Читать книгу Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven - Jürgen Erfurt - Страница 21
3.3 Ángel Rama und Mary Louise Pratt: Von der AnthropologieAnthropologie zur LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft
ОглавлениеErst in den frühen 1990er Jahren gewinnt der Begriff der Transkulturation bzw. Transkulturalität in US-amerikanischen und europäischen Arbeiten an Verbreitung, nachdem der uruguayische Autor und Literaturkritiker Ángel Rama in den 1970er Jahren das Konzept von Ortiz aus der Versenkung geholt hatte. Rama publizierte 1974 einen Aufsatz unter dem Titel „Los procesos de transculturación en la narrativa latinoamericana“, den er kurz vor seinem Tod zu dem Buch „Transculturación narrativa en América latina“ (1982) erweiterte.1 In dessen drittem Kapitel „Transculturación y genero narrativo“ (S. 32-56) entwickelte Rama, ausgehend vom anthropologischanthropologischen Ansatz von Ortiz, ein in dreierlei Hinsicht erweitertes und verändertes Konzept von Transkulturation. Rama übertrug es a) vom nationalen Raum Kubas auf den subkontinentalen – und damit sehr viel stärker heterogenen sozialen Raum – Lateinamerikas, und b) von einem anthropologischanthropologischen Konzept zu einem der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. Für Ramas Untersuchungen zu den lateinamerikanischen Literaturverhältnissen war die Umstrukturierung des literarischen Feldes im Zuge von KolonialismusKolonialismus und postkolonialer Auseinandersetzung zentral. Um das Konzept für die Zwecke literaturwissenschaftlicher Analyse brauchbar zu machen, schlug er c) seine Operationalisierung vor, indem er vier Prozesse der transkulturellen literarischen VerarbeitungVerarbeitung identifizierte: Verlust, Auslese/Aussonderung, Wiederentdeckung und Inkorporation.2 Wie Ortiz auch, nahm Rama die Perspektive der vom Kolonialismus unterworfenen KulturKultur ein, indem er der „cultura originaria“, der ursprünglichen Kultur, „la cultura externa“, die von außen kommende Kultur, gegenüberstellte und diese Opposition auf die literarischen Werke übertrug. Es ging ihm im Speziellen darum zu zeigen, wie im KontaktKontakt der Kulturen/Literaturen besonders die Prozesse der Auslese/Aussonderung (la selectivitad) und der Wiederentdeckung (la invención), die von Ortiz eher weniger betrachtet wurden, zu verstehen sind, um auf diese Weise zu einer Neubewertung der postkolonialen lateinamerikanischen Literaturen zu gelangen.
Ramas Studien zu transkulturellen Prozessen in den lateinamerikanischen Literaturen stellten wiederum einen Referenzpunkt für die Untersuchungen der in den USAUSA tätigen anglokanadischen Literaturwissenschaftlerin und Lateinamerikanistin Mary Louise Pratt dar, die in „Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation“ (1992, 22008) ihre Analysen von den Räumen des Kulturkontakts im spanischen Kolonialreich in Lateinamerika auf jene des britischen KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – und PostkolonialismusPostkolonialismus, -forschung in AfrikaAfrika ausweitete. Der Nutzen des Konzepts der Transkulturation bestand für Pratt darin, die Wechselseitigkeit des KulturtransferKulturtransfers auch in Situationen asymmetrischer Machtverteilung, wie sie keineswegs nur für die kolonialen Verhältnisse bezeichnend waren, in den Blick zu bekommen. Auf Ortiz und Rama verweisend, führt Pratt aus, dass
[e]thnographers have used this term [transculturation] to describe how subordinated or marginal groups select and invent from materials transmitted to them by a dominant or metropolitan culture. While subjugated peoples cannot readily control what the dominant culture visits upon them, they do determine to varying extents what they absorb into their own, how they use it, and what they make it mean. (2008, 7)
Für Pratt ist das Konzept der Transkulturation mit Fragen danach verbunden: „What do people on the receiving end of empire do with metropolitan modes of representation? How do they appropiate them? How do they talk back?“ Und als Wissenschaftlerin schließt sie notwendig noch die folgende Frage an: „What materials can one study to answer those questions“ (ebd.). Einer ihrer drei Leitbegriffe3 für die Untersuchung transkultureller Prozesse ist der der ‚KontaktzoneKontaktzone’. Transkulturelle Prozesse entfalten sich in Kontaktzonen, d. h. in sozialen Räumen, in denen „disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often as colonialism and slavery, or their aftermaths as they are lived out across the globe today“ (ebd.). Auf ihren Untersuchungsgegenstand, die kolonialen und postkolonialen Literaturverhältnisse in Lateinamerika und im Süden AfrikaAfrikas zugeschnitten, ist eine Kontaktzone
a space of imperial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict. […] The term ‚contact’ foregrounds the interactive, improvisational dimensions of imperial encounters so easily ignored or suppressed by accounts of conquest and domination told from the invader’s perspective. (2008, 8)
An den Kontaktbegriff in der SprachwissenschaftSprachwissenschaft (KontaktlinguistikKontaktlinguistik) angelehnt, der bei SprecherInnen verschiedener Sprachen zum Zwecke der Verständigung eine lingua franca, ein PidginPidgin und, wenn dieses Pidgin zur MutterspracheMuttersprache wird, eine KreolspracheKreolsprache entstehen lässt (vgl. S. 8), verortet sie den Kontaktbegriff entlang der colonial frontier. ‚Kontakt‘ bedeutet für Pratt, den Akzent darauf zu setzen, wie die Subjekte durch ihre Beziehungen mit anderen zu dem geworden sind, was sie sind. ‚KontakKontaktt’ als auslösendes Moment für Transkulturation heißt dann:
It treats the relations among colonizers and colonized, or travelers and „travelees”, not in terms of separateness, but in terms of co-presence, interaction, interlocking understandings and practices, and often within radically asymmetrical relations of power. (ebd.)
Von der Publikation des Buchs von Fernando Ortiz bis zur ersten Auflage des Buchs von Mary L. Pratt vergeht ein halbes Jahrhundert. Ortiz scheint mit seinen Ideen zur Transkulturation in seiner Zeit einmalig gewesen zu sein. Vermutlich wäre sein Werk dem VergessenVergessen anheimgefallen – zumal die von den USAUSA erzwungene politische Isolation Kubas nach der Revolution den Zugang zu seinem Werk nicht erleichterte –, wenn der uruguayische Literaturwissenschaftler Ángel Rama in den 1970er Jahren nicht erneut die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hätte. Und, wenn nicht der Boom der Lateinamerikastudien an amerikanischen und europäischen, darunter auch an zahlreichen deutschsprachigen Universitäten, seit den späten 1970er und 1980er Jahren zu einer breiten Rezeption lateinamerikanistischer Themen geführt hätte, darunter besonders der Literatur und Literaturkritik, der TheologieTheologie der Befreiung oder der PädagogikPädagogik des Brasilianers Paolo Freire. 500 Jahre nach Kolumbus’ Griff nach der neuen Welt gehört M. L. Pratt zu jenen Intellektuellen in den USA, die der imperialen Geschichtsschreibung mit dem verbreiteten Topos der Überlegenheit der Kulturen der europäischen Kolonialmächte, wie er in mannigfacher Variation in den Reiseberichten von Europäern in die überseeischen Kolonien überliefert ist, ein anderes Narrativ entgegensetzen. ‚Transkulturalität‘ im gerade beschriebenen Sinne ist hierbei ein Schlüsselkonzept.
Für die Rezeption des Konzepts der ‚Transkulturation‘ von Ortiz durch Rama und später durch Pratt lässt sich die Metapher der WanderungWanderung oder der „Metamorphosen eines wandernden Konzepts“ verwenden, wie es Moser (2010) in einem brillanten Aufsatz vorgeschlagen hat. Gemeinsam ist den drei AutorInnen – Ortiz, Rama, Pratt – die Situierung des Konzepts in der Analyse von kolonialen und postkolonialen Verhältnissen, bei Pratt verlängert bis in die Analyse gegenwärtiger kultureller Prozesse in Imperialismus und neoliberaler GlobalisierungGlobalisierung. Der Erkenntnisrahmen von Ortiz als kubanischem Anthropologen ist auf die Beschreibung und Erklärung der eigenen kulturellen Ressourcen der IndividuenIndividuum, Individuen und ihrer kulturellen Transformationspotentiale fokussiert, insoweit lässt sich dieser Erkenntnisrahmen als autofokussiert bezeichnen. Rama weitet diesen Erkenntnisrahmen aus und interpretiert ihn zugleich um: von KubaKuba auf die noch sehr viel komplexeren Verhältnisse Lateinamerikas, vom anthropologischanthropologischen Begriff zum einem der literaturwissenschaftlichen Analyse. Als in UruguayUruguay und später in VenezuelaVenezuela lebender Autor analysiert er sowohl die eigenen kulturellen Ressourcen als auch die der unter anderen Verhältnissen arbeitenden AutorInnen in anderen Räumen Lateinamerikas, die er heranzieht, um das Verständnis für das Eigene zu befördern. Der Erkenntnisrahmen stellt sich bei ihm somit als autofokussiert und zugleich heterofokussiert dar. Hingegen ist der Erkenntnisrahmen von M. L. Pratt, als in den USAUSA lehrende und aus dem anglophonen OntarioOntario (KanadaKanada/Canada) stammende Lateinamerikanistin, deutlich weiter gespannt als bei Rama. Für sie als Kanadierin, die in den 1950er und 1960er Jahren selbst noch mit den Auswirkungen des britischen KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – in Kanada konfrontiert war (vgl. Kap. 1 in Pratt 2008) und diese selbstreflexiv – oder sollte man ihr Konzept der ‚autoethnography’ auch auf sie selbst beziehen? – als Ausgangspunkt für ihre Recherchen nimmt, richtet sich das Forschungsinteresse nicht nur auf das von Spanien und PortugalPortugal kolonisierte Lateinamerika, sondern auch auf den von GroßbritannienGroßbritannien beherrschten Teil des südlichen AfrikaAfrikas. In der zweiten Auflage des Buchs von 2008 (11992) dreht sie in gewisser Weise den Spieß auch noch um, indem sie andere Mobilitätsmuster und Prozesse von Transkulturation erschließt, nämlich die von Akteuren, die aus der DiasporaDiaspora in den Exkolonien in die Metropolen zurückkehren sowie von jenen anderen, die die Erfahrungen von MobilitätMobilität in Zeiten neoliberaler Globalisierung verarbeiten. Der Erkenntnisrahmen der Autorin wäre somit hauptsächlich heterofokussiert.