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Kapitel 6:

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Die nächste Woche verflog nur so. Paula machte es beinahe schon Spaß, zu unterrichten. Selbst das „Mehrere-Fächer-und-Klassenstufen-Parallel-System“ war allmählich zu bewältigen. Außerdem gab es inzwischen wieder die volle Stromdosis und das komplette Lebensmittelsortiment. Jeder wusste diesen Luxus zu schätzen und zeigte sich dankbar.

Die letzten Tests hatten dazu weitestgehend erfreuliche Ergebnisse gebracht. So allmählich glaubte Paula, dass die meisten ihrer Schüler die Klassenabschlussprüfungen schaffen konnten, wenn sie sich in dem Maße weiter steigerten.

Allerdings stand die Schulinspektion in wenigen Wochen an und niemand konnte ihr bislang sagen, wie diese ablaufen würde und was man dabei von ihr erwartete. Julias Antwort ließ noch auf sich warten. Über das hinaus besaß sie wenig Vergleichsmöglichkeiten, was den Leistungstand der verschiedenen Klassenstufen betraf. Zu allem Unglück bekam Jörgs ehemaliger Laptop in letzter Zeit häufig eine Art Schluckauf, was hieß, dass es ständig Aussetzer gab, so dass er nur noch bedingt für den Schulunterricht geeignet war. Hannes hatte ihn bereits mehrfach auseinandergeschraubt, mit dem Ergebnis, dass er beim Starten nun nicht einmal mehr hochfuhr.


Am Freitagabend kam endlich Julias Rückruf.

Hannes schaute gerade einen billig produzierten, dafür umso lauterer Actionfilm, so dass sich Paula mitsamt Telefon ins Bad einschloss.

„Hallo, Süße“, wurde sie begrüßt und dann kam die Anruferin ohne Umschweife zur Sache. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe für dich meine Beziehungen spielen lassen und schrecke dabei nicht einmal vor meiner eigenen Verwandtschaft zurück.“

„Das verspricht spannend zu werden.“

„Mit Sicherheit. Aber immer der Reihe nach. Ich werde damit vermutlich nicht alle eure Probleme lösen, dazu müsste man Gott sein, aber ich habe mir Mühe gegeben.“

„Sehr löblich.“

„Wegen des Besuchs deiner Schulbehörde mach dir mal keine allzu großen Gedanken. Wir werden dir ein Fremdcoaching einrichten.“

„Ein was?“

„Guter Ausdruck, findest du nicht? Das soll heißen, unsere Schule wird dich in allen wichtigen Fragen coachen. Es hat sich immer ein Fachlehrer gefunden, auf den du im Notfall per Internet oder Telefon zurückgreifen kannst, falls dir deine Behörde wegen fachfremden Unterrichtens an den Karren fahren will. Sie würden auch notfalls irgendwelche Klausuren für dich erstellen und die deiner Schüler korrigieren, falls das notwendig sein sollte. Frau Hillmann, der Schrecken aller Schüler, ist zum Beispiel darunter. Sie möchte dir gern geographisch und biologisch unter die Arme greifen.“

„Du meine Güte, wie hast du denn die dazu gebracht?“

Als Antwort folgte erst ein kleines Kichern, dann eine wohldosierte Pause. „Ich habe ihr von Opa Vollmer vorgeschwärmt und nebenbei erwähnt, dass es bei euch nur so von rüstigen Senioren wimmele. Das gesunde Gebirgsklima wirke sich äußerst vorteilhaft auf alle Bereiche des täglichen Lebens und Liebens aus.“

Paula stöhnte verzweifelt. „Du bist dir schon im Klaren, was du da tust?“

„Schwierige Situationen erfordern unkonventionelle Lösungen… Die Not rechtfertigt auch verzweifelte Mittel. Wahrscheinlich wird der Direktor demnächst einen Lehrerausflug nach Lämmerbach organisieren…“

„Du machst nur Spaß, oder?“, fragte Paula hoffnungsvoll.

„Okay, ich gebe zu, das war übertrieben. Aber vielleicht siedelt Frau Hillmann nach ihrer Pensionierung zu euch über. Wer weiß? Ich finde, so jemand wie sie würde euer Dorf echt bereichern.“

„Und wer steht sonst noch auf der Liste?“

„Ich natürlich und… das Beste habe ich dir bis zum Schluss aufgehoben: Jörg Markhoff. Falls du in Physik irgendwelche Probleme haben solltest, kannst du dich jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden, soll ich dir ausrichten. Im Notfall käme er sogar für einen Kurzurlaub vorbei.“

Paula wäre vor Überraschung beinahe in die leere Badewanne geplumpst, auf deren Rand sie sich niedergelassen hatte.

„Vielleicht leistet er sich im Nachhinein ein schlechtes Gewissen. Oder es liegt daran, dass ihn seine neueste Flamme, eine Jungreferendarin, abserviert hat. Die ist leider nicht so taktvoll wie du. Seither gehen Gerüchte in der Schule um, dass nur halb so viel an ihm dran wäre, wie er andere gern glauben machen wolle.“ Julia kicherte.

Paula schwieg zu dem Thema sicherheitshalber.

„Und dann wäre da noch die Sache mit der Verwandtschaft.“

„Stimmt, von der war ja noch gar nicht die Rede.“

„Genau. Ich habe mir in den letzten Tagen ein paar Gedanken zu deinem Lämmerbach gemacht. Der Pass ist wirklich ein Problem. Trotzdem müsste dieser Ort belebt werden.“

„Irgendwie habe ich bei diesem Wort ein flaues Gefühl, zumindest wenn es aus deinem Munde kommt.“

„Unterbrich mich bitte nicht ständig. Jetzt wird es nämlich kompliziert und ich muss etwas ausholen. Nenne es Fügung oder Schicksal oder auch Gottes Wille, das ist mir egal, aber ein Cousin zweiten Grades von mir ist ebenfalls Lehrer und zusätzlich ausgebildeter Psychologe. Er unterrichtet an einer Schule für schwer erziehbare Jugendliche. Eine Art privates Internat.“

„Und das sagst du mir erst jetzt? Wann kann ich Hannes anmelden?“, warf Paula sofort ein. Ihr Bruder war ja von seinem Film ausreichend abgelenkt und mithörgehindert.

„Wenn du mich ein weiteres Mal unterbrichst, lege ich auf und rufe dich erst morgen wieder an.“

„Okay“, sagte Paula sofort. „Was ist mit deinem Cousin zweiten Grades?“

„Tja, seit sein Chef vor einem halben Jahr in Pension gegangen ist, leitet er gewissermaßen kommissarisch dieses Internat. Es ist für Jungs ab der neunten Klasse. Und obwohl mein Familiensinn normalerweise nur schwach ausgeprägt ist, kam mir Phillip nach unserem letzten Telefonat urplötzlich in den Sinn. Deshalb rief ich ihn am Wochenende an. Und du wirst es kaum glauben: Es gibt an dem Ort, an dem das Internat zurzeit behelfsmäßig untergebracht ist, ziemliche Probleme. Ich muss dir ja nicht viel erzählen, was eine Horde Jungs in dem Alter so alles anstellen kann. Auf alle Fälle fürchten die Bewohner dieser Kleinstadt um die Unschuld ihrer Jugend und die Sicherheit ihres Eigentums. Lange Rede kurzer Sinn: Ich habe Philipp vorgeschlagen, er soll mit seiner Rasselbande nach Lämmerbach ziehen und ihm in den höchsten Tönen von diesem beschaulichen Ort vorgeschwärmt. Platz und leerstehende Häuser habt ihr ja wohl mehr als genug.“

Paula dachte angestrengt nach. „Und du glaubst wirklich, er würde mit seinem kompletten Internat in dieses halbverlassene Tal ziehen? Das wäre ein echtes Wunder.“

„Ich glaube es nicht nur, er hat sofort ernsthaftes Interesse gezeigt. Natürlich bräuchte er erst eine Genehmigung dazu, aber die dürfte nicht allzu schwer zu bekommen sein. Die ehemalige Jugendherberge, in der sie momentan hausen, bricht ihnen nämlich demnächst über dem Kopf zusammen und das Jugendamt wacht mit Argusaugen über ihnen. Außerdem steht ständig jemand von der Stadtverwaltung vor der Tür und erkundigt sich, ob sich nicht irgendwo ein Türlein aufgetan habe, selbst der Bürgermeister war schon dort. Inzwischen gibt es in dem Ort bereits eine Bürgerinitiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Jungs schnellstens wegzubringen.“

„Wie viele Jungs wären das denn?“

„Etwas über dreißig. Dazu kommen mindestens drei Lehrer, ein Sozialarbeiter, eine Köchin bzw. Hauswirtschafterin und eben Philipp.“

So viele Männer auf einen Schlag wären wirklich eine mittlere Revolution für den kleinen Ort. „Und die könnten sich alle ebenfalls vorstellen umzuziehen?“, fragte Paula misstrauisch.

„Das weiß ich nicht. Das sind ja alles erst einmal Vorüberlegungen. Für Phillip wäre es kein Problem, er möchte lieber heute als morgen weg. Seine Frau ist letztes Jahr an Krebs gestorben, ziemlich tragische Geschichte. Er brennt förmlich auf Tapetenwechsel und sah sofort die Vorteile eines wenig zivilisierten und nicht gerade überbevölkerten Bergdorfes ein. Du müsstest das in Bezug auf Hannes ja verstehen. Versuch dir dreißig oder vierzig von seiner Sorte vorzustellen, und du hast ein ungefähres Bild der Situation.“

Paula bekam allein bei diesem Gedanken eine Gänsehaut.

„Und… was hältst du davon?“

„Ich müsste das grundsätzlich erst mal mit dem Bürgermeister besprechen oder noch besser im Gemeinderat.“

„Na, dann tu das doch. Ich weiß, ein Seniorenwohnheim würde besser nach Lämmerbach passen und auch nicht so viel Lärm und Unruhe stiften, aber in der Not darf man nicht wählerisch sein. Außerdem belebt die Jugend euer Tal und Robert, der Kuhmelker, bekäme endlich mal männliche Konkurrenz.“

„Nicht nur Robert, ich fürchte auch Hannes. “

„Denkt drüber nach. Gegebenenfalls kommt Phillip dann in den Osterferien und nimmt die Lage vor Ort in Augenschein.“

„Für das Käseproblem wüsstest du unter Umständen nicht auch eine Lösung?“, wagte Paula der Vollständigkeit halber nachzufragen.

„Leider nein. Aber wenn wir schon beim Thema sind: Eine Voraussetzung für den Umzug dieses Internats in euer idyllisches Tal ist, dass ihr bis dahin das medizinische Problem gelöst habt. Phillip findet, dass Jungs mit Drogenhintergrund und erhöhter Gewaltbereitschaft einen Arzt in Reichweite brauchen, der bei schlechtem Wetter nicht erst per Hubschrauber eingeflogen werden muss.“

„Dein Phillip hätte nicht zufällig einen Tüchtigen in der Hinterhand, der sich darüber hinaus gut auf Tiere versteht und gern Lebensmittelproben abnimmt?“

„Wohl kaum. Aber vielleicht erhöht folgende Information die Attraktivität dieses Jobs: Der Staat unterstützt in seiner unendlichen Großzügigkeit dieses Projekt finanziell. Es gibt also jede Menge Zuschüsse. Ich warte auf deinen Rückruf. Bis bald, Schätzchen.“


Bergdorf sucht... Arzt

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