Читать книгу Bergdorf sucht... Arzt - Josie Hallbach - Страница 5
Kapitel 2:
ОглавлениеDiesen Beweis trat er nur allzu gern an.
Nicole hatte beim Abendessen von Frau Müllers Erkrankung und dem damit verbundenen Schulfrei berichtet und Augen klimpernd hinzugefügt, dass ihre Lehrerin aber auf gar keinen Fall einen Arztbesuch wünsche. Ob Daniel denn eine Ahnung habe, woran das liegen könne?
Das brachte bei ihrem Onkel das Fass zum Überlaufen. Er sprang so rasch vom Tisch auf, dass die Gläser ins Wanken gerieten und durchquerte mit großen Schritten das Esszimmer. Nicole verzichtete auf ergänzende Kommentare und floh mit einer Entschuldigung aus dem Raum, denn sie kannte diese Stimmung bereits.
„Da siehst du es“, beschwerte sich Daniel anschließend bei seiner großen Schwester, die bis dahin versucht hatte, den Rest ihres Vesperbrotes in Ruhe zu verdauen und nebenher Zeitung zu lesen. „Ich weiß nicht, warum ich hier überhaupt herumsitze. Draußen grassiert die Grippewelle, aber keiner in Lämmerbach braucht einen Arzt. Vermutlich sterben die Leute lieber, als dass sie sich in meine Sprechstunde bemühen oder mich holen lassen. Die einzige Patientin, die diese Woche mit schöner Regelmäßigkeit bei mir im Sprechzimmer saß, war Josepha Baum. Sie scheint einen Narren an mir gefressen zu haben und denkt sich ständig neue abstruse Krankheiten aus, an denen sie angeblich leidet. Dabei ist sie vermutlich der gesündeste Mensch in ganz Lämmerbach.“
Anne gab seufzend den Verdauungswunsch auf und wandte ihre Aufmerksamkeit dem energiegeladenen Bruder zu, der während seines Monologs ununterbrochen herummarschiert war. Irgendwie erinnerte er dabei an einen gereizten Tiger in einem Raubtierkäfig und machte sie allein schon vom Zuschauen nervös. „Sie leidet in erster Linie an einer verspäteten Pubertät und zu wenig männlicher Auswahl. Nächstes Mal schickst du sie zu mir. Ich werde sie kurieren“, bot sie besänftigend an. Anne neigte in medizinischen Dingen zur Pragmatik.
„Vielen Dank, aber ich komme mit ihr klar. Sie ist mein kleinstes Problem.“
„Und was sind dann deine Probleme?“
„Dass ich heute zum Beispiel feststellen musste, dass sich unser Vater in keiner Weise von seinen Patienten unterschieden hat.“
„Was soll das heißen?“
„Ich habe Unterlagen gefunden, die belegen, dass Paps um sein Schlaganfallrisiko wusste.“
„Du denkst...“
„Ich denke nicht, ich weiß.“ Er blieb ruckartig hinter Annes Stuhl stehen, so dass sie den Kopf verrenken musste, damit sie ihn überhaupt ansehen konnte. „Paps hatte bereits seit geraumer Zeit Symptome, diese richtig gedeutet und sich sogar den Rat eines Kollegen eingeholt. Das Antwortschreiben hat er dann fein säuberlich und fast schon makaber zu seiner Lebensversicherung geheftet und ansonsten nichts unternommen. Der Kollege riet ihm dringend zu weiterer Diagnostik und schnellstens zu einer Operation.“
Anne starrte ihren Bruder entsetzt an und stammelte: „Davon wusste ich nichts, ehrlich.“
„Vielleicht wollte er uns mit seinem Tod einfach überraschen.“ Daniel war wütend und gleichzeitig enttäuscht.
Sein Hang zum Zynismus kam bei seiner Schwester aber aktuell nicht gut an. „Wie kannst du dich nur über alles und jeden lustig machen? Tu doch nicht so, als ob dieses Wissen irgendetwas für dich geändert hätte.“
„Willst du etwa damit sagen, dass mir Paps’ Tod egal ist?“ Sein Tonfall wurde um weitere Dezibel lauter.
„Nein, nur dass du dich gewöhnlich wenig um die Interessen und Wünsche anderer Leute scherst.“
„Ach, vielen Dank für deine Einschätzung. Und warum stehe ich dann hier? Ganz bestimmt nicht, weil es mir so enorm viel Spaß macht. Dazu ist meine Anwesenheit an diesem Platz völlig überflüssig. Lämmerbach will mich überhaupt nicht als Arzt.“
Anne merkte, dass sie zu weit gegangen war und versuchte einzulenken: „Übertreib jetzt nicht gleich. Du bist für die meisten Leute eben noch ungewohnt. Vielleicht sollte ich dich öfter bei deinen Krankenbesuchen begleiten.“
„Untersteh dich. Du hast schon viel zu lange Paps’ Job übernommen. Entweder die Leute akzeptieren mich als Arzt oder…“ Er ließ den Satz unvollendet und nahm dafür seine ruhelose Wanderung wieder auf.
„Oder was?“, fragte Anne ihm angstvoll hinterherblickend.
„Oder ich gehe. In zwei Wochen endet ohnehin meine Beurlaubung. Dann muss ich eine Entscheidung treffen und die wird mir gerade zunehmend leichter gemacht. Paps’ Chaos zu sortieren ist ein Lebenswerk und alles andere als befriedigend. Ganz davon abgesehen, dass ihr vermutlich sowieso keinen Nachfolger finden werdet, der seine Praxis übernimmt. Da konzentriere ich mich doch lieber auf meine Doktorarbeit.“
„Du hast Onkel Edwin versprochen bis Sommer…“
Er baute sich bedrohlich nahe vor ihr auf: „Du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Ich habe die Szene deutlich vor Augen. Vielen Dank. Da habt ihr mich schlichtweg überrumpelt. Ist euch aber seither schon mal der Gedanke gekommen, dass nicht alles, was Onkel Edwin, euer weltfremder Pfarrer und du wollen, auch sinnvoll ist? Außerdem scheint der Rest des Dorfes andere Vorstellungen zu haben. Letzte Woche hat mich der Volker zum Beispiel nicht ins Haus gelassen, als ich nach seiner Frau schauen wollte, die mit 40 Grad Fieber im Bett lag. Und wie es mir bei der kleinen Martha Schindhelm erging, erspare ich dir lieber. Denkst du, ich sehe die abweisenden Blicke der Leute nicht? Mir traut hier doch keiner was zu.“
„Unsinn“, widersprach Anne, aber es klang merkwürdig schwach und alles andere als überzeugend. „Heute Nachmittag haben sie dich doch zur alten Frau Friedrichs geholt.“
„Ja, im letzten Moment sozusagen, als alle Hausmittel nicht mehr fruchteten. Es würde mich wundern, wenn sie die Nacht überlebt. Ich habe ihr eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben. Ansonsten konnte ich nichts mehr für sie tun.“
Seine Schwester schaute ihn überrascht an. „Und dann bist du einfach gegangen?“
„Natürlich. Warum hätte ich auch bleiben sollen? Soll ich mich etwa an ihr Bett setzen, ihre Hand halten und warten, bis sie den letzten Schnaufer macht? Das können ihre Kinder besser. Ich bin schließlich kein Seelsorger. Außerdem war der Pfarrer schon am Morgen da.“ Er hatte den Eindruck, sich rechtfertigen zu müssen und ärgerte sich im gleichen Augenblick deswegen.
Anne schnaubte angewidert: „Paps wäre selbstverständlich dageblieben.“ Bei ihr schimmerten bereits wieder Tränen.
„Paps hat dies, Paps hat das. Ich kann es nicht mehr hören. Er scheint alles richtig gemacht zu haben. Aber ich bin nicht er, wann kapierst du das endlich? Diese alte Frau ist für mich eine Fremde.“
„Gut, dann geh’ eben ich rüber, wenn du nicht dazu imstande bist“, sagte sie kühl und wischte sich über das Gesicht.
„Tu was du nicht lassen kannst. Aber erwarte in Zukunft nicht mehr, dass ich dich dabei unterstütze.“ Er stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Als Anne im Hause Friedrich angekommen war, hatte der Sohn ihr längst die Augen zugedrückt und es blieb nur noch, Beileid zu wünschen und Tante Lieselotte zu holen, damit man das Totenbett richten konnte.
Dafür stand Daniel bei ihrer Heimkehr im Begriff, seine Koffer zu packen.
„Was soll das?“, fragte Anne ungläubig.
„Nach was sieht es wohl aus?“ Er schloss mit einem Schwung die Schnallen.
„Du kannst nicht einfach verschwinden.“
„So? Wer soll mir das denn verbieten? Du etwa? Außerdem laufe ich nicht weg, sondern suche mir eine sinnvollere Aufgabe. Das ist ein kleiner Unterschied.“
„Wir brauchen dich hier.“
„Sag das mal deinen sturen Bergbewohnern. Ich habe den Eindruck, die kommen ganz gut ohne mich zurecht.“
„Frau Friedrich ist gestorben.“
„Na siehst du, schon wieder eine weniger“, sagte er hart und begann seine Nachttischschublade auszuräumen. „Lämmerbach existiert eh nicht mehr lange. Also warum soll ausgerechnet ich mir für euch den Hintern aufreißen?“
„Bitte überleg es dir noch mal. Überstürze jetzt nichts.“
„Ich hab’ mir das bereits viel zu lange überlegt und hätte überhaupt nicht herkommen sollen. Es gibt durchaus attraktivere Möglichkeiten, seinen Urlaub zu verbringen. Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich hier seit sechs Wochen ohne eine einzige hübsche Frau in Reichweite herumhänge. Demnächst habe ich vermutlich vergessen, wie man Sex überhaupt schreibt. Aber damit ist jetzt Schluss. Sucht euch jemand anderen, der euch die Kastanien aus dem Feuer holt.“ Er zog den Reißverschluss seiner Tasche zu - er klemmte. Wütend zerrte er daran. Als dennoch ein Stück offenblieb, trat er mit dem Fuß dagegen und fluchte. „Soll ich noch den Totenschein unterschreiben? Ich nehme an, Frau Friedrichs Tod müssen wir nicht ebenfalls geheim halten“, fügte er mit einem kalten Grinsen hinzu. „Die Todesursache auszufüllen überlasse ich aber dir. Das dürfte dir mit deiner jahrelangen Erfahrung nicht schwerfallen.“ Er schleppte Koffer und Tasche die Treppe hinunter.
Seine Schwester folgte ihm auf den Fersen und redete dabei pausenlos beschwichtigend auf ihn ein. Daniel ignorierte sie einfach und belud unbeeindruckt sein Auto. Bevor er jedoch seinen Geländewagen startete, warf er ihr einen unergründlichen Blick zu, der dazu geeignet war, ihren Redefluss jäh auszubremsen. „Du kannst dir jegliche weitere Überzeugungsarbeit für die Zukunft sparen“, sagte er zum Abschied. „Und wag es nicht, mich anzurufen. Ich habe das alles für Paps gemacht. Aber es ist nun an der Zeit, einen Schlussstrich drunter zu ziehen. Je eher ihr in der Wirklichkeit ankommt, umso besser.“
Der Geländewagen fuhr mit quietschenden Reifen aus dem Hof.