprang auf den ersten Metern kläffend um sie herum, ließ sich tätscheln und lief ihnen schließlich weit voraus. Der wilde Kirschbaum am Waldrand verlor schon die ersten gelb und rot verfärbten Blätter. Mara ging vor ihm her, solange der Weg für zwei zu schmal war. Als sie aus dem ersten Waldstück heraustraten, zeigte er auf zwei, drei Raben auf der gemähten Wiese: Die sehe ich da jeden Morgen, und dann sagte er: Ich werde wegfahren. Sie durchfurchten mit ihren Schuhen das taunasse Gras, das knöchelhoch auf dem Weg stand. Mara hielt nicht an, schien nicht überrascht, fragte im Gehen: Wohin fährst du?