Читать книгу Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven - Jürgen Erfurt - Страница 14
2.6 KulturalitätKulturalität und die Kulturalisierungsregimes im SpätkapitalismusSpätkapitalismus
ОглавлениеWie die Ausführungen zu MultikulturalismusMultikulturalismus und InterkulturalitätInterkulturalität in KanadaKanada/Canada und QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec zeigen, ist der Bezugsrahmen für das KonfliktmanagementKonfliktmanagement der StaatStaat bzw. die jeweils imaginierte NationNation. Als Akteure treten staatliche Agenturen, die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen, kulturelle, sprachliche, ethnische MinderheitenMinderheiten sowie ihre und andere Interessenvertretungen in Erscheinung. Gelebt wird das Ringen um kulturelle Arrangements im AlltagAlltag, am Arbeitsplatz, in der Schule, im Krankenhaus, im Sportverein, in der Nachbarschaft und natürlich in den Familien. Dass der vom Staat gesetzte rechtliche Rahmen beim Lösen kultureller KonfliktKonflikte nur bedingt tauglich ist, haben die ethnisch-kulturellen Auseinandersetzungen in Québec in den Jahren 2001 bis 2007 – vor dem Hintergrund des Multikulturalismus-Interkulturalitätsstreits – mit aller Deutlichkeit gezeigt. Doch sie mündeten weder in Sprachlosigkeit noch in GewaltGewalt, sondern ließen das Instrument des „accommodement raisonnableaccommodement raisonnable“, der „vernünftigen Übereinkunft“1 entstehen (vgl. Anctil 2010, Bories-Sawala 2009, Erfurt 2010a, 2010b, Oakes/Warren 2009, XIII-XXVI, Woehrling 1998, 2007). Dabei handelt es sich um ein juristisches und zivilgesellschaftliches ArrangementArrangement zwischen Personen oder beteiligten Gruppen, das dazu beiträgt, kulturelles Selbstbestimmungsrecht, plurale Lebensformen, MehrheitMehrheit, -sgesellschaft-MinderheitMinderheiten-Verhältnisse und rechtsstaatliche Prinzipien in einer von MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitätMobilität geprägten Gesellschaft auszutarieren, nicht im Großen und Grundsätzlichen, sondern im Hier und Jetzt, im Konkreten und Aktuellen. Zumindest wird im Konfliktfall der Versuch dazu unternommen: Ausgang ungewiss, Erfolgsquote relativ hoch, Nachhaltigkeit?
Folgten diese Arrangements in ihrer Logik noch weitgehend dem „nationalen Paradigma“ mit seinen Möglichkeiten und seinen GrenzenGrenze(n) des Politischen, Ökonomischen, Rechtlichen, Sozialen, Religiösen usw., so ist seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel im Gang. Anders als zu Zeiten des IndustriekapitalismusIndustriekapitalismus zeichnet sich im SpätkapitalismusSpätkapitalismus im Zuge von neoliberaler GlobalisierungGlobalisierung, globaler VernetzungVernetzung und der ErosionErosion eindeutiger Grenzen, die zuvor Staaten, Märkte, Zivilisationen, Kulturen, Lebenswelten und Menschen trennten, die Ablösung des „nationalen Paradigmas“ durch ein „kulturelles Paradigma“ ab. Auf der diskursiven Ebene zeigt sich dieser Ablösungsprozess darin, dass einerseits sozial- und politökonomische Begriffe wie ‚KlasseKlasse‘, ‚Schicht‘, ‚Ausbeutung‘, ‚Unterdrückung‘, ‚Dritter Weg‘, ‚(internationale) Solidarität‘, die noch bis in die 1980er Jahre weit verbreitet waren, so gut wie verschwunden sind2 und dass andererseits ‚KulturKultur‘ eine KategorieKategorie, Kategorisierung in Bereichen und Disziplinen wie PolitikwissenschaftPolitikwissenschaft, Betriebs- und Volkswirtschaft, PsychologiePsychologie u.a. geworden ist, die bislang nicht in dem Verdacht standen, „kulturalistisch“ zu argumentieren, heute aber selbstverständlich von ‚Anlegerkultur‘, ‚Organisationskultur‘, ‚Risikokultur‘, ‚Unternehmenskultur‘, ‚Leitkultur‘ etc. sprechen.
Um sich der wachsenden Komplexität kultureller Verhältnisse anzunähern, lautet der Gegenvorschlag, nicht mehr von KulturKultur, sondern von ‚KulturalitätKulturalität’ zu sprechen, denn es geht vor allem darum, auch die scheinbar „nicht-kulturellen“ Erscheinungen – oben wurde auf betriebswirtschaftliche, volkswirtschaftliche, politische, ökonomische und andere Zusammenhänge hingewiesen –, die im SpätkapitalismusSpätkapitalismus in kulturelle verwandelt werden, in den Griff zu bekommen (vgl. Langenohl 2017, 54).
Dies bedeutet, dass tendenziell immer mehr sozialen, ökonomischen oder politischen Phänomenen die Eigenschaft zugesprochen wird, ‚kulturell zu sein‘. Dabei lässt sich mit KulturKultur Entgegengesetztes bewerkstelligen, wenn, wie Tezcan (2011, 357) argumentiert, „genausogut eine Identitätspolitik von Minderheiten“ Begründung findet, wie sich umgekehrt mit Kultur „quasi-rassistische Abgrenzungspolitiken im Namen der kulturellen Andersheit“ etablieren lassen. Und weiterhin, wie oben in Abschnitt 2.3 bereits dargestellt wurde, dass Kultur zum Ordnungsraster für transnationaletransnationale Migration Migrationsprozesse geworden ist. Anstelle der früheren Loyalität zur NationNation rückt am Ende des 20. Jahrhunderts die kulturelle IntegrationIntegration in den Mittelpunkt und werden die GrenzenGrenze(n) entlang des Kriteriums der kulturellen DifferenzDifferenz bis zu einer räumlichen Maßstabsebene von Stadtteil, Stadt, Dorf oder Region enger gezogen.
Mit dem Begriff der ‚KulturalisierungKulturalisierung‘ wird seit einigen Jahren auf die „Hypostasierungen aufmerksam gemacht, die der DiskursDiskurs über KulturKultur produziert“ (ebd.). Und dieser ist so vielgestaltig, dass unter dem Begriff der ‚Kulturalisierung‘ auch ganz verschiedene Phänomene und Prozesse der Inszenierung von bzw. als Kultur subsumiert werden. So unterscheiden Kleeberg/Langenohl (2011, 285) vier Dimensionen von ‚Kulturalisierung‘: erstens, methodologisch, die „Reperspektivierung wissenschaftlicher Fragestellungen und Geburt neuer Gegenstände“; zweitens, epistemologisch, „die Idee der kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit“; drittens, „die kritische DekonstruktionDekonstruktion herrschender Ontologien oder wissenschaftlicher Universalien“ und schließlich viertens, „die affirmative EssentialisierungEssentialisierung von Kultur“ (ebd.)
Naheliegend ist daher die wachsende Skepsis in wissenschaftlichen Diskursen gegenüber einem Begriff von KulturKultur, wie er beispielsweise noch das Kulturverständnis der UNESCOUNESCO 1982 prägte und der auf Annahmen wie der HomogenitätHomogenität, der Statik, der Abgrenzung und der Gemeinschaft basierte. Naheliegend ist daher ebenfalls die wachsende Skepsis gegenüber einer Deutung von Kultur, die das Soziale überlagert oder es im Namen eines „kulturalistischen Denkstils“ gar verdrängt.
Dabei liegt es auf der Hand, dass die Betrachtungen und Erklärungen von Kulturkonflikten andere sein müssen, als sie Samuel Huntington in seinem breit rezipierten Buch „Clash of Civilizations“ (1996, dt. „Der Kampf der Kulturen“, 1998) angeboten hat. Grundsätzliche wie detailbezogene Einwände gegen Huntingtons Thesen formulierten der Ökonom Amartya Sen (2006, dt. 2007) in „Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ oder ein Schriftsteller wie Amin Maalouf (2009, dt. 2010) in „Die Auflösung der Weltordnung“.
Nicht unumstritten ist der Erklärungsansatz für die Transformationsprozesse im SpätkapitalismusSpätkapitalismus, die der Kultursoziologe Andreas Reckwitz anbietet. Er geht von dem Befund aus, dass einer der zentralen Widersprüche der globalen Gesellschaft der Gegenwart in der Ambivalenz von Öffnungs- und Schließungsprozessen besteht. Reckwitz beobachtet im globalen Maßstab gegenläufige Entwicklungen. Es finde eine
historisch außergewöhnliche kulturelle Öffnung der Lebensformen statt, eine Pluralisierung von Lebensstilen, verbunden mit einer Öffnung und Pluralisierung von Geschlechternormen, Konsummustern und individuellen Identitäten, wie sie vor allem von der globalen Mittelklasse getragen wird und sich in den globalen Metropolen konzentriert. Gleichzeitig beobachten wir an verschiedenen Orten weltweit Tendenzen einer kulturellen SchließungSchließungProzess der sozialen – von Lebensformen, in denen eine neue rigide Moralisierung wirksam ist. Das Spektrum solcher Schließungen reicht von den partikularen Identitätsgemeinschaften über einen Neo-NationalismusNationalismus bis hin zu den religiösen Tendenzen des Fundamentalismus. (Reckwitz 2016, 1)
Aus diesem Befund leitet Reckwitz für die Spätmoderne „eine KulturalisierungKulturalisierung des Sozialen auf breiter Front“ ab, die allerdings zwei sehr unterschiedliche Formen annimmt: „Auf der einen Seite“ – er spricht hier von Kulturalisierung I bzw. von der „HyperkulturHyperkultur(alität)“, in der potenziell alles in höchst variabler Weise kulturell wertvoll werden kann – beobachten wir
eine KulturalisierungKulturalisierung der Lebensformen in Gestalt von ‚Lebensstilen‘, die sich nach dem Muster eines Wettbewerbs kultureller Güter auf einem kulturellen Markt zueinander verhalten, also um die Gunst der nach individueller Selbstverwirklichung strebenden Subjekte wetteifern. Auf der anderen Seite lässt sich ein alternatives Regime beobachten, die Kulturalisierung II bzw. der Kulturessenzialismus. Diese Kulturalisierung richtet sich auf Kollektive und baut sie als moralische Identitätsgemeinschaften auf. (ebd., 2)
Letztere würden in der KulturKultur der „Identitären“ in neuen Nationalismen oder in fundamentalistischen religiösen Bewegungen in Erscheinung treten. Der Kulturessenzialismus „arbeitet mit einem strikten Innen-Außen-Dualismus und gehorcht dem Modell homogener Gemeinschaften, die als imagined communities kreiert werden. Die Spätmoderne ist durch einen KonfliktKonflikt dieser beiden Kulturalisierungsregimes gekennzeichnet, die in eine widersprüchliche Konstellation von Öffnung und SchließungSchließungProzess der sozialen – münden“ (ebd., 2f.). Reckwitz‘ These lautet, „dass sich viele der aktuellen globalen Konflikte als solche des Widerstreits zwischen diesen beiden Kulturalisierungsregimes entziffern lassen“ (ebd., 10).
Inwieweit dieser Deutungsversuch einer genaueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse standhält, wird sich noch zeigen müssen. Denn ob bzw. in welcher Weise die Ausgangsannahme der Ambivalenz von Öffnungs- und Schließungsprozessen – vermutlich gibt es auch noch andere, z. B. transversaler Art, die dann andere Dynamiken hervortreten lassen – oder ob klasseKlassenstrukturelle Kategorisierungen wie die einer „neuen globalen Mittelklasse“ oder „einer neuen, post-industriellen Unterklasse“ in Bezug auf die (Re-)Produktion kultureller Verhältnisse tatsächlich tragen, bedarf noch der Prüfung. Aus der Perspektive der soziologischen Ungleichheitsforschung fällt jedenfalls die Kritik an den Vorstellungen von Reckwitz harsch aus (vgl. Butterwegge 2020, 135ff.).
Ein anderer Erklärungsansatz als der, den Reckwitz mit dem Postulat „einer KulturalisierungKulturalisierung des Sozialen auf breiter Front“ im Auge hat, besteht in dem der Ökonomisierung des Kulturellen im SpätkapitalismusSpätkapitalismus, verstanden als KommodifizierungKommodifikation, Kommodifizierung, Kommodifzierbarkeit von kulturellen Ressourcen und kulturellen Differenzen. Kommodifikation bedeutet das „Zur-Ware-machen“. Der Begriff schließt an die Marxsche Werttheorie von Gebrauchswert, Tauschwert und Mehrwert an. Kommodifikation besteht darin, Phänomene des Kulturellen ökonomisch zu bewerten, ihnen Tauschwert zuzuschreiben und in eine Ware-Geld-Beziehung zu überführen. Dass KulturKultur „ihren Preis“ hat, ist im Kapitalismus nichts Ungewöhnliches, wie auch die Höhe des Preises für „kulturelle Waren“ neben anderen Faktoren vom marktökonomischen Prinzip von Angebot und Nachfrage bestimmt wird.
In der politischen Ökonomie ist von ‚De-KommodifizierungKommodifikation, Kommodifizierung, Kommodifzierbarkeit‘ die Rede, wenn beispielsweise wohlfahrtsstaatliche Verteilungsfragen vom Marktmechanismus entkoppelt werden, während im umgekehrter Sinne und auf einen konkreten Fall bezogen ‚(Re-)Kommodifizierung‘ des Gesundheitswesens bedeutet, dass es einem Prozess der Ökonomisierung und Kommerzialisierung unterworfen wird und betriebswirtschaftliche Verwertungsimperative in den Vordergrund treten.3 Dass über die zu kulturellen Waren gewordenen kulturellen Ressourcen hinaus auch anderes, wie die gerade erwähnten kulturellen DifferenzDifferenzen, kommodifiziert werden können, ist erst relativ spät in den Fokus der kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung getreten.
Um dies an einem Befund aus der SprachwissenschaftLinguistik zu illustrieren: In soziolinguistischen Studien (u.a. Heller 2002, Duchêne/Heller 2012) der letzten beiden Jahrzehnte spielt das Konzept der KommodifikationKommodifikation, Kommodifizierung, Kommodifzierbarkeit eine Rolle, um den Finger auf neoliberale Strategien der Verwertung von Sprache und sprachlicher DifferenzDifferenz unter Bedingungen der GlobalisierungGlobalisierung zu legen. Zunächst bestand ein Aspekt dieser Untersuchungen darin, wie Unternehmen bzw. ihre Marketingabteilungen mit sprachlichen Formen – auch mit Formen aus ansonsten marginalisierten oder stigmatisierten sprachlichen Varietäten – Authentizität für Produkte schaffen und wie diese Authentizität als Mehrwert zum Zwecke ihrer besseren Vermarktung eingesetzt wird (vgl. auch Budach/Roy/Heller 2003).4 Ein häufig anzutreffendes Beispiel ist die Verwendung von sprachlichen Varietäten wie DialektDialekten, die ansonsten im NationalstaatNationalstaat nicht oder seltener für die großräumige und/oder schriftliche KommunikationKommunikation bestimmt sind, um lokale und soziale Authentizität zu erzeugen und Dienstleistungen und Produkte in Tourismus, Landwirtschaft, Lebensmittel- und Getränkeindustrie usw. besser vermarkten zu können. Weirich (2018) weitet die Untersuchungen zur Kommodifizierbarkeit von sprachlichen Ressourcen aus, indem sie sie rückbindet an die jeweils gegebenen sprachlichen und ökonomischen Verhältnisse auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. In analytischer Hinsicht geht es ihr darum, die ReichweiteReichweite sprachlicher Ressourcen von IndividuenIndividuum, Individuen hinsichtlich ihrer Kommodifizierbarkeit auf dem Arbeitsmarkt in den Griff zu bekommen (ebd., 57ff., hier S. 74).