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1.3 Gegenstand und Ziele des Buchs

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Forschungen zur Transkulturalität untersuchen den WandelWandel des Kulturellen im Zeitalter von GlobalisierungGlobalisierung, verstanden als eine lange Periode der Geschichte der Menschheit, die mit der Herausbildung von Groß- und Kolonialreichen einsetzt, die eine Zäsur mit der Herausbildung nationalstaatlichen Denkens und Handelns erfährt und ihren vorläufigen Höhepunkt in der globalen VernetzungVernetzung und in der ErosionErosion eindeutiger GrenzenGrenze(n) erreicht, die zuvor Staaten, Märkte, Zivilisationen, Kulturen, Lebenswelten und Menschen trennten.1 Die Chiffre für diesen Wandel des Kulturellen besteht in der wachsenden und sich weiter beschleunigenden Vernetzung und VerflechtungVerflechtung der Akteure und zugleich in den dabei entstehenden existentiellen globalen Konfrontationen und Verstrickungen. Seine Resultante stellt das Aushandeln von DifferenzDifferenz, Prozesse der Öffnung und SchließungSchließungProzess der sozialen – sowie die EmergenzEmergenz neuer kultureller Formen und Praktiken dar. Die Corona-Pandemie einerseits und die sogenannte „Flüchtlingskrise“ andererseits führen diese Dynamiken nachdrücklich vor Augen. Mit deren Analyse befassen sich vorzugsweise PolitikwissenschaftPolitikwissenschaft, SoziologieSoziologie, Gesundheitswissenschaften, MigrationsforschungMigrationsforschung, KonfliktforschungKonfliktforschung und andere. Der Gegenstand des vorliegenden Buchs ist jedoch ein wenig anders kalibriert, vor allem weniger breit. Der Band widmet sich dem Forschungsfeld der Transkulturalität aus einer kulturwissenschaftlichen und philologischen Perspektive. Er geht davon aus, dass

1 Gemeinschaften wie IndividuenIndividuum, Individuen mit ihren Sprachen, Literaturen, Medien und anderen kulturellen Manifestationen sich nicht in ethnisch abgeschlossenen, sprachlich homogenen und territorial abgegrenzten Räumen konstituieren, sondern durch (grenzüberschreitende) VerflechtungenVerflechtungen, die sich im Wesentlichen aus Kontakt, MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitätMobilität ergeben;

2 Kulturen sich in ihrer Verschiedenheit begegnen und der KontaktKontakt zwischen ihnen auf AushandlungenAushandlungen angewiesen ist. Damit kommen vielfältige Prozesse der MischungMischung, der Vermittlung und ÜbersetzungÜbersetzungmaschinelle -, der ErosionErosion von GrenzenGrenze(n), der ErinnerungErinnerung, – in Bewegung, der Umwertung und der Dynamisierung in Gang, die wiederum in MachtMacht, -verhältnisse-, Hegemonie- und Verwertungsprozesse eingebunden sind;

3 ein Perspektivenwechsel erfolgt: von den Kulturen von Gemeinschaften zu den IndividuenIndividuum, Individuen und ihren kulturellen Praktiken. Dieser Perspektivenwechsel bedeutet zugleich, anstelle der den Gemeinschaften unterstellten HomogenitätHomogenität den Akzent auf DistinktionDistinktion, DifferenzDifferenz und HeterogenitätHeterogenität innerhalb und zwischen Individuen und Gruppen zu verlagern.

4 in diesen Verflechtungs- und Austauschbeziehungen immer auch unerwartete, unbeabsichtigte und neue kulturelle Formen und Praktiken entstehen. In theoretischer Hinsicht bedeutet das, dass Transkulturalität nicht nur differenztheoretischdifferenztheoretisch (wie bei Bi-, Multi- und InterkulturalitätInterkulturalität), sondern auch emergenztheoretischemergenztheoretisch zu modellieren ist.

5 unter Rückgriff auf den Begriff der ‚Transkulturation‘, wie ihn der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz (1940) – er spricht von ‚transculturación‘ – für den Prozess des Wandels von Kulturen und kulturellen Verhältnissen eingeführt hat, ‚Transkulturalität‘ als Strukturaspekt dieses Prozesses zu verstehen ist;

6 Transkulturalität als Konzept somit auf die rasant anwachsende Vielfalt in den Sozialisationsformen im Zeitalter von GlobalisierungGlobalisierung, InternetInternet und Computertechnologien einerseits und den „Kulturalisierungsregimes“ (Reckwitz 2016) im SpätkapitalismusSpätkapitalismus andererseits reagiert und sich in individuellen Mobilitätsprofilen und individuellen Ausdrucks- und Aneignungsformen kultureller Praktiken niederschlägt – zugespitzt formuliert: jedes IndividuumIndividuum, Individuen hat (s)eine KulturKultur.

Im Zuge der Globalisierungsdiskussion der späten 1990er und der 2000er Jahre gewinnt der Begriff der Transkulturalität rasch an Attraktivität in EthnologieEthnologie und AnthropologieAnthropologie, den ErziehungswissenschaftenErziehungswissenschaften, der GenderforschungGender Studies, Genderforschung, PhilosophiePhilosophie, Geschichte, MusikwissenschaftMusikwissenschaft, PolitikwissenschaftPolitikwissenschaft, SoziologieSoziologie und anderen Disziplinen, um die kulturellen Vernetzungs- und Austauschbeziehungen nicht nur im SpätkapitalismusSpätkapitalismus, sondern auch in den verschiedenen Phasen der GlobalisierungGlobalisierung zu erforschen, die mit der Entstehung von Großreichen2 und den kolonialen Eroberungen einsetzt. Dafür zentral sind durch die Geschichte hindurch Prozesse des Kulturkontakts, der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitätMobilität, die nun, im Spätkapitalismus, vom technologischen WandelWandel des Internetzeitalters und seiner Kommunikationsformen nicht nur flankiert, sondern potenziert werden.

Das Ziel des Buchs besteht darin zu zeigen, was die sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen dafür sind, dass transkulturelle Betrachtungsweisen heute einen prominenten Platz in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung einnehmen. Dies schließt ein, die Herausbildung und den WandelWandel des Konzepts der Transkulturalität seit den 1940er Jahren zu rekonstruieren und es im Verhältnis zu anderen Konzepten des Kulturkontakts und den Strategien des Managements kultureller KonflikteKonflikt wie BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität, Multikulturali-tät/-ismus und InterkulturalitätInterkulturalität zu betrachten. Einen Referenzpunkt – und dies gleich in zweifacher Hinsicht – stellt hierbei der Kulturbegriff dar, wie er anlässlich der zweiten Weltkonferenz der UNESCOWeltkonferenz der UNESCO 1982 zwischen 129 Staaten ausgehandelt wurde: einerseits im Hinblick darauf, wie zum damaligen Zeitpunkt KulturKultur und Kulturen definiert wurden, und andererseits, wie sich seither – nach dem Ende des Kalten Krieges (1989/90), mit dem NeoliberalismusNeoliberalismus, der weiteren Beschleunigung der GlobalisierungGlobalisierung, der wachsenden MigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel-, dem InternetInternet – die kulturellen Verhältnisse verändert haben und neue Sichtweisen auf Kultur(en) erfordern. Wenn ein Kultursoziologe wie Reckwitz (2016) die Aufmerksamkeit auf die „Kulturalisierungsregimes“ im SpätkapitalismusSpätkapitalismus lenkt, geht es für Sprach-, Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen darum, die dabei in Gang kommenden transkulturellen Prozesse und Praktiken eingehend zu untersuchen.

In diesem Sinne ist es ein weiteres Anliegen des Buchs, einige der für Transkulturalität zentralen Forschungsfelder und Konzepte wie HybriditätHybridität, DiasporaDiaspora, TranslatioTranslatio, migrantisches SchreibenSchreiben, Schreibung, ErinnerungErinnerung, – in Bewegung, Sprachbiografien, GenerationGeneration, KosmopolitismusKosmopolitismus u.a. zu diskutieren, bevor der Frage nachgegangen wird, welche Bedeutung Sprache, Sprachen und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit im Kontext von Transkulturalität haben.

In struktureller Hinsicht besteht der Band aus sechs Kapiteln. Im Anschluss an Kapitel 1, in welchem ein Bogen von einer ethnografisch angelegten Ortsbegehung des Bahnhofsviertels in Frankfurt am MainFrankfurt am Main zu Gegenstand und Zielen des Buchs geschlagen wird, steht in Kapitel 2 die Problematik von KulturKultur und Kulturen im KonfliktmanagementKonfliktmanagement im Mittelpunkt. Es knüpft, wie das Buch insgesamt, an die Forschungserfahrungen des Autors in KanadaKanada/Canada, FrankreichFrankreich, DeutschlandDeutschland, in Teilen AfrikasAfrika und in der Republik MoldauMoldau, Republik Moldau, Moldova bezüglich des MultikulturalismusMultikulturalismus, der InterkulturalitätInterkulturalität und der Transkulturalität an, um anschließend die mit Transkulturalität verbundenen Sichtweisen und Handlungsformen – auch im Unterschied zu Multi- und zu Interkulturalität – herauszuarbeiten. Aufgabe dieses Kapitels ist dabei auch, zum theoretischen Kern der Problematik von Kultur und Transkulturalität vorzustoßen. Er besteht darin, anhand der Konzepte von UngleichheitUngleichheit, Differenz und EmergenzEmergenz sowohl die differenztheoretischedifferenztheoretisch als auch die emergenztheoretischeemergenztheoretisch Dimension von Transkulturalität herauszuarbeiten. Kapitel 3 rekonstruiert die Begriffsgeschichte von Transkulturalität seit den 1940er Jahren unter der Fragestellung, ob es sich dabei um MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- oder um mehrfache Neuerfindung eines Konzepts handelt. In Kapitel 4 werden ausgewählte Schlüsselbegriffe und Forschungsfelder diskutiert, die zum Verständnis transkultureller Prozesse und Perspektiven erforderlich sind: HybriditätHybridität, DiasporaDiaspora, KulturtransferKulturtransfer, Erinnerungskulturen, ÜbersetzungÜbersetzungmaschinelle - etc. Schließlich geht es in Kapitel 5 um die Beziehung von Transkulturalität und Sprache, indem danach gefragt wird, wie die sprachwissenschaftlichen Zugriffe auf Phänomene der Transkulturalität im Sinne von Kontakt und MischungMischung, von Sprachenlernen und Mehrsprachigkeit in Migrationsgesellschaften aussehen. Abgeschlossen wird der Band mit einer erneuten Perspektivenumkehr und mit Überlegungen dazu, wie sich die Forschung auf dem Feld der Transkulturalität operationalisieren lässt. Standen bisher die Prozesse der Verflechtung im Zentrum, so lenkt Kapitel 6 die Aufmerksamkeit auf methodische Prozeduren der Entflechtung, um auf diese Weise die Elemente der Struktur von Transkulturalität freizulegen und analytisch zugänglich zu machen.

Transkulturalität  - Prozesse und Perspektiven

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