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2.8 Transkulturalität
ОглавлениеDie bisherige Argumentation in diesem Kapitel über KulturKultur und Kulturen im KonfliktmanagementKonfliktmanagement geht davon aus, dass
KulturKultur mehr und anderes ist als es mit einem humanistischen – und oft auch alltagssprachlichalltagssprachlichen – Kulturverständnis und seinem Fokus auf Konzert, Oper, Literatur, Theater, Museum, eventuell auch noch Film und gutes Essen ausgedrückt wird.
KulturKultur – in Form von Werten und Normen, Sprachen, Religionen, Theaterstücken, Liedern, Tonkrügen, Schuhen, Autos, Dresscodes, Diskursen, Medien usw. – von Menschen „gemacht“ wird. Daran anknüpfend und im Anschluss an Wimmer (1996) wird Kultur als Prozess der AushandlungAushandlung von Bedeutungen verstanden (vgl. Abschnitt 2.3).
zwischen den Akteuren und um deren KulturKultur(en) soziale Konflikte ausgetragen werden, und dies im Großen wie im Kleinen und Alltäglichen.
sich die Vorstellungen, die sich die Menschen von KulturKultur – ihrer eigenen Kultur, der Kultur(en) der Anderen und den kulturellen DifferenzDifferenzen – machen, historisch stark verändert haben und weiter verändern. In der bürgerlichen Gesellschaft stellt Kultur in ausgeprägter Weise ein FeldFeld, Feldtheorie sozialer DistinktionDistinktion (vgl. Bourdieu 1979) dar, seit Mitte des 20. Jahrhunderts fungiert sie im NationalstaatNationalstaat (auch) als Filter im Migrationsgeschehen, und im SpätkapitalismusSpätkapitalismus avanciert sie in Form der Kulturalisierungsregimes zu einem Ordnungskriterium obersten Ranges in den Gesellschaftsbeziehungen.
im Zuge eines konstruktivistischkonstruktivistischen Kulturverständnisses sich ein Perspektivenwechsel von der Gemeinschaft/GruppeGruppe als „Kulturträger“ auf das IndividuumIndividuum, Individuen vollzogen hat. KulturKultur ist, was den Einzelnen formt und wie er damit umgeht.
der Motor kultureller Dynamik in der MobilitätMobilität der Menschen, der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und der fortwährenden Neugestaltung ihrer Beziehungen in realen und virtuellen Räumen besteht.
Dass Transkulturalität an dieses Verständnis von KulturKultur anschließt, wurde im Kapitel 1 bereits ausgeführt. Doch ist nun zu klären, was unter Transkulturalität zu verstehen ist. Ein erster Schritt der begrifflichen Klärung besteht darin, ausgehend von den ausführlich diskutierten Begriffen der Bi-, Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität, zu zeigen, in welcher Weise sich Transkulturalität von diesen Konzepten unterscheidet. Ein zweiter Schritt der Schärfung des Konzepts besteht darin, auf dem Weg der Gegenprobe – was ist das Gegenteil von Transkulturalität? – weitere Klarheit zu erreichen, um dann in einem dritten Schritt zu dem in diesem Buch vertretenen Verständnis von Transkulturalität vorzustoßen.
In der bisherigen Argumentation in diesem Kapitel sollte deutlich geworden sein, dass die Konzepte und Strategien des Managements kultureller Konflikte wie Bi-, Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität ganz Unterschiedliches – und dieses unterschiedlich gut – leisten. Der in DeutschlandDeutschland von konservativen Kreisen totgesagte MultikulturalismusMultikulturalismus wird in KanadaKanada/Canada von ebenfalls konservativen Kreisen als hohes Gut im Kampf gegen kulturelle und rassische DiskriminierungDiskriminierung und im Sinne kultureller Anerkennung und Selbstbestimmtheit gepriesen. Als ob dies in Deutschland nicht auch ein ernstzunehmendes FeldFeld, Feldtheorie sozialer Wahrnehmungen und politischen HandelnHandelnpolitisches –s wäre. Und in Kanada wiederum gilt dieser Multikulturalismus aus ebenso nachvollziehbaren Gründen als ein Konzept des anglophon geprägten NationalismusNationalismus und NeoliberalismusNeoliberalismus, gegen den der frankophone Quebecer Nationalismus sein Konzept der Interkulturalität in Stellung bringt und sich seinerseits wiederum von den Vertretern der Transkulturalität in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec (vgl. dazu Abschnitt 3.3) – zumindest zeitweilig – herausgefordert sieht. In Konfliktlagen, wie sie der SpätkapitalismusSpätkapitalismus auf die Agenda setzt, wird mit all diesen Konzepten ein KonfliktmanagementKonfliktmanagement von allenfalls kurzer oder mittlerer ReichweiteReichweite unternommen werden können, so dass wir uns über kurz oder lang auch noch mit anderen Konzepten befassen werden. Ob ein solches Konzept „HyperkulturHyperkultur(alität)(alität)“ heißen wird, wie es gelegentlich schon in der Diskussion ist (vgl. Han 2005, Griese 2006), wird sich noch erweisen.
Dieses Buch legt nun den Finger auf Transkulturalität. Als Konzept ist Transkulturalität mit den eben genannten anderen Kulturkonzepten verwandt; zugleich unterscheidet sie sich in kategorialer Weise von diesen. Miteinander verwandt sind sie aufgrund einer Gemeinsamkeit, die darin besteht, dass sie sich alle auf UngleichheitUngleichheit und Differenz beziehen.
Auf kategoriale Weise unterschiedlich sind sie dadurch, dass Transkulturalität – zumindest bislang –
erstens, kein Konzept des politischen HandelnHandelnpolitisches –s und des Managements kultureller KonfliktKonflikte ist, sondern eines der wissenschaftlichen Beschreibung und der Erkenntnis sozialer und kultureller Prozesse und folglich auch einer anderen Logik verpflichtet ist als ein Konzept des politischen HandelnHandelnpolitisches –s;
zweitens, in zeitlicher und in gegenständlicher Hinsicht, primär retrospektiv und rekonstruierend das Augenmerk auf die Inszenierungsformen und -praktiken kultureller Verflechtungen richtet, damit potentiell aber auch Wissen für künftiges HandelnHandeln bereitstellt;
drittens, die damit verbundenen Prozesse und Strukturen nicht nur – wie im Falle von Bi-, Multi-, und InterkulturalitätInterkulturalität – differenztheoretisch, sondern auch emergenztheoretisch zu beschreiben und erklären sind.
Um weitere Klarheit darüber zu erreichen, was unter Transkulturalität zu verstehen ist, bietet sich eine Gegenprobe und ein Nachdenken darüber an, was als Gegenteil von Transkulturalität zu verstehen ist. Das Gegenteilige ist jedoch nicht mit einem Begriff zu fassen, sondern erstreckt sich über ein ganzes Spektrum des Nichtzustandekommens, der Vermeidung, Unterdrückung, Auslöschung kultureller KontaktKontakte. Wenn Transkulturalität prinzipiell den Kontakt von Kulturen voraussetzt, welche Szenarien sind dann zu unterscheiden, die nicht zu Transkulturalität führen?
1 Kein Kontakt von Kulturen. Transkulturalität kommt nicht in Gang, wenn keinerlei Kontakte zwischen Kulturen stattfinden, wie es für isolierte Inselkulturen oder für völlig abgeschieden lebende Gemeinschaften anzunehmen ist. Zwar wandeln sich diese Kulturen auch, aus sich heraus und in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, nur ist dies eben kein kontaktinduzierter und somit transkultureller WandelWandel.
2 Zeitlich begrenzter Kontakt mit dem Ziel der Vernichtung, VertreibungVertreibung, Auslöschung anderer Kulturen. Auch hierbei ist Transkulturalität keine Option, wie die PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- von „ethnischen Säuberungen“ zeigt.
3 Zeitlich begrenzter KontaktKontakt mit dem Ziel der Assimilation von Minderheiten an die dominante KulturKultur oder auch des BruchBruchs in der Tradierung von kulturellem Wissen und kulturellen Praktiken. Weder die Assimilation noch der „Kulturwechsel“ erfolgen in der Weise, dass keine kulturellen Spuren zurückbleiben, die ihrerseits wiederum ein Potential für transkulturelle Prozesse darstellen können. Letzteres muss aber nicht zwingend der Fall sein. Für dieses Szenario gibt es unzählige Belege im Zusammenhang mit dem „kulturellen GenozidGenozidkultureller“ an den indigeneindigenen/autochthonen Völkern (vgl. Abschnitt 2.5).
4 Permanenter Kontakt mit Erstarren oder Abbruch transkultureller Prozesse. Dieses nur scheinbar ungewöhnliche Szenario begegnet uns im Lernen von Zweitsprachen bei Erwachsenen im Kontext von MigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und wird in der SprachwissenschaftSprachwissenschaft als ‚FossilisierungFossilisierung‘ bezeichnet. Auch der umgekehrte Fall, dass im Kontext der MigrationMigration die ErstspracheErstsprache „verloren geht“, als ‚AttritionAttrition‘ oder ‚Rückbau‘ (im Gegensatz zu ‚SprachausbauSprachausbau‘) bezeichnet, ist vielfach belegt.
5 Latenter und eingeschränkter Kontakt durch Auferlegung eines meist auch repressiven Grenzregimes, wie im Fall von SegregationSegregation, ApartheitApartheit oder GhettoisierungGhettoisierung.
6 Abbruch des KulturkontaktKulturkontakts mit einem traumatisch besetzten VergessenVergessen der HerkunftsspracheHerkunftssprache DeutschDeutsch, wie er bei Opfern der ShoaShoa dokumentiert ist (vgl. Schmid 2002, Ben-Rafael/Schmid 2007).
Diese Fälle weisen auf Verschiedenes hin. Wenn davon auszugehen ist, dass Transkulturalität prinzipiell KulturkontaktKulturkontakt zur Voraussetzung hat, so führt Kulturkontakt nicht notwendig zu Prozessen von Transkulturalität. Weiterhin zeigt sich, dass das Ingangkommen von transkulturellen Prozessen nicht auf ein Entweder-oder-Szenario wie bei a), b) und f) zu reduzieren ist, sondern auch andere Szenarien wie die Assimilation in c), die FossilisierungFossilisierung und der Rückbau in d) oder die SegregationSegregation in e) anzunehmen sind.
Vor diesem Hintergrund besteht nun der dritte Schritt darin, das in diesem Buch vertretene Verständnis von Transkulturalität weiter auszuformulieren. Es orientiert sich an empirischen Befunden, die hauptsächlich in philologisch-kulturwissenschaftlichen Fächern verhandelt werden.
Aus der oben getroffenen Unterscheidung zwischen Transkulturalität einerseits und den Konzepten des Managements kultureller Konflikte andererseits ist festzuhalten,
1 dass Transkulturalität als ein Konzept der wissenschaftlichen Beschreibung auf das Verständnis der kulturellen Dynamiken in Gegenwart und Vergangenheit ausgerichtet ist.
2 Gegenstand der Erforschung von Transkulturalität sind die Prozesse und Strukturen kultureller Austausch-, Aushandlungs- und VerflechtungVerflechtungsbeziehungen, die (vermutlich) die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch zu verfolgen sind und – seit wenigen Jahren zunehmend systematisch – von den historischen Wissenschaften wie AnthropologieAnthropologie, Archäologie, EthnologieEthnologie, GeschichtswissenschaftGeschichtswissenschaft, historische MigrationsforschungMigrationsforschung, Religionswissenschaften, Sprach- und Literaturwissenschaften, TranslationswissenschaftTranslationswissenschaft u.a. Stück für Stück retrospektiv und rekonstruierend freigelegt werden.
3 Die philologisch-kulturwissenschaftliche Transkulturalitätsforschung1 geht ihrerseits davon aus, dass sich Gemeinschaften wie IndividuenIndividuum, Individuen mit ihren Sprachen, Literaturen, Medien und anderen kulturellen Manifestationen nicht in ethnisch abgeschlossenen, sprachlich homogenen und territorial abgegrenzten Räumen konstituieren und bewegen, sondern sie grenzüberschreitend mit anderen Gemeinschaften und Individuen verflochten sind und sich ihre Kontakte im Wesentlichen aus MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitätMobilität der Akteure ergeben.
4 Transkulturalität unterstellt, dass sich Kulturen in ihrer Verschiedenheit begegnen und der KontaktKontakt zwischen ihnen auf Aushandlungen angewiesen ist. Damit kommen vielfältige Prozesse der MischungMischung (vgl. 4.2, zu HybriditätHybridität), der MigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- (vgl. 4.3 zu DiasporaDiaspora und diasporischediasporische Lesart Lesart), des transkulturellen Erinnerns (vgl. 4.4), der ErosionErosion von GrenzenGrenze(n) (vgl. 4.5, im Hinblick auf migrantisches SchreibenSchreiben, Schreibung), der AneignungAneignung und des Konflikts (vgl. 4.6 zu ‚SprachbiografieSprachbiografie‘), der Weitergabe und Umwertung (vgl. 4.7, im Hinblick auf ‚GenerationGeneration‘) und des Transfers und der Vermittlung (vgl. 4.8 zu ‚TranslatioTranslatio‘) in Gang, die wiederum in MachtMacht, -verhältnisse-, Hegemonie- und Verwertungsprozesse eingebunden sind.
5 Transkulturalität unterstellt weiterhin, dass sich Kulturen nicht en bloc begegnen, sondern es IndividuenIndividuum, Individuen und Gruppen mit ihren Normen, Werten, Anschauungen, Sprachen, Religionen usw. sind, die in KontaktKontakt treten. Dies verlangt danach, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen: von den Kulturen von Gemeinschaften zu den Individuen und ihren kulturellen Praktiken. Dieser Perspektivenwechsel bedeutet zugleich, anstelle der den Gemeinschaften unterstellten HomogenitätHomogenität den Akzent auf DistinktionDistinktion, DifferenzDifferenz und HeterogenitätHeterogenität innerhalb und zwischen Individuen und Gruppen zu verlagern.
6 Wenn der Gegenstand von Transkulturalität in der Erforschung von Prozessen und Strukturen kultureller Austausch-, Aushandlungs- und Verflechtungsbeziehungen besteht (siehe 2.) und der Akzent auf den Prozessen der DistinktionDistinktion, Differenz und HeterogenitätHeterogenität innerhalb und zwischen IndividuenIndividuum, Individuen und Gruppen liegt (siehe 5.), dann ist auch davon auszugehen, dass in diesen Verflechtungen und InteraktionenInteraktionen immer auch unvorhersehbare, unerwartete, unbeabsichtigte und neue kulturelle Formen und Praktiken entstehen. In theoretischer Hinsicht bedeutet das, dass Transkulturalität nicht nur differenztheoretischdifferenztheoretisch (wie bei Bi-, Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität), sondern auch emergenztheoretischemergenztheoretisch zu modellieren ist.
7 Begriffsgeschichtlich geht das Konzept von Transkulturalität auf die Untersuchungen des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz (1940) – er spricht von ‚transculturación‘ – zurück, das er – in Abgrenzung von dem damals in der US-amerikanischen AnthropologieAnthropologie vorherrschenden Begriff der ‚AkkulturationAkkulturation‘ – für den Prozess des Wandels von Kulturen und kulturellen Verhältnissen einführte. Wenn im Anschluss an Ortiz ‚Transkulturation‘ für den Prozess des Wandels steht, so soll im vorliegenden Buch ‚Transkulturalität‘ den Strukturaspekt dieses Prozesses bezeichnen.
8 Die wachsende Verbreitung des Begriffs der Transkulturalität steht im direkten Zusammenhang mit der rasant anwachsenden Vielfalt in den Sozialisationsformen im Zeitalter von GlobalisierungGlobalisierung, InternetInternet und Computertechnologien einerseits und den Kulturalisierungsregimes im SpätkapitalismusSpätkapitalismus andererseits. In diesem Kontext steht Transkulturalität für individuelle Mobilitätsprofile und individuelle Ausdrucks- und AneignungAneignungsformen kultureller Praktiken – zugespitzt formuliert: jedes IndividuumIndividuum, Individuen hat (s)eine KulturKultur.
Aus diesem letzten Aspekt der Bestimmung von Transkulturalität lässt sich schließlich die Frage ableiten, ob Transkulturalität unter die Bedingungen der GlobalisierungGlobalisierung einzuordnen ist, Globalisierung verstanden als ein sich über mehrere Jahrhunderte erstreckender Prozess (vgl. Osterhammel/Petersson 2003), der die frühe Neuzeit mit den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts verbindet? Wenn man Globalisierung nicht so weit fassen will, dass darunter auch die Herausbildung von Reichen und Großreichen seit der Antike zu verstehen ist, in denen es gewiss auch vielfältige transkulturelle Prozesse gegeben hat, so sind darunter auf jeden Fall die mit der frühen Neuzeit einsetzenden Phasen beschleunigter Globalisierung (vgl. Ette 2012, 8-26) zu erfassen. Deren erste Phase setzt mit der kolonialen Expansion europäischer Mächte ein, die zunächst von Spanien und PortugalPortugal angetrieben wird. Die zweite Phase der Beschleunigung ergibt sich aus dem Aufstieg von FrankreichFrankreich und GroßbritannienGroßbritannien im 18. und 19. Jahrhundert als koloniale Akteure und zugleich als Dauerrivalen im Kampf um MachtMacht, -verhältnisse und Einflusssphären, verbunden mit neuen Handelssystemen und mit Entdeckungs- und Forschungsreisen. Von England geht die industrielle Revolution aus, von Frankreich die politische Revolution mit ihren Ansprüchen auf Universalität. Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, steigen die USAUSA zu einem globalen Akteur auf und werden Teil der kolonialen und neokolonialen Verteilungskämpfe. Die beiden Weltkriege setzen immense technische Modernisierungsschübe frei. Neue und sehr viel raschere Kommunikationsmöglichkeiten breiten sich aus. Die vierte und gegenwärtige Phase beschleunigter Globalisierung setzt in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein, nach dem Ende des Kalten Kriegs, technologisch angetrieben durch die DigitalisierungDigitalisierung und das InternetInternet, mit einer KommunikationKommunikation rund um den Globus in Echtzeit und mit dem, was die Humangeografie „Raum-Zeit-Kompression“ nennt.
In dieser letzten Phase gewinnt das Nachdenken über transkulturelle Prozesse in vielen wissenschaftlichen Disziplinen deutlich an Attraktivität, zeigt sich doch, dass globale Phänomene wie wachsende MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitätMobilität, wie der Strukturwandel in den Ökonomien, Märkten und den internationalen Beziehungen sowie die Möglichkeiten des Internets und der DigitalisierungDigitalisierung die Sozialbeziehungen und kulturellen Verhältnisse radikal verändern. Und dass diese Veränderungen selbst wiederum eine lange Geschichte haben, weshalb sich gerade auch HistorikerInnen auf die Rekonstruktion von Verflechtungs- und Austauschprozessen konzentrieren.
Bemerkenswert ist nun, in welcher Weise Ottmar Ette (2012, 8-26) diesen Phasen der GlobalisierungGlobalisierung ihre je eigenen Bedrohungen und Ängste zuordnet. Meist sind es Krankheiten und Epidemien, die Ausdruck bestimmter Kontaktverhältnisse sind und die mit Ängsten vor neuen KontaktKontakten einher gehen: Ängste vor der Syphilis in der ersten Phase, das Gelbfieber in der zweiten Phase, die wellenartige Verbreitung der Pocken und der Spanischen Grippe in der dritten Phase und die Ängste vor HIV, Ebola und Corona in der vierten Phase.
Diese Krankheiten lösten in der Vergangenheit vielfältige KonfliktKonflikte aus: Paniken unter den Menschen, Lynchjustiz, FluchtFlucht und VertreibungVertreibung. Heute gehen sie mit Ausgangssperren und Lockdown des öffentlichen Lebens und Teilen der Volkswirtschaften einher, mit globalen Reaktionen an den Börsen, mit dem Auslösen von Krisenplänen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Europäischen Union, der nationalen Gesundheitsbehörden vieler Länder, mit drastischen Beschränkungen von Grundrechten und der MobilitätMobilität der BürgerInnen. In diesem Zusammenhang wird ein Aspekt von Transkulturalität besonders eindrücklich erfahrbar, der allerdings so gut wie nie erwähnt, geschweige denn erforscht wird und folglich auch in diesem Buch nur schlicht genannt werden kann. Es handelt sich um die emotionalenemotionalen Reaktionen und psychischen Zustände der IndividuenIndividuum, Individuen unter den ihnen abgeforderten permanenten Anpassungsleistungen, die ein von Mobilität und MigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- geprägtes und im permanenten Krisenmodus geführtes Leben erfordern. Dabei zeigt sich, dass diese Anpassungsleistungen in sozialer Hinsicht keinesfalls gleich verteilt sind und die bestehenden sozialen Ungleichheiten zwischen arm und reich (vgl. Butterwegge 2020) weiter verschärft werden.