Читать книгу Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven - Jürgen Erfurt - Страница 17
2.7.3 EmergenzEmergenz
ОглавлениеDie als klassisch zu apostrophierenden Felder der Emergenzforschung sind die Naturwissenschaften.1 Wie Blanchard (2011) ausführt, entstammt der Emergenzbegriff der Biologie und wurde schon im 19. Jahrhundert von Physikern und Chemikern übernommen und weiterentwickelt. EmergenzEmergenz bezeichnet in den Naturwissenschaften jene Eigenschaften eines Systems, die seine Einzelteile oder seine Agenten nicht besitzen und die erst durch das Zusammenspiel der Teile entstehen. Anders gesagt: die VernetzungVernetzung der Einzelteile prägt wesentlich das Gesamtsystem im Sinne des Mottos „Das Ganze ist mehr, oder besser: anderes als die Summe seiner Teile“. Als spektakuläre Beispiele für Emergenz wird oft die Schwarmintelligenz erwähnt, zugleich ein Beispiel für die Selbstorganisation von Agenten. Ohne jede zentrale Steuerung führen lokale Wechselwirkungen zwischen den Agenten zu einem komplexen globalen Verhalten. An Vogel- und Fischschwärmen und Ameisenstaaten lässt sich dies eindrücklich illustrieren. Die V-Formation von Vogelschwärmen zum Beispiel ist eine Eigenschaft, die die einzelnen Vögel selbst nicht aufweisen.
Wie Sawyer (2011, 188) konstatiert, resultiert die V-Formation nicht daraus, dass ein Vogel zum Anführer gewählt wird und die anderen sich hinter ihm einreihen. Vielmehr resultiert das Verhalten der Vögel aus dem Verhalten der ihm benachbarten Vögel. „Die V-Form ist weder geplant noch zentral gesteuert, sie resultiert aus einfachen paarweisen Interaktionsregeln“ (ebd.). EmergenzEmergenz bezieht sich in den Naturwissenschaften somit auf Mikro-Makro-Verhältnisse oder auch Teil-Ganzes-BeziehungenTeil-Ganzes-Beziehungen und befasst sich mit der Frage nach der ontologischen Beschaffenheit von Makrosystemen und der Möglichkeit ihrer Reduktion auf Mikrophänomene.
Im 20. Jahrhundert hat der Begriff der EmergenzEmergenz Eingang in die PhilosophiePhilosophie und die Sozialwissenschaften (vgl. Schwarz 2016) gefunden, um komplexe institutionelle Systeme zu analysieren. Der französische Soziologe Émile Durkheim gilt hierbei als Vorreiter. Emergenz lenkt in den Sozialwissenschaften die Aufmerksamkeit auf verschiedene Arten von Prozessen, die emergente Effekte erzeugen, verstanden als das unerwartete Auftreten von Neuartigem. Beide Aspekte, sowohl das Auftreten von Neuartigem als auch die Nichtvorhersagbarkeit seien Greve/Schnabel (2011, 10) zufolge aber noch nicht hinreichend, um das zu kennzeichnen, was unter Emergenz verstanden wird. Konstitutiv für den Emergenzbegriff sei, dass er sich auf das Verhältnis zweier Ebenen bezieht. Wie man sich dieses Verhältnis wie auch die beiden genannten Aspekte – Neuartigkeit und Unvorhersagbarkeit – von Emergenz vorstellen kann, führt Sawyer (2011, 191ff.) am Beispiel der Aufführung einer Improvisationstheatergruppe in Chicago aus. Die Aufführung der Theatergruppe zeige,
wie kreative Produkte aus einer gemeinsamen Gruppeninteraktion hervorgehen können. Dieser Prozess weist dabei die zentralen Merkmale von EmergenzEmergenz auf: Er ist unvorhersagbar, insbesondere was den Zeitpunkt und das Tempo angeht – die Schauspieler wissen weder, wer als Nächster sprechen wird, noch, wann sie sprechen werden. Folglich kann jeder die nächste konversationale Wende einleiten. […] Der entstehende (emergierende) dramatische Rahmen ist neu, da seine Eigenschaften von den individuellen Schauspielern weder vorhergesehen noch beabsichtigt sind. Und der auftretende dramatische Rahmen ist nicht auf die Absichten und die mentalen Repräsentationen der individuellen Schauspieler reduzierbar. (Sawyer 2011, 193)
Im Weiteren arbeitet Sawyer ein viertes Merkmal sozialer EmergenzEmergenz heraus, das in der IntersubjektivitätIntersubjektivität besteht. Er erklärt Intersubjektivität wie folgt:
Im Fall sozialer EmergenzEmergenz entsteht die Kreativität nicht im Kopf eines Darstellers, wird dann externalisiert und den anderen Darstellern auferlegt, sondern ist im Gruppenprozess zu finden. Die resultierende Darstellung kann nicht mittels der Absichten der Akteure in den einzelnen Gesprächswendungen erklärt werden, denn in vielen Fällen kann der Akteur die Bedeutung seines eigenen Beitrags nicht kennen, bevor die anderen nicht geantwortet haben. Folglich ist IntersubjektivitätIntersubjektivität fundamental sozial, kollektiv und muss ausgehandelt werden. (ebd., 194)
Die Analyse von sozialer EmergenzEmergenz erfordere nach Sawyers die gleichzeitige Wahrnehmung von drei Analyseebenen: der IndividuenIndividuum, Individuen, der interaktionalen Dynamik und der emergenten sozialen Makroeigenschaften der GruppeGruppe (ebd., 208).
Was Sawyers als Soziologe damit in die emergenztheoretischemergenztheoretische Diskussion einbringt, ist von großem Interesse auch für das Verständnis des Wandels kultureller Verhältnisse und für die Erklärung transkultureller Praktiken. Denn anders als bei anderen Emergenztheoretikern, wie etwa in den eingangs erwähnten Naturwissenschaften, in PhilosophiePhilosophie und SoziologieSoziologie, die EmergenzEmergenz im Paradigma von Struktur und von Systemen betrachten, sind seine Überlegungen und Analysen auf Prozesse der InteraktionInteraktion, auf das individuelle (Aus-)HandelnHandeln und auf die Makroeigenschaften der Gruppen ausgelegt. Denn es geht ihm darum, das entstehende Neue, in seiner flüchtigen wie in seiner stabilen Form, dialektisch zu begreifen. In jeder Situation bringen IndividuenIndividuum, Individuen gemeinsam flüchtige wie stabile Emergentien hervor, und gleichzeitig begrenzen diese, indem sie fortwährend entstehen und sich verändern, als soziale Phänomene den Fluss der Interaktion. Im Beispiel des Improvisationstheaters zeige sich,
dass interaktionelle Rahmen auftreten und sich als soziale Tatbestände erweisen, die sich unabhängig von den individuellen Interpretationen charakterisieren lassen. Sobald ein solcher Rahmen entstanden ist, begrenzt er die Handlungsmöglichkeiten. Obwohl der Rahmen von den beteiligten IndividuenIndividuum, Individuen durch ihre kollektive HandlungHandlung erzeugt wird, ist er analytisch unabhängig von und hat kausale Kraft gegenüber diesen Individuen. Diesen Prozess bezeichne ich als gemeinschaftliche EmergenzEmergenz (collaborative emergence). (ebd., 208)
Was bedeutet dieser Zugriff auf EmergenzEmergenz für die Beschreibung und Erklärung kultureller Praktiken und Prozesse, die der Transkulturalität eingeschlossen? Prinzipiell ist davon auszugehen, dass sich KulturKultur und Kulturen in sozialen Räumen entfalten und dass kulturelle Emergenz immer auch auf die sozialen Verhältnisse verweist und durch diese mitbestimmt wird, ganz im Sinne der von Sawyers dargestellten InteraktionInteraktion der beteiligten IndividuenIndividuum, Individuen und der sozialen Rahmungen ihrer Handlungen und Handlungsoptionen. Aufgabe der TheorieTheorie der unsichtbaren Hand ist dabei, Strukturen zu erklären und Prozesse sichtbar zu machen. Wenn die DifferenztheorieDifferenztheorie auf die Beschreibung und Erklärung von Strukturen und Prozessen von MachtMacht, -verhältnisse und Hegemonie und die durch sie hervorgebrachten Ordnungen referiert, so bezieht sich die EmergenztheorieEmergenztheorie auf die Beschreibung und Erklärung von Strukturen und Prozessen spontaner Ordnungen, d.h. Ordnungen, die entstehen, ohne vorbedacht oder geplant zu sein, und die aus Handlungen und deren Resultaten bestehen, die, z. B. als Seiteneffekte anderer Handlungen, unbeabsichtigt und unvorhersagbar und somit als nicht teleologisch zu betrachten sind.2
EmergenzEmergenz, nun ins Kognitive und zugleich Poetologische gewendet, schließt in dieser Hinsicht an die Idee des ‚archipelischen Denkens‘ des Literaten und Philosophen Édouard Glissant an, der darunter folgendes versteht:
Eine neue Art des Denkens, das intuitiver, anfälliger, bedrohter ist, dafür aber eingestimmt auf die Chaos-Welt und ihre Unvorhersehbarkeit. Dieses Denken kann sich vielleicht auf die Erkenntnisse der Geistes- und Sozialwissenschaften stützen, es verweist aber auch auf eine Vision des Poetischen und Imaginären auf die Welt. Ich nenne es ‚archipelisch‘, das heißt, es ist nicht-systematisch, sondern induktiv, es erforscht das Unvorhergesehene des Welt-Ganzen. (Glissant 2005, 76)
EmergenzEmergenz heißt in diesem Sinne, dass sich etwas Neues herausbildet – etwas emergiert – , das in seiner IntersubjektivitätIntersubjektivität nicht auf die Absichten der Akteure reduzierbar ist.
Wenn also die Strategien des KonfliktmanagementKonfliktmanagements der BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität, MultikulturalitätMultikulturalität und InterkulturalitätInterkulturalität, die an Prozesse und Strukturen von MachtMacht, -verhältnisse und Hegemonie gebunden sind, weitgehend differenztheoretischdifferenztheoretisch zu erklären sind, verlangt Transkulturation/Transkulturalität zusätzlich nach einer emergenztheoretischemergenztheoretischen Erklärung.
Die TheorieTheorie der unsichtbaren Hand kultureller EmergenzEmergenz lässt sich dabei als eine Art übergreifende Theorie zu Teilaspekten des Soziokulturellen modellieren. Oben wurde bereits die wirtschaftswissenschaftliche Pfadtheorie erwähnt, die sektoriell im betriebswirtschaftlichen und organisationssoziologischen Bereich Strukturen erklärt und Prozesse beschreibt, die im Zusammenhang mit der Rekrutierung des Führungspersonals im Topmanangement stehen. Auch das soziologische Konzept der ‚symbolischen GewaltGewaltsymbolische –‘ hat seinen Platz in einer emergenztheoretischen Betrachtung. Und wiederum sektoriell bzw. als emergenztheoretische Teiltheorie wäre die von dem Sprachwissenschaftler Rudi Keller (1994) ausgearbeitete „Theorie der unsichtbaren Hand“„Theorie der unsichtbaren Hand“ bzw. die „Invisible-hand-Theorie“ zur Beschreibung und Erklärung von SprachwandelSprachwandel zu nennen.
Kellers TheorieTheorie der unsichtbaren Hand des Sprachwandels – SprachwandelSprachwandel als eine grundlegende Eigenschaft von Sprache – knüpft in metaphorischer Weise an die Entstehung von Trampelpfaden an, die sich zu Wegen, oder eben zu Sprechweisen ausformen dadurch, dass auch andere Akteure sich sprachlich ebenso verhalten, frei nach dem Motto: „keiner will es, aber alle tun es“ oder auch „alle tun es, aber niemand bemerkt es“. Auch die SprachpolitikSprachpolitik oder die Sprachplanung „von oben“ setzen den Invisible-hand-Prozess nicht außer Kraft. Sie stellen lediglich Faktoren – möglicherweise sehr wirksame oder mächtige Faktoren – „der Ökologie des Handelns der Sprecher dar“ (Keller 1994, 129).
Emergenztheoretischemergenztheoretisch aufschlussreich sind darüber hinaus die sprachlichen Dynamiken in der englischsprachigen Welt, die Mufwene (2010) mit den beiden PolenPolen zwischen „Global English“ und „World English(es)“ bestimmt hat und dessen Darstellung von Mythen und Fakten trefflich geeignet ist, den naiven neoliberalen Blick auf das Englische als Lingua franca des 21. Jahrhunderts zu hinterfragen (vgl. hierzu auch Watts 2011). An einem Fall wie dem Singlish, auch Colloquial Singaporean English genannt, zeigt sich, wie die Herausbildung einer solchen Kontaktvarietät aus EnglischEnglisch, Malaiisch, chinesischen und indischen Sprachen, darunter vor allem das Tamoul, immer weitere Verbreitung findet und gleichzeitig, nun schon seit Jahrzehnten, von politischen und Bildungsinstitutionen Singapurs bekämpft wird (vgl. Lim et al. 2010, Forlot 2018).3 Die TheorieTheorie der unsichtbaren Hand der EmergenzEmergenz, hier bezogen auf Sprachen oder Varietäten, verknüpft sich in diesem Kontext mit der Theorie sozialer Konflikte.
Schließlich, um noch einen dritten Theoriebereich in der SprachwissenschaftSprachwissenschaft anzuführen, wäre auf die grammatiktheoretische Diskussion im Kontext der KonstruktionsgrammatikKonstruktionsgrammatik hinzuweisen, die ihrerseits einen substantiellen Beitrag zur EmergenztheorieEmergenztheorie erbringt. So lenken Auer/Pfänder (2011) anhand der Unterscheidung zwischen engl. ‚emergent‘ und ‚emerging‘ die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen einer resultativen und einer prozessualen Dimension von EmergenzEmergenz: ‚emerging grammar‘, als Resultat, richtet den Blick darauf, wie etwas in der Zeit geworden ist, während ‚emergent grammar‘ auf die Prozessualität eines laufenden, zeitlich strukturierten, unvollendeten Prozess von „languaging“ (dt. Versprachlichung) abstellt (ebd., 5), um dann als Fazit zu formulieren: „Emergent structures are the basis of emerging constructions“ (ebd., 18.).
Günthner (2011) befasst sich ihrerseits mit dem Verhältnis von ‚EmergenzEmergenz‘ und ‚SedimentierungSedimentierung‘. An die Handlungstheorie von Luckmann (1992, 156) anknüpfend, diskutiert sie die Herausbildung von kommunikativen Routinen und sprachlichen Routineformen (z. B. „was ich eigentlich damit sagen wollte“, „also was ich wichtig finde“, „die Sache/das Ding ist (dass)“ usw.) im Spannungsfeld zwischen Sedimentierung und Emergenz. Routineformen bilden sich im häufigen Gebrauch heraus und machen als solche, in ihrer sedimentierten Form, die KommunikationKommunikation einfacher, berechenbarer, sie vermindern Koordinationsaufwand und das permanente Neuverhandeln(müssen) von Bedeutungen und Formen. Sedimentierung erlaubt ein sich Einrichten in den Gegebenheiten (ebd., 157f.) und ist auf diese Art selbst auch etwas Emergentes.