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Kapitel 17:

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Dienstag früh reisten Julia und ihr Cousin wieder ab. Phillip drückte sie zum Abschied ausdauernd an sich und küsste sie wie selbstverständlich auf die Wange. „Vielen Dank für alles. Es war wunderschön hier und ich hoffe sehr, wir bekommen es in nächster Zeit noch öfter miteinander zu tun“, flüsterte er in ihr Ohr und ließ zum letzten Mal seine Grübchen spielen.

Ob er sich kurz vorher wohl auf die gleiche Weise von Anne verabschiedet hatte?

Während sie zuschaute, wie Phillip sein Gepäck angesichts der kommenden Serpentinen noch einmal umsortierte, wunderte sich Paula insgeheim darüber, dass vom Arzthaus niemand zu sehen war. Als sie die Julia gegenüber erwähnte, kicherte diese fröhlich und teilte ihr mit, dass die Familie Martin gerade über Gebühr beschäftigt wäre und sich entschuldigen ließe.


In der Tat saß Punkt neun Uhr das komplette Wartezimmer mit Patienten voll. Wer keinen Platz gefunden hatte, stellte sich im Flur an.

Josepha, die fünf Minuten vorher noch völlig vereinsamt in einer veralteten Illustrierten geblättert hatte und gerade dabei war, sich eine neue, dramatische Krankheit auszudenken, floh bei der Invasion der Dorfbevölkerung Hals über Kopf nach Hause. Zu ihrem Schrecken hatte sie den eigenen Vater unter der Schar der leidenden Patienten entdecken müssen und geriet dadurch unweigerlich in Erklärungsnot.

Die Geschwister Martin bekamen in den nächsten Stunden notgedrungen den Eindruck, dass halb Lämmerbach seit Ostern dem Siechtum verfallen sei. Es gab Rückenbeschwerden, uralte Verstauchungen, ungeklärte Hustenanfälle, eingewachsene Zehennägel, geheimnisvolle Kopfschmerzen und Durchfall zu behandeln. Manche berichteten von Herzbeschwerden und hatten Probleme beim Wasserlassen, die aber kurz vor der einer detaillierten Inspektion zum Glück von selbst wieder verschwanden.

Selbst Onkel Edwin litt an einer seltenen, aber äußerst kritischen Form der Magenverstimmung. „Do siehgst, mir brauchn hier dringend en Arzt, Daniel“, sagte er im Anschluss an die Behandlung treuherzig. „Au so an kleiner Ort hat unter Umständ viele Kranke.“

Daniel sagte nichts zu dem offensichtlichen Wink mit dem Zaunpfahl. Er machte brav seine Untersuchungen, legte Krankenkarten an, sammelte die Geschenke ein, die man ihm aus Bestechungsgründen mitgebracht hatte, verabreichte bei den wenigen Fällen von tatsächlich Erkrankten Medikamente und fuhr gegen Abend, als sich das Wartezimmer endlich geleert hatte, sichtlich erleichtert in sein Heimatkrankenhaus zurück. Ungerührt überließ er die Lämmerbacher für die nächsten Wochen ihrem scheinkranken Schicksal.


Paula genoss die darauffolgende Ruhe, in dem Wissen, dass sie nicht lange anhalten würde. In einer knappen Woche stand die Schulinspektion an. Sie hatte diesen Termin in weiser Absicht bisher so gut es ging verdrängt, aber nun gähnte er wie ein bodenloser Abgrund vor ihr und spendete ihr gleich eine Serie von unruhigen Nächten.

Mit ihr lebte das ganze Dorf nervös auf diesen Termin zu. Jeder wusste, dass die Zukunft der Schule und somit der Kinder von Lämmerbach vom Erfolg dieses Besuches abhing.

Paula hoffte, dass ihre Schulkinder das auch wussten und sich ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit halbwegs zivilisiert benehmen würden. Ob sie Josepha vorher ihre Jugendzeitschriften abnehmen sollte und Hannes den MP3- Player? Vielleicht konnte sie Peter auch überzeugen, neben Nicole zu sitzen und nicht wie üblich schmollend an seinem einsamen Tisch bei der Tür. Und Fritz’ Schultasche musste sie unbedingt vorher inspizieren. Dann wäre es natürlich gut, sich zu überzeugen, dass die Leipolds auch tatsächlich zum Unterricht erschienen….


Pfarrer Ebershäuser hatte Erbarmen und schloss sie alle am Sonntag in sein Fürbitte-Gebet ein. Er predigte über den Bibeltext: „Wenn jemand Weisheit mangele, so bitte er Gott, der da reichlich gibt.“

Paula lauschte so konzentriert wie selten zuvor und beschloss, zur Unterstützung noch ein paar Privatgebete zu investieren. Ihr fiel auf, dass sie in letzter Zeit gar nicht mehr so regelmäßig gebetet hatte, wie zu Beginn ihres Hierseins. Ob man immer erst Probleme brauchte, um zu einem treuen Beter zu werden? Warum hatte sie nur ständig die Tendenz, in ihrem Glaubensleben, sobald es wieder halbwegs glatt lief, lau zu werden? Dabei war ihr Gott im letzten halben Jahr viele Male gnädig gewesen, hatte sie vor Unglück bewahrt, die nötige Kraft für die Schule geschenkt und andere Menschen an ihre Seite gestellt, die mit ihr gemeinsam die Last des Alltags trugen. Als Antwort darauf hatte sie ihm kaum gedankt oder wenn, dann oft nur mit halbem Herzen.

Sie nahm sich vor, es in Zukunft besser zu machen. Lämmerbach brauchte in nächster Zeit dringend göttliche Unterstützung oder, um es mit dem verstorbenen Doktor Martin zu sagen, ein paar zusätzliche Wunder. Und das nicht nur im Bereich der Schule. Auch die Sache mit dem Käse und der angefragten Fernsehdokumentation war noch lange nicht vom Tisch. Anne hatte erst neulich ein dringliches Schreiben mit einem Terminwunsch für die Dreharbeiten bekommen.


Bergdorf sucht... Arzt

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