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2.7.2 DifferenzDifferenz
ОглавлениеKonfliktmanagementKonfliktmanagement verlangt nach Aushandlungsprozessen. Hierbei ist die Anerkennung von Differenz – im Sinne von ‚Unterschied‘ (als Form oder Resultat) und ‚Unterscheidung‘ (als Operation oder Prozess) – ein wichtiger Schritt, der seinerseits zur Voraussetzung hat, dass die Differenz überhaupt erst in die Welt eingeführt und die beteiligten Akteure sich ihrer bewusst sind. Sich der Differenz bewusst zu werden, bedeutet, die GrenzeGrenze(n) oder Grenzen wahrzunehmen, die die verschiedenen Seiten, Parteien, Interessenlagen usw. voneinander trennen.
In einem topografischen Sinne sind GrenzenGrenze(n) die Orte oder Räume, an denen Entitäten sowohl aufeinandertreffen als auch unterschieden werden, z. B. in Form von Grenzen zwischen Staaten oder Regionen. Als natürliche Gegebenheit stellt ein Fluss für Wanderer oder für eine Gemeinschaft eine Grenze dar, aber eben nur solange, wie es keine Brücke oder keine Fähre gibt, so dass der Fluss allenfalls als ein Hindernis oder als ein Symbol für eine Grenze anderer Art, z. B. die eines Herrschaftsbereichs, wahrgenommen wird. Weshalb Grenzen menschengemachte Konstrukte sind, entlang derer sie sich ihre Ordnungen schaffen und ihre Kategorien und Systeme ausbilden, auch die von KulturKultur und kultureller Differenz. Die sozial- und kulturwissenschaftliche Grenzforschung (vgl. Lamont/Molnár 2002, Paasi 2011, Schiffauer et al. 2018) zeigt jedoch, dass die Beziehungen zwischen Differenz und Grenze um vieles komplexer sind, als es eine topografische Wahrnehmung von Grenzen oder die Vorstellung einer Grenze als Linie suggeriert, wie in der sprichwörtlichen „roten Linie“, die nicht überschritten werden darf, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Oder auch, dass soziale Grenzen als Teil von sozialen DemarkationDemarkationspraktiken zwischen Gruppen oder KlasseKlassen gegebenenfalls nicht sichtbar sind, wie es die Metapher der „gläsernen Decke“ in der Organisationssoziologie ausdrücken will. So richtet die neuere Grenzforschung stattdessen ihr Augenmerk einerseits auf die Praktiken des Umgangs mit Grenzen und die Prozesse des Errichtens, Verteidigens, Durchdringens und Dekonstruierens von Grenzen.1 Und sie untersucht die Ordnungen, die hierbei zur Disposition stehen. Andererseits positioniert sie sich in methodologischer Hinsicht, indem sie dem Prinzip „thinking from the border“ Rechnung trägt, d.h. Grenzen nicht als Rand-Phänomen zu betrachten, sondern ihre Komplexität in den Mittelpunkt zu rücken (vgl. Bossong/Gerst/Kerber et al. 2017, Schindler 2019). In kultur- und sprachwissenschaftlicher Perspektive sind Grenzen sowohl als Praxis der DemarkationDemarkation als auch als Zonen des KontaktKontakts, als Räume des Übergangs und auch als Bereiche eines Kontinuums mit je eigenen kulturellen und sprachlichen Ausprägungen zu verstehen, in welchen sich in der InteraktionInteraktion Muster überlagern, Formen mischen und auf diese Weise Anderes und Neues entsteht, das selbst wiederum den Referenzpunkt für DifferenzierungDifferenzierung darstellt.
Allerdings, und hier ist erneut auf den Soziologen Pierre Bourdieu zu verweisen, steht der Bewusstwerdung von DifferenzDifferenz und GrenzeGrenze(n) oft jenes Phänomen entgegen, das er „le pouvoir de violence symbolique“ (in Bourdieu/Passeron (1970), dt. 1973), d.h. „die MachtMacht, -verhältnisse symbolischer GewaltGewaltsymbolische –“ nennt. ‚Symbolische Gewalt‘ bedeutet die implizite, nicht sofort sichtbare, in diesem Sinne auch die gesellschaftlich akzeptierte Gewalt, mit der die vorherrschende Sicht auf die soziale Welt legitimiert wird. Bourdieu/Passeron betrachten die symbolische Gewalt nicht als rationales Kalkül. Sie wirkt vielmehr durch eine Art Komplizenschaft der Beherrschten, die, um über die HerrschaftsverhältnisseHerrschaftsverhältnisse nachzudenken, nur über die Denkkategorien der Herrschenden verfügen und diese verinnerlicht haben. Nicht grundlos haben Bourdieu/Passeron den Begriff der symbolischen Gewalt im Kontext einer TheorieTheorie der unsichtbaren Hand des Bildungssystems entwickelt. Denn sie wollen zeigen, wie sich das Prinzip der symbolischen Gewalt in einer legitimen gesellschaftlichen Institution – das gilt für das Bildungswesen ebenso wie für das Fernsehen, das Kino, die Zeitungen etc. – entfaltet und sich im HabitusHabitus der Akteure verankert. 18 Jahre nach dem Erscheinen von „La reproduction“ (1970, dt. „Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt“) kommt Bourdieu erneut auf diese Problematik zurück. In seinem Werk „La domination masculine“ (1998b, dt. „Die männliche HerrschaftHerrschaft, -sverhältnisse“ 2005) untersucht er eine besondere Form der symbolischen Gewalt. Er geht der Frage nach, warum zwischen Männern und Frauen eine so große Differenz in der Wahrscheinlichkeit des Zugangs zum öffentlichen Raum besteht und warum Frauen in diesen Räumen systematisch unterhalb der Männer positioniert sind.
Dass sich mit dieser Frage in prominenter Weise – sozusagen disziplinkonstituierend – die GenderGender- und Diversitätsforschung befasst, braucht nicht weiter betont zu werden, schon aber der Sachverhalt, dass die der ‚symbolischen GewaltGewaltsymbolische –‘ inhärente Dynamik auch als KonfliktKonflikt zwischen Kräften der Homogenisierung und der Diversifizierung/DifferenzierungDifferenzierung zu analysieren ist, eine Dynamik, die einerseits aus der Nicht-Wahrnehmung von Pluralität und andererseits aus dem Umgang mit Differenz erwächst. Mit welchen lebensweltlichen Konsequenzen dies verbunden ist und welche Erklärungsmodelle dafür entwickelt werden, lässt sich an Untersuchungen im Schnittpunkt von Organisationssoziologie, Betriebswirtschaft Genderund Gender StudiesGender Studies, Genderforschung eindrücklich in ErfahrungErfahrungsprachliche – bringen.
Das Problem ist hinreichend bekannt: Im Zusammenhang mit dem Versagen des Managements vieler Großunternehmen in den Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrisen der Jahre 2008 bis 2011 konstatierte der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Siemens Peter Löscher: „In der Führungsetage sitzen nur weiße Männer. […] Wir sind zu eindimensional“ (zitiert nach Erfurt Sandhu 2014, 1). Ein anderer Insider des Topmanangements, ein früheres Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom beschreibt „die Führungsetagen als ‚tradiertes System eingeschliffener Verhaltensweisen und Sozialmechanismen‘, welche mit ‚einem (oft unbewussten) Immunsystem‘ fremde Einflüsse abwehren“ (ebd,. 3), weshalb Erfurt Sandhu schlussfolgert:
Diese Persistenz von HomogenitätHomogenität in oberen Führungsetagen deutet auf rätselhafte Beharrungskräfte hin, die Veränderungsmaßnahmen im Topmanagement abprallen lassen. Die Unternehmen sind zwar bemüht, Führungsetagen vielfältiger werden zu lassen, aber ein tatsächlicher WandelWandel findet nicht statt. Stattdessen reproduziert sich die Homogenität weiter. (ebd., 2)
In Zahlen ausgedrückt: 2014 waren knapp 96 Prozent der Vorstandspositionen der Top-200-Unternehmen in DeutschlandDeutschland von Männern besetzt. Bis heute (2020) ist eine Veränderung, wenn überhaupt, nur mit dem Mikroskop erkennbar. Um das Problem der Beharrungskräfte und Trägheit in Unternehmen – zumindest – auf einer theoretischen Ebene in den Griff zu bekommen, entwickelten Sydow/Schreyögg/Koch (2009) die TheorieTheorie der unsichtbaren Hand der organisationalen Pfadabhängigkeit, die, wie Erfurt Sandhu zeigt, auch einen Ansatz dafür bietet, wie die anhaltende HomogenitätHomogenität in Führungsetagen erklärt werden kann und warum viele der durch diversity management angestoßenen Veränderungsmaßnahmen scheitern. Zudem geht es ihr darum, „die emergenten Effekte pfadabhängiger Dynamiken“ (ebd., 5) zu beleuchten und schließlich zu ermitteln, wo anzusetzen ist, um Pfade – basierend auf formalen und informellen Selektionsprozessen – in der Rekrutierung von Führungspersonal aufzubrechen und ein höheres Maß an Geschlechter- und anderer DiversitätDiversität in Führungsetagen zu erreichen. Der Ausschluss von „Unpassenden“, z. B. von Frauen, sei „nicht zwangsläufig durch die einzelnen Führungskräfte intendiert, sondern ein emergenter Systemeffekt auf kollektiver Ebene zur Stabilisierung des Systems“ (ebd., 212). Keine Organisation komme ohne Koordination und Stabilität aus. „Problematisch wird es jedoch für die Anpassungs- und Lernfähigkeit des Systems, wenn die GrenzenGrenze(n) des Topmanagements undurchlässig bleiben“ (ebd.).
Von dieser wirtschaftswissenschaftlich und gendergender-basierten Ausdeutung von Bourdieus Konzept der symbolischen GewaltGewaltsymbolische – und zum Umgang mit DifferenzDifferenz im Kontext dessen, was seit den späten 1980er Jahren als ‚Unternehmenskultur‘ (vgl. Schreyögg 1989) bezeichnet wird, lässt sich ein Bogen zur kulturtheoretischen Diskussion über Differenz schlagen. Dabei steht außer Frage, dass ein WandelWandel der Unternehmenskultur unabdingbar die Durchlässigkeit von GrenzenGrenze(n) im Auge haben muss. Doch nicht nur die Grenzen in ihrer Spannung zwischen Persistenz und Durchlässigkeit sind hierbei von Bedeutung, sondern auch die VernetzungVernetzung von Kulturen und die Anschlussfähigkeit des Tuns der Akteure an gesellschaftliche, demografische und andere Wandelprozesse. Dies alles läuft darauf hinaus, die verschiedenen Aspekte von Differenz und DifferenzierungDifferenzierung in den Blick zu bekommen.
Bekanntermaßen sind es die TheoretikerInnen der Postkolonialismusforschung und der feministischen und Geschlechterstudien, die mit ihren Differenzkonzepten und -interpretationen ein sehr viel genaueres Verständnis von sozialen Prozessen und Interaktionen erreicht haben und die zeigen, wie binäre Grenz-Logiken – das Eigene vs. das Fremde, innen vs. außen, global vs. lokal, Mann vs. Frau, IdentitätIdentität vs. AlteritätAlterität usw. – aufzubrechen sind. Seitens der Postkolonialismusforschung liegt ein deutlicher Akzent auf dem Zusammenhang von ‚KulturKultur‘ und ‚Differenz‘. So sind die Schlüsselbegriffe in Homi Bhabhas Denken ‚HybriditätHybridität‘, ‚Dritter Raum‘ und ‚kulturelle DifferenzDifferenz‘, während für Stuart Hall „das verhängnisvolle Dreieck“ (Hall 2018), bestehend aus den Konzepten und Vorstellungen von ‚Rasse‘, ‚EthnieEthnie‘ und ‚NationNation‘ die Projektionsfläche darstellt, entlang derer er seine differenztheoretischen Betrachtungen entwickelt.2
Bhabhas Begriff der ‚kulturellen Differenz‘ ist ein Konzept, das sich – um die prägnante Formulierung von Saal (2014, 37) aufzugreifen, „auf das produktive Potential differenter Perspektiven im Rahmen interkultureller Verhandlungen und Austauschprozesse“ bezieht. Der ‚Dritte Raum‘ sei „der Ort, wo diese Verhandlungen stattfinden“, während „HybriditätHybridität auf die grundsätzliche Differentialität von KulturKultur“ (ebd.) referiert.3 Stuart Hall wiederum lotet verschiedene Zusammenhänge der Dialektik von kultureller IdentitätIdentitätkulturelle und Differenz aus, die er beide im Sinne eines Produktionsprozesses und einer Nichtabgeschlossenheit betrachtet und aufeinander bezieht. Was dann zur Folge hat, dass bei ihm Identität4 keinesfalls essentialistischessentialistisch verstanden wird, wie es ansonsten in Alltags-, in politischen und oft auch in wissenschaftlichen Diskursen immer wieder der Fall ist, sondern bei ihm grundsätzlich als ‚IdentifikationIdentifikation‘ zu lesen und durch Dimensionen der Hybridität, KreolisierungKreolisierung, EntwurzelungEntwurzelung und DiasporaDiaspora geprägt wird.
Es soll hier nicht darum gehen, die differenztheoretischen Erkenntnisse der beiden Kulturtheoretiker der Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität im Detail zu referieren. Vielmehr ist es für das weitere Verständnis wichtig, sich auf die Eckpunkte zu konzentrieren, die mit den Begriffen, die das „verhängnisvolle Dreieck“ bilden, ziemlich genau den Ort und die Dynamiken dieser Diskussionen markieren. Bezugspunkt ist die Auseinandersetzung mit dem KolonialismusKolonialismus und dessen Erbe, d.h. mit den Differenzen, Kategorien und GrenzenGrenze(n), die durch dieses Machtsystem etabliert und sich auf lange Zeit in die Gesellschaften und in das Verhalten der Menschen eingeschrieben haben. Wer es genauer wissen will, der lese die Werke des aus Martinique stammenden Vordenkers der EntkolonialisierungEntkolonialisierung, des Psychaters und Schriftstellers Frantz Fanon „Schwarze Haut, weiße Masken“ (frz. 1952, dt. 1980) und „Die Verdammten dieser Erde“ (frz. 1961, dt. 1966) sowie des tunesisch-französischen Soziologen und Autors Albert Memmi „Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Portraits.“ (frz. 1957, dt. 1980). Auch für Stuart Hall ist Frantz Fanon eine zentrale Referenz.
Für Pierre Bourdieu wiederum, der selbst aus ErfahrungErfahrungsprachliche – die Mechanismen und Wirkungen des französischen KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – im Algerien der späten 1950er und früher 1960er Jahre vor Augen hatte, sind es in einem allgemeineren Sinn die Machtverhältnisse in der Gesellschaft zwischen den Herrschenden und Mächtigen, zwischen jenen, die über entsprechend hohes ökonomisches und/oder symbolisches Kapitel verfügen und jenen anderen, die Beherrschten, Marginalisierten oder Unterdrückten, die über kein solches Kapital oder die über tendenziell immer weniger davon verfügen. Seit den 2000er Jahren trifft letzteres für beträchtliche Teile der traditionellen Mittelschichten in den europäischen Nationalstaaten zu (vgl. Mau 2017).
All das behält auch heute seine Gültigkeit, gleichzeitig sind jedoch noch andere Dynamiken in Gang gekommen – transnationaletransnationale Migration, transareale, digitale –, die die ErosionErosion von GrenzenGrenze(n) und Kategorien beschleunigen, die vor wenigen Jahrzehnten noch Staaten, Märkte, Menschen und Kulturen trennten.
Bereits erwähnt wurden die starken Tendenzen der IndividualisierungIndividualisierung5 im SpätkapitalismusSpätkapitalismus, zugleich die ebenfalls starken Tendenzen der Homogenisierung unter Verhältnissen der GlobalisierungGlobalisierung (vgl. Beck 1997, 2002). Zu den veränderten Dynamiken gehört die Errichtung von neuen und nicht selten sehr viel weniger durchlässigen kulturellen GrenzenGrenze(n) anstelle bisheriger territorialer und sozialökonomischer Grenzen (vgl. Middell/Middell 1998, Kleeberg/Langenohl 2011) sowie die dazu nur scheinbar gegenläufigen Prozesse der KulturalisierungKulturalisierung im Spätkapitalismus. In dem Maße, wie im Spätkapitalismus auch die „nicht-kulturellen“ Erscheinungsformen Prozessen der Kulturalisierung und der KommodifizierungKommodifikation, Kommodifizierung, Kommodifzierbarkeit unterworfen sind und dadurch die Komplexität der kulturellen Verhältnisse wächst, ist ‚DifferenzDifferenz‘ allein nicht mehr ausreichend, denn es heißt auch, die oben erwähnten „nicht intendierten Systemeffekte“, die Seiteneffekte, das unbeabsichtigt und unvorhersehbar neu Entstehende in seiner Eigenschaft als etwas ‚Emergentes‘ beschreiben und erklären zu können. Für das Verständnis von Transkulturalität braucht es somit neben der DifferenztheorieDifferenztheorie noch eine andere TheorieTheorie der unsichtbaren Hand, die hier als EmergenztheorieEmergenztheorie im Hinblick auf Transkulturalität eingeführt werden soll.6