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Kapitel 2: KulturKultur und Kulturen im KonfliktmanagementKonfliktmanagement 2.1 Problemskizze, Leitfrage und Argumentation

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In diesem Kapitel liegt der Akzent auf Aushandlungsprozessen, die konstitutiv für die Bestimmung von KulturKultur sind und die zugleich erforderlich werden, wenn sich Kulturen begegnen. Die historische MigrationsforschungMigrationsforschung hat in den letzten drei Jahrzehnten unzählige solcher Situationen untersucht. Gut erforscht sind beispielsweise die FluchtFlucht und VertreibungVertreibung der HugenottenHugenotten aus FrankreichFrankreich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und ihrer Ansiedlung in Hessen, Preußen, England, im calvinistischen Teil der Niederlande oder am Kap von Afrika.Afrika1 Für eine Stadt wie Lyon bedeutete der Massenexodus der Hugenotten einen dramatischen Aderlass und den Verlust an Produktivkräften; für Preußen und Hessen hingegen einen wirtschaftlichen und kulturellen ModernisierungsschubModernisierungsschub. Für die betroffenen Gemeinschaften wiederum, die Hugenotten auf der einen Seite, die Aufnahmegesellschaften auf der anderen Seite, verlangte das – nicht selten auch konfliktbeladene – Zusammenleben vielfältige AushandlungsprozesseAushandlung, Transferleistungen und kulturelle ArrangementArrangements.2 Das Beispiel der Hugenotten führt uns zu Fragen danach, welche Räume die jeweiligen Kulturen oder/und Gemeinschaften beanspruchen, welche Entfaltungsmöglichkeiten sich IndividuenIndividuum, Individuen und Gruppen gegenseitig zugestehen, welche Formen und Vorstellungen des Zusammenlebens sie im Kontakt entwickeln, in welchen HierarchienHierarchien und mit welchen Herrschaftsmustern sie sich begegnen. All dies schließt ein zu klären, was unter Kultur verstanden wird und in welche Prozesse dieses Verständnis von Kultur eingebettet ist.

Die Geschichte der VertreibungVertreibung und Neuansiedlung der HugenottenHugenotten lenkt die Aufmerksamkeit auf Konzepte wie MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel-, MobilitätMobilität und das Leben in der DiasporaDiaspora. Doch geht es beim KontaktKontakt von Kulturen nicht nur um Mobilität und Migration. Es stellen sich dabei oft auch Fragen nach der Unterwerfung von anderen Kulturen, wie etwa im Zuge des KolonialismusKolonialismus, verbunden mit Ideologien und Praktiken der MissionierungMissionierung, ChristianisierungChristianisierung und, um einen Topos der französischen und der britischen Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts, mit dem der Kolonialismus legitimiert wurde, zu erwähnen, der „Zivilisierung der kolonialen Subjekte“. Diese Praktiken sind keineswegs mit der DekolonialisierungDekolonialisierung in den 1960er Jahren vom Tisch. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist hoch aktuell, zumal sie sich selbst noch hinter dem Rücken einer vermeintlich aufgeklärten Multikulturalismuspolitik ereignen. Die Bestürzung in der Öffentlichkeit war groß, als Ende 2015 die Wahrheits- und Verständigungskommission3 in KanadaKanada/Canada in ihrem Bericht offenlegte, wie noch bis in die 1990er Jahre den Familien vieler autochthoner Völker die Kinder weggenommen wurden, um ihnen alles „Indianische“ auszutreiben.

Sich in diesem Kapitel mit dem Begriff von KulturKultur auseinanderzusetzen, soll nicht bedeuten, ihn in Gänze, in historischer Tiefe und philosophischer Breite ausloten zu wollen. Nicht intendiert ist hierbei eine theoriegeschichtliche Rekonstruktion der Kulturbegriffe, wie sie von FachvertreterInnen der EthnologieEthnologie und AnthropologieAnthropologie, später auch der SoziologieSoziologie und PädagogikPädagogikinterkulturelle –, der Kulturwissenschaften und KulturphilosophieKulturphilosophie vorgenommen wurden, um sich Klarheit über Kultur im Verhältnis zum Gegenstand ihrer Disziplin zu verschaffen.4 Vielmehr heißt es, entlang von sozialer und kultureller Praxis aus der überaus breiten und vielgestaltigen Diskussion darüber, was unter Kultur zu verstehen ist, einige jener Ansätze herauszugreifen, welche geeignet sind, einen Bogen von Kultur zu Transkulturalität zu schlagen. Und dies nicht primär auf einer theoretischen, theoriegeschichtlichen oder disziplinären Ebene, sondern in erster Linie auf der Ebene realer Prozesse und sozialer Perspektivierungen, eingeordnet in einen Zeitraum von reichlich einem halben Jahrhundert, der von den 1960er Jahren bis 2020 reicht.

Die Argumentation in diesem Kapitel verbindet über mehrere Etappen hinweg die Problematik der Kontakte und kulturellen Differenzen zwischen interagierenden Menschen als Ausgangspunkt (vgl. Abschnitt 2.2) mit der Bestimmung des Gegenstandes und des Platzes von ‚Transkulturalität‘ in der Erforschung von kulturellen VerflechtungsVerflechtungprozessen als Endpunkt dieses Kapitels (vgl. 2.8).

Um zu verstehen, in welcher Weise sich in diesem Zeitraum das FeldFeld, Feldtheorie des Kulturellen – das Verständnis von KulturKultur darin eingeschlossen – verändert hat, wird in Abschnitt 2.3 als Fixpunkt die Weltkonferenz der UNESCOWeltkonferenz der UNESCO von 1982 gewählt, zu der sich 129 Staaten der Erde auf einen Begriff von Kultur verständigten, der ihre KulturpolitikKulturpolitik fortan leiten sollte. Hierbei wird erkennbar, dass die UNESCOUNESCO das Feld der Kultur als Raum von KonfliktKonflikten und den NationalstaatNationalstaat als Ort des KonfliktmanagementKonfliktmanagements betrachtet. Doch drängt sich hierbei die Frage auf, ob sich diese Position tatsächlich auch im damaligen Begriff von Kultur niederschlägt. Und wie sollte ein Verständnis von Kultur ausgeformt sein, das sich vier Jahrzehnte nach diesem Ereignis in einer nun deutlich veränderten Welt auf der Höhe der Zeit befindet?

Wie Abschnitt 2.4 zeigt, stellt eine der relativ erfolgreichen Strategien der KulturpolitikKulturpolitik die Anerkennung kultureller Pluralität und kultureller DifferenzDifferenz dar, die die Grundlage für die Konzepte der BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität, MultikulturalitätMultikulturalität und InterkulturalitätInterkulturalität bildet und deren ReichweiteReichweite sich anhand ihrer Praxis in KanadaKanada/Canada anschaulich ausloten lässt. Und von wo aus sich weitere argumentative Linien speziell zu Fragen der Interkulturalität ergeben, die auf Feldern wie der PädagogikPädagogikinterkulturelle – und der KommunikationKommunikation sowohl für fachliche Neuorientierungen als auch für kontroverse Diskussionen gesorgt haben.

Abschnitt 2.5 knüpft an die vorherige Diskussion über Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität in KanadaKanada/Canada in der Weise an, dass die Ende 2015 veröffentlichen Berichte zum „kulturellen GenozidGenozidkultureller –“ an den autochthonen Völkern eine bis dahin öffentlich nur selten diskutierte und in ihrer Dramatik nicht verstandene Seite des Umgangs mit kulturellen MinderheitenMinderheit, -en erkennen lassen. Auch wenn viele der von der „Wahrheits- und Verständigungskommission“ dokumentierten Praktiken und Fälle des Umgangs mit Kindern aus autochthonen Familien zeitlich vor dem emphatischen Bekenntnis der kanadischen MehrheitsgesellschaftMehrheit, -sgesellschaft zum MultikulturalismusMultikulturalismus liegen, wird deutlich, dass diese PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des Multikulturalismus lange Zeit blind war für den kulturellen Genozidkultureller Genozid an den autochthonen Völkern. Auch andere Staaten, die ebenfalls eine Politik des Bi- oder Multikulturalismus vertreten, sehen sich mit ähnlich gelagerten Vorwürfen konfrontiert.

Ausgehend von diesen Erfahrungen bereiten die beiden folgenden Abschnitte die Diskussion zum Konzept der Transkulturalität vor. Zunächst befasst sich Abschnitt 2.6 mit dem veränderten Stellenwert des Kulturellen im SpätkapitalismusSpätkapitalismus auf einer Makroebene gesellschaftlichen Wandels. Mit der Einführung des Begriffs der ‚KulturalisierungKulturalisierung‘ soll der wachsenden Komplexität kultureller Verhältnisse Rechnung getragen werden. Je komplexer sich die Verhältnisse gestalten, desto größer ist auch das Konfliktpotential zwischen und innerhalb von Gruppen, als dessen Kern sich die soziale und ökonomische UngleichheitUngleichheitsozioökonomische erweist. Nicht selten tritt sie als kulturelle DifferenzDifferenz in Erscheinung oder wird von beteiligten Akteuren als solche inszeniert. Abschnitt 2.7 widmet sich diesen beiden Schlüsselkonzepten sowie dem Konzept der EmergenzEmergenz. In dem Maße, wie im Spätkapitalismus auch die scheinbar „nicht kulturellen“ Erscheinungsformen einem Prozess der Kulturalisierung unterworfen sind und dadurch die Komplexität der kulturellen Verhältnisse wächst, ist die differenztheoretischdifferenztheoretische Betrachtung allein nicht mehr ausreichend, um Seiteneffekte, Unbeabsichtigtes, Unvorhersehbares, neu Entstehendes beschreiben und erklären zu können. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der ‚Emergenz‘ eingeführt und die differenztheoretische um eine emergenztheoretischemergenztheoretische Betrachtung erweitert. Der hier verwendete Begriff der Emergenz, zusammen mit ‚Ungleichheit‘ und ‚Differenz‘, markiert dann auch einen wesentlichen Aspekt dessen, was Untersuchungen zu ‚Transkulturalität‘ auszeichnet.

Die Argumentation in Kapitel 2 läuft schließlich mit Abschnitt 2.8 auf die Leitfrage zu, was unter Transkulturalität zu verstehen ist. Dies schließt ein, den Begriff der Transkulturalität ins Verhältnis zu Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität zu setzen und ihn weitergehend bezüglich seiner Annahmen und Voraussetzungen, seines Gegenstands, seines Verhältnisses zu UngleichheitUngleichheit, Differenz und EmergenzEmergenz und seiner Struktur abzuklären.

Transkulturalität  - Prozesse und Perspektiven

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