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II. Überindividuelles Rechtsgut – Schutz der Kreditwirtschaft?

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Über die individuellen Vermögensinteressen der konkret betroffenen Gläubiger (in ihrer Gesamtheit) hinaus werden in Rechtsprechung und Schrifttum zum Teil auch überindividuelle soziale Rechtsgüter benannt, die vom Schutzbereich der Bankrottdelikte erfasst seien. Zuletzt hat der BGH ausdrücklich den „Schutz des gesamtwirtschaftlichen Systems“ als Rechtsgut des § 283 StGB erneut bestätigt.[18] Ein Rechtsgut „Funktionsfähigkeit des gesamtwirtschaftlichen Systems“ erscheint allerdings bereits auf Grund seiner inhaltlichen Weite wenig griffig. Weder der Wortlaut von § 283 StGB noch die Gesetzesmaterialien[19] geben einen Hinweis auf den Schutz eines überindividuellen Rechtsguts neben den Vermögensinteressen des individuell betroffenen Gläubigerkreises.[20]

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Im Schrifttum werden als Anknüpfungspunkt einer Rechtsgutsbestimmung typische, geradezu notwendige Folgewirkungen der Verwirklichung des Tatbestands, die auch empirisch belegbar sind, herangezogen.[21] Derartige – nicht nur im Einzelfall mögliche, sondern generell auftretende – überindividuelle Auswirkungen (über den Kreis der jeweils unmittelbar betroffenen Gläubiger hinaus) kennzeichnen nach dieser Auffassung auch die Sozialschädlichkeit der durch die Bankrottdelikte inkriminierten Verhaltensweisen.[22] Die auf diese Weise betroffenen Allgemeininteressen seien daher vom Schutzumfang des § 283 StGB ebenfalls mit umfasst. Konkret werden zum Beleg typischer – gesamtwirtschaftlich schädlicher – Folgewirkungen von Bankrottstraftaten insbesondere zwei Aspekte ins Feld geführt: Einerseits begünstige die (zunehmend) starke wirtschaftliche Verflechtung der Gläubiger mit dritten Wirtschaftssubjekten die Folge, dass von Bankrottdelikten typischerweise auch Unternehmen (i.S. eines „Dominoeffekts“) mittelbar nachteilig betroffen werden, die selbst nicht in geschäftlichem Kontakt mit dem Schuldner stehen („Kettenreaktionsthese“).[23] Andererseits werde von Bankrottdelikten eine „Spiral- bzw. Sogwirkung“ ausgelöst, indem der Wettbewerbsvorteil des Wirtschaftsdelinquenten einen Anreiz für Wettbewerber schaffe, ihrerseits Wirtschaftsstraftaten zu begehen.[24] Überdies bringe erst ein überindividueller Schutzumfang, derartige „übergreifende Gefahren“ zu vermeiden, den Unrechtsgehalt des Bankrotts hinreichend sicher zur Geltung.[25] Allein der Bezug zu einem überindividuellen Schutzgut könne dementsprechend die Strafbarkeit wegen eines abstrakten Gefährdungsdelikts selbst bei nur einfacher Fahrlässigkeit (§§ 283 Abs. 4 und 5, 283b Abs. 2 StGB) hinreichend legitimieren.[26]

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Das Rechtsgut „Funktionsfähigkeit des gesamtwirtschaftlichen Systems“ ist schon inhaltlich schwer fassbar.[27] Die Volkswirtschaft beinhaltet eine Vielzahl unterschiedlicher Wirtschaftssubjekte, die mit häufig gegenläufigen Interessen, orientiert am eigenen ökonomischen Nutzen, wirtschaften.[28] Zudem fehlt auch ein greifbarer inhaltlicher Bezug zur besonderen Konstellation des Bankrotttatbestands, der ebenso wenig individuell die gesamte wirtschaftliche Aktivität des Gläubigers erfasst oder schützt.[29] Die hohe Abstraktionsstufe eines Rechtsguts „Gesamtwirtschaft“ bewirkt zugleich, dass die Funktion des Rechtsguts zur Auslegung des Straftatbestands beizutragen, gänzlich ausfällt.[30] Jedenfalls droht eine „ausufernde“ Auslegung.[31] Zugleich werden hierdurch auch Wertungsdifferenzen zum Insolvenzrecht begründet. Die Insolvenzordnung ist (ebenfalls) nicht von der Förderung gesamtwirtschaftlicher Interessen, sondern, wie gesehen, vom Primat der Haftungsverwirklichung (primäres Ziel)[32] geleitet.[33] Dementsprechend kennt das Insolvenzrecht etwa einen speziellen Schutz von Arbeitnehmern (Erhalt von Arbeitsplätzen im gesamtwirtschaftlichen Interesse) – über den allgemeinen Gläubigerschutz hinaus – nicht, so dass diese Interessen auch strafrechtlich durch § 283 StGB nicht besonders geschützt sind.[34] Der Schutz der „Funktionsfähigkeit des gesamtwirtschaftlichen Systems“ ist allenfalls als abstrakte – allgemeine – Zielbestimmung des Wirtschaftsstrafrechts geeignet. Der Einwand, dass insofern der Anlass zur Schaffung der Strafnorm mit der Rechtsgutsbestimmung in unzulässiger Weise vermengt wird,[35] trifft dementsprechend zu. Hinzu kommt, dass die reklamierten faktischen Auswirkungen von Bankrottstraftaten auf nicht unmittelbar beteiligte Unternehmen, die letztlich nur eine Addition von Einzelschäden enthalten,[36] nicht belegt sind. Zweifellos haben Insolvenzen einzelner, insbesondere großer Unternehmen auch wirtschaftlich nachteilige Auswirkungen über den Kreis unmittelbar betroffener Gläubiger hinaus. Die Bankrotthandlung betrifft allerdings (abgesehen von § 283 Abs. 2 und § 283b StGB) allein das zum Zeitpunkt der Krise (noch) vorhandene Vermögen des Schuldners. Dieses genügt häufig ohnehin nur, um die Gläubigerforderungen nur zu einem (sehr geringen) Bruchteil zurückzuführen.[37] Ausschlaggebend für den „Dominoeffekt“ ist damit nicht selten der Umstand der Insolvenz (Krise) allein,[38] ohne dass die Bankrotthandlungen gesamtwirtschaftliche Auswirkungen – überindividuell – noch zusätzlich nennenswert vertiefen. Gravierende Folgewirkungen über den unmittelbar betroffenen Gläubigerkreis hinaus treten überdies im Fall von Privatinsolvenzen, die ebenfalls von den §§ 283 ff. StGB erfasst werden,[39] praktisch nicht ein.[40] Hinzu kommt, dass dem Schuldner derartige Folgewirkungen auch nicht zugerechnet werden können.[41] Das Argument einer möglichen „Sog- oder Spiralwirkung“, die im Übrigen soweit ersichtlich auch empirisch nicht belegt ist, greift ebenso wenig. Der an den Auswirkungen der Konkurrentensituation im Wettbewerb orientierte Gedanke ist inhaltlich nicht auf die Konstellation der Bankrottdelikte übertragbar.[42] Zudem beinhaltet die Argumentation, durch die §§ 283 ff. StGB zu verhindern, dass Wettbewerber dem einzelnen „schlechten“ Vorbild folgend gleichfalls normwidrig handeln, bei Lichte besehen nur eine Umschreibung positiver Generalprävention als Funktion des Strafrechts allgemein.[43] Auch aus diesem Grund liefert das Argument keinen Anhaltspunkt für ein überindividuelles Rechtsgut des Bankrotts. Auswirkungen von Bankrottdelikten auf das „Gesamtwirtschaftliche System“ liegen danach außerhalb des Schutzzwecks der Bankrottdelikte. Ein möglicher überindividueller Schutzzweck ist – orientiert am Tatbestand des Bankrotts – enger einzugrenzen und präziser zu bestimmen.[44]

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Teilweise wird – insoweit restriktiver – insbesondere die „Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft“ als bankrottrelevanter Bestandteil der Gesamtwirtschaft und eigenständiges überindividuelles Schutzgut herausgehoben.[45] Diese Auffassung beruht auf der Erwägung, dass insbesondere die Kreditwirtschaft typischerweise[46] von den Verhaltensweisen (mit-)betroffen wird, die durch die Insolvenzdelikte der §§ 283 ff. StGB inkriminiert sind.[47] Zugleich hebt diese Auffassung die besondere (gesamt-)wirtschaftliche Bedeutung des Kreditwesens hervor.[48] Die individuellen Vermögensinteressen der Gesamtgläubigerschaft einerseits sowie das „Funktionieren der Kreditwirtschaft“ andererseits, seien aus diesem Grund als gleichrangige Schutzgüter zu behandeln.[49] In diesem Zusammenhang wird auch der Kredit als bedeutsames „Instrument“ des modernen Wirtschaftsverkehrs als besonders geschützt eingestuft.[50] Zunächst ist festzuhalten, dass der Bankrotttatbestand – als Ausgangspunkt der Rechtsgutsbestimmung – einzelne Gläubigergruppen, die, wie etwa das Kreditgewerbe, typischerweise von Insolvenzen ihrer Geschäftspartner wirtschaftlich betroffen werden können, nicht bevorzugt. Die „Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft“ als überindividuelles Schutzgut der §§ 283 ff. StGB unterstellt, hätte in der vorliegend zu untersuchenden Konstellation die bemerkenswerte Konsequenz, dass eine Beeinträchtigung dieses überindividuellen Rechtsguts durch Angehörige des Kreditgewerbes selbst – so gesehen „aus sich selbst heraus“ – Gegenstand eines Bankrottdelikts wäre. Die Möglichkeit der Verwirklichung von Insolvenzdelikten durch Bankmitarbeiter im Interesse von Kreditinstituten spricht allerdings eher gegen dessen Anerkennung.

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Der Gedanke, dass der Kredit häufig Ursache (drohender) Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ist,[51] führt im Rahmen der Rechtsgutsbestimmung nicht weiter, da insoweit nicht die Gründe der Insolvenz, sondern die typischen Auswirkungen der Bankrotthandlungen maßgeblich sind.[52] Allerdings betrifft § 283 StGB inhaltlich häufig Konstellationen, in denen Gläubiger, die Leistungen an den (potentiellen) Gemeinschuldner bewirken, ohne sogleich (Zug-um-Zug) die vertraglich vorgesehene Gegenleistung zu erhalten, dem Schuldner insofern „Kredit“ (in einem weiten Sinn) gewähren.[53] In diesen Fällen besteht das Bedürfnis, den Gläubiger in der Krise des Schuldners besonders zu schützen. Dieser tatsächliche Bezug des Bankrotts könnte dafür sprechen, allenfalls ein institutionalisiertes Vertrauen in das ökonomische „Instrument“ des Kredits (in diesem weit verstandenen Sinn) als überindividuellen Rechtsgutsaspekt in den Schutzumfang von § 283 StGB einzubeziehen.[54] Die Ansprüche des konkret (individuell) betroffenen Kreditgebers sind jedoch bereits materieller Bestandteil der individuell geschützten Gläubigerinteressen.[55] Daneben werden von den §§ 283 ff. StGB überdies auch Ansprüche des Fiskus oder der Sozialversicherungsträger erfasst.[56] Derartige Forderungen beruhen nicht auf Kredit (in weitem Sinn) und stehen aus diesem Grund mit der Kreditwirtschaft in keiner Verbindung.

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Der Schuldner verletzt oder gefährdet durch Bankrotthandlungen über die wirtschaftlichen Interessen des konkret betroffenen Gläubigerkreises – allein gegenüber diesem Kreis besteht die strafrechtliche Sonderpflicht[57] – richtigerweise kein gesamtökonomisches Vertrauen in den „Kredit“ oder die „Funktionsfähigkeit des Kreditwesens“. Typische gesamtwirtschaftliche Auswirkungen von Insolvenzdelikten,[58] speziell für die Kreditwirtschaft, mögen unter dem Aspekt der Strafwürdigkeit bestimmter Tathandlungen in der Krise Anlass des Gesetzgebers zur Normierung der Bankrottdelikte sein. Ein schuldrelevanter Bezug zu diesen überindividuellen Aspekten liegt jedoch nicht vor.[59] Die ins Feld geführten überindividuellen Rechtsgutsaspekte, insbesondere Gefahren für die „Funktionsfähigkeit“ der Kreditwirtschaft, beinhalten einen bloßen „Schutzreflex“, der sich aus den individuell geschützten Vermögensinteressen der Gesamtgläubigerschaft ableitet.[60] Es handelt sich letztlich (nur) um „mittelbare Gläubigerschäden“ ohne eigenständigen überindividuellen Schutzgutcharakter.[61] Allein die herausgehobene volkswirtschaftliche Bedeutung des Kreditwesens „erhebt“ diesen Wirtschaftssektor nicht zum überindividuellen Schutzgut der Bankrottdelikte.[62] Dementsprechend besteht eine besondere strafrechtliche Verpflichtung des Schuldners – als Sonderpflicht des Normadressaten von § 283 StGB – ausschließlich gegenüber seiner individualisierten Gläubigerschaft, nicht aber gegenüber einem Gemeinwesen, der Volkswirtschaft oder der Kreditwirtschaft als Ausschnitt hieraus.[63] In der nach Eintritt der Krise begründeten Sonderpflicht gegenüber der Gläubigerschaft liegt zugleich der Grund für die – von anderen Vermögensdelikten, die generell und krisenunabhängig gelten, abweichende – strafrechtliche Verantwortung bereits bei einfacher Fahrlässigkeit (vgl. § 283 Abs. 4 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB), da der Schuldner in der Krise den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung besonders gewissenhaft zu prüfen hat und ihn in dieser Situation auch gegenüber den Gläubigern gesteigerte Sorgfaltspflichten treffen, so dass im Einzelfall bereits fahrlässiges Verhalten strafwürdig erscheint. Sofern eine Gläubigergefährdung außerhalb der Krise fahrlässig bewirkt wird (§ 283 Abs. 4 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 2; § 283b Abs. 2 StGB), ist zu bedenken, dass nur Handlungen erfasst werden, die eine Krise herbeiführen und/oder mit einer Zahlungseinstellung, der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. der Ablehnung des Eröffnungsantrags mangels Masse „tatsächlich“ in Zusammenhang[64] stehen. Die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens wird durch die objektive Bedingung der Strafbarkeit (§ 283 Abs. 6 StGB) erheblich limitiert, so dass die strafrechtliche Sanktion auch in diesen Fällen ohne überindividuellen Rechtsgutsbezug nicht unverhältnismäßig erscheint. Die hiermit verbundene Vorverlagerung der Strafbarkeit verlangt daher nicht nach einer Rechtfertigung durch Schöpfung übergeordneter (abstrakter) Rechtsgutsaspekte. Die etwa durch Betrug oder Untreue individuell verursachten Schäden sind ebenfalls – im Vergleich zum Bankrott sogar noch in gesteigertem Maß – geeignet, durch überindividuelle, volkswirtschaftlich schädliche Folgewirkungen gesamtwirtschaftliche Verwerfungen zu verursachen. Anhand derartiger Folgen ließen sich dementsprechend auch dort, ebenso beim Diebstahl,[65] ohne weiteres überindividuelle Rechtsgüter konstruieren. Wegen der Komplexität der innerhalb des Wirtschaftsstrafrechts zu beurteilenden Sachverhalte setzt der Gesetzgeber jedoch an den individuell betroffenen wirtschaftlichen Beziehungen, im Fall des Bankrotts an dem konkret betroffenen Gläubigerkreis, an. Die Rechtsgutsbestimmung hat daher auch im Rahmen der §§ 283 ff. StGB, wie im Fall der Vermögensdelikte des Kernstrafrechts, an den konkret bestehenden – tatbestandlich erfassten – wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten anzuknüpfen. Im Fall von § 283 StGB wird die Bestimmung des individuellen Schutzguts durch die Verlagerung der Strafbarkeit bereits in den Gefährdungsbereich hinein nur erschwert. Neben den individuell geschützten ökonomischen Interessen der Gesamtgläubigerschaft besteht für ein überindividuelles Rechtsgut in Gestalt der „Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft“ auch kein Bedürfnis. Überindividuelle Rechtsgüter werden von den §§ 283 ff. StGB daher nicht geschützt. Diese Konsequenz ist stringent, da die Einwilligung sämtlicher Gläubiger in ein von § 283 Abs. 1 StGB erfasstes Verhalten (etwa im Rahmen von Sanierungsbemühungen) eine Strafbarkeit ausschließt.[66] Ein überindividuelles Rechtsgut wäre für den beteiligten Gläubigerkreis nicht disponibel.

Bankrott und strafrechtliche Organhaftung

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