Читать книгу Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven - Jürgen Erfurt - Страница 13

2.5 Im Schatten von MultikulturalismusMultikulturalismus und InterkulturalitätInterkulturalität: ‚Kultureller GenozidGenozid, kultureller‘ an der autochthonen Bevölkerung

Оглавление

Eine Konstante in den Diskursen der kanadischen Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte besteht darin, die Erfolge der PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des MultikulturalismusMultikulturalismus zu rühmen. DiversitätDiversitätkulturelle, Toleranz, Respekt gegenüber Anderen und deren Lebensweisen gelten in der Gesellschaft als hohe Güter, die immer wieder auch öffentlich kommuniziert werden, um das soziale Miteinander reibungsarm zu gestalten. Zahllos sind daher die Verhaltensgebote und -verbote im öffentlichen Raum. In der schulischen ErziehungErziehung werden sie mit Nachdruck vermittelt. Akzeptanz und Kontrolle gehen Hand in Hand. Wenn in einer Migrationsgesellschaft soziale Normen und Werte nicht als selbstverständlich und allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, müssen sie mitgeteilt werden, damit sie auch im individuellen Bewusstsein Platz finden und als Regulative des sozialen Handelns wirken können. So weit, so gut.

Als jedoch im Dezember 2015 die 2007 eingesetzte Wahrheits- und Verständigungskommission von KanadaKanada/Canada1 ihre Berichte über die Praxis der „indianischen Schulinternate“ (engl. residential schools, frz. les pensionnats indiens) für die Kinder autochthoner Familien in Kanada vorlegte, sah sich die ImagoImago des kanadischen MultikulturalismusMultikulturalismus bis in die Grundfesten erschüttert. Die Regierung musste eingestehen, dass Kanada für den ‚kulturellen GenozidGenozidkultureller‘2 an den autochthonen Völkern3 des Landes verantwortlich ist. Mehr als 6500 Zeugen wurden von der Kommission gehört, mehr als fünf Millionen Dokumente wurden zu diesen Internatsschulen zusammengetragen. Der Abschlussbericht legt auf erschütternde Weise dar, wie über Generationen hinweg den Familien der Autochthonen die Kinder weggenommen wurden, um ihnen in den (meist) kirchlich geführten Internaten alles „Indianische“ auszutreiben. In der Provinz British ColumbiaBritish Columbia, wo die meisten der indigeneindigenen Völker leben, wurden die letzten dieser Internate 1986 geschlossen, in anderen Teilen Kanadas gab es sie bis 1996. Züchtigung, GewaltGewalt, sexueller Missbrauch der Kinder auf der einen Seite, der gezielt herbeigeführte BruchBruch, Brüche, gesellschaftliche/r – mit den Sprachen und den anderen kulturellen Praktiken ihrer Familien und Angehörigen andererseits, ja selbst der Bruch der emotionalemotionalen Beziehungen zwischen den Kindern und ihren Familien ziehen sich wie ein roter Faden durch die Berichte der Betroffenen.

Nur wenig später legte eine weitere nationale Untersuchungskommission einen ebenfalls erschütternden Bericht vor. Dieses Mal ist es der Bericht über Tausende von verschwundenen und ermordeten autochthonen Frauen und Mädchen.4 Beide Berichte, so tragisch die darin aufgezeichneten Schicksale sind, stellen im Grunde nur die Spitze des Eisbergs dar, gemessen an der Landenteignung der autochthonen Bevölkerung, der Zerstörung ihrer wirtschaftlichen Ressourcen, ihrer Einhegung in Reservaten und ihrer permanenten DiskriminierungDiskriminierung, die in der Summe und im Zusammenwirken nichts anderes als „kulturellen GenozidGenozidkultureller“ darstellen. Von der britischen und französischen Kolonialexpansion führt eine direkte Linie zum inneren KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – der beiden „Gründernationen“ Kanadas, und von da zu den aktuellen Entscheidungen der kanadischen Bundesregierung, gegen den Widerstand der autochthonen Bevölkerung und gegen alle ökologische Vernunft die Ausbeutung von Ölsandvorkommen in Alberta (2013) und den Bau einer Gaspipeline zur Westküste (2019) durchzusetzen.

Einige Jahre zuvor hatte das kanadische Parlament zur Aufarbeitung der „Oka-KriseOka-Krise“ im Sommer 1990, d.h. des bewaffneten KonfliktKonflikts zwischen den Mohawks und der Quebecer und der kanadischen Regierung, eine Untersuchungskommission zu den autochthonen Völkern5 eingesetzt. In ihrem Abschlussbericht kommt die Kommission nicht umhin, feststellen zu müssen, dass die MehrheitMehrheit, -sgesellschaft der KanadierInnen hinsichtlich der Geschichte der autochthonen Völker und den Beziehungen zwischen Autochthonen und Nicht-Autochthonen in KanadaKanada/Canada weitgehend unwissend sei (vgl. vol. 1, 34). Bories-Sawala/Martin (2018, 2020) gehen ihrerseits dieser Feststellung nach, indem sie die SchulbücherSchulbücher, Québec in QuébecQuébec/Quebec, speziell jene zur Geschichte Québecs und Kanadas auf die Darstellungen zu den autochthonen Völkern untersuchen. Es zeigt sich dabei, dass über lange Zeit hinweg in der Konstruktion eines „kollektiven Wir“, das die Quebecer und die „Euro-Kanadier“ umfasst, die „Anderen“, d.h. die Autochthonen, als nicht zu dieser Geschichte gehörend ausgeschlossen wurden (vgl. Bories-Sawala/Martin 2018, vol. 1, 10ff.).

Lehrbücher und schulische ErziehungErziehung sind freilich nicht die einzigen Quellen, um sich über die autochthonen Völker in KanadaKanada/Canada zu informieren, aber sie sind zweifelsohne zentral für die Ausbildung eines zivilgesellschaftlichen Bewusstseins, in welchem der MultikulturalismusMultikulturalismus und die InterkulturalitätInterkulturalität seit den 1970er Jahren tragende Säulen sind. Mehr noch, nicht nur, dass die PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des Multikulturalismus lange Zeit blind war für den kulturellen GenozidGenozidkultureller an den autochthonen Völkern, sie endet offenbar auch da, wo es um die Durchsetzung ökonomischer Interessen geht und der Multikulturalismus als Gesellschaftskonzept im SpätkapitalismusSpätkapitalismus damit auf das zurückgeworfen wird, was er ist: ein Modell der Hegemonie und der Machtausübung, das der schon erwähnte Autor Neil Bissoondath (1994) auch als Konzept der Anglo-HomogenisierungAnglo-Homogenisierung kritisierte.

Eines der Kapitel dieser Anglo-HomogenisierungAnglo-Homogenisierung ist eng mit dem eingangs erwähnten Bericht über die „indianischen Schulinternate“ als Institutionen der Assimilation der autochthonen Völker verbunden. Diese waren in bemerkenswert unterschiedlicher Weise in Raum und Zeit über das TerritoriumTerritorium Kanadas verteilt. Von den 139 Internaten, die überwiegend von 1880 an gegründet wurden, existierten die meisten in den anglophonen Prärieprovinzen und in Westkanada; lediglich sechs dieser Pensionate befanden sich in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec, von denen drei nur wenige Jahre innerhalb der Zeitspanne von 1952 bis 1974 existierten. Fünf von ihnen unterstanden katholischen Orden, eines der anglikanischen KircheKircheanglikanisch (vgl. Bousquet/Hele 2019, 18f.). Die Frage, warum im ehemaligen „Neu-FrankreichNeu-Frankreich/la Nouvelle-Fance“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine den in den Prärien und in Westkanada vergleichbaren Institutionen der Zwangsassimilierung geschaffen wurden, lässt sich aus der Geschichte heraus mit den Praktiken der Kolonisierung und MissionierungMissionierung seitens der französischen Krone beantworten: die missionierenden Orden – Recollets, Sulpiciens, Ursulines und andere – hatten bereits im 17. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganze ArbeitArbeit geleistet. Entsprechend der aus FrankreichFrankreich mitgebrachten Tradition war von etwa 1670 an, wo in Frankreich selbst der Grad der AlphabetisierungAlphabetisierung noch gering war, in die Missionierung und ChristianisierungChristianisierung der autochthonen Bevölkerung auch die Franzisierung eingebunden, die mit der Vermittlung von Lesen, SchreibenSchreiben, Schreibung und Singen einher ging (dazu ausführlich Dubois 2020). Diese anderen Verhältnisse und Handlungsweisen bedeuten nicht, dass die eine Kolonialmacht weniger schuldig oder besser sei als die andere, sie zeigen lediglich, dass ein differenzierter Blick auf die historischen Abläufe dringend geboten ist.

Bei all dem Leid, dass die autochthone Bevölkerung in KanadaKanada/Canada bis in die jüngste Vergangenheit erfahren hat, kann jedoch auch ein anderer Fall geschildert werden. Zu erwähnen ist das Volk der Okanagan in British Columbia (B.C.), dessen Eigenbezeichnung SyilxSyilx auf ihre Zugehörigkeit zu den Salishvölkern verweist. Zusammen mit sieben weiteren Völkern, die jeweils von einem „Indian Band“ verwaltet werden, bilden sie die Okanagan NationOkanagan Nation. Die Syilx leben im unteren Okanagantal, in einem mediterran wirkenden, teils wüstenartigen Tal auf dem Plateau zwischen den Rocky Mountains und den Costal Mountains. Die Talsohle zu beiden Seiten des Okanaganflusses stellt ein außerordentlich fruchtbares Land dar. Die Region gilt heute als eine Art Obstgarten für die gesamte Provinz. Das Zentrum des Reservats ist die Stadt Osoyoos, die unmittelbar an der GrenzeGrenze(n) zwischen Kanada und den USAUSA bzw. zwischen B.C. und dem US-Bundesstaat Washington liegt.

Mit der Einführung des „Indian Act“6 wurden die SyilxSyilx 1877 dem Reglement für Reservate unterworfen. Doch anders als in anderen Reservaten gründete Chief Baptiste George 1915 eine eigene Schule für die Kinder der Syilx, so dass sie nicht aus den Familien herausgenommen und in das Internat im fernen Kamloops verschickt wurden. Auch sorgten Chief Georges und ein späterer Lehrer dafür, dass in der Inkameep Day School die eigenen kulturellen Traditionen und Praktiken weitergegeben wurden. Zwar ist im Laufe des 20. Jahrhunderts auch bei den Syilx die Tradierung ihrer Sprache über die GenerationenGenerationen hinweg brüchig geworden, doch seit Ende des vergangenen Jahrhunderts gibt es deutliche Bemühungen um eine Vermittlung der anzestralen SpracheSpracheanzestrale – an die heutigen Kinder und um eine zweisprachige ErziehungErziehung. Bemerkenswert ist die ökonomische Entwicklung im Reservat seit den 1960er Jahren. Der Osoyoos Indian Band baute zunächst einen Campingplatz, gründete dann ein Bauunternehmen, errichtete Tankstellen, Supermarkt, Hotel und Golfplatz, ließ unter Leitung von Chief Clarence Louie Weinberge pflanzen und ein heute qualitativ hochwertiges Weingut anlegen – der NK’Mip7 Cellar ist das erste Weingut in der Hand von Autochthonen in NordamerikaNordamerika –, dem wiederum Hotel- und Gastronomiebetriebe angeschlossen sind. Das Weingut stellt ein Phänomen transkultureller Art par excellence dar: Das Okanagan Valley bildet zusammen mit dem benachbarten kleineren Similkameen Valley ein interessantes Weinbaugebiet mit bemerkenswerten Weinen, wo sich europäische Weinbautraditionen und -innovationen mit den önologischen Erfahrungen der WinzerInnen in den Weinbaugebieten der Südhalbkugel (SüdafrikaAfrikaSüdafrika, NeuseelandNeuseeland, Australien), mit den nordamerikanischen Produktionsverfahren und mit den Naturgegebenheiten des gebirgigen Hochlands von British Columbia verbinden. Und dies alles, wie im Fall des im Reservat der Syilx gelegenen NK’Mip-Weinguts, in die indigenen Aneignungs- und Produktionsverhältnisse eingebettet ist. 2006 öffnete gleich nebenan das NK’Mip Desert Cultural Center8, das als architektonisch und landschaftlich originell angelegtes Interpretationszentrum in die Lebensweise, KulturKultur und Natur im Reservat einführt. Es stellt zugleich ein Begegnungszentrum für die Kinder und die Erwachsenen der Syilx dar. Man wird in KanadaKanada/Canada lange suchen müssen, um einen den Syilx vergleichbaren Fall zu finden.

Transkulturalität  - Prozesse und Perspektiven

Подняться наверх