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3.7 Transkulturalität im Paradigma des Spatial turnSpatial turn

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TransnationalismusTransnationalismus, TransstaatlichkeitTransstaatlichkeit, TransregionalitätTransregionalität, Translokalität, und eben auch Transkulturalität, TransmedialitätTransmedialität, TransgenderTransgender: ganz offensichtlich hat das Präfix trans- Konjunktur. Dabei fällt auf, dass sich die Wortbildungen mit trans- heute auf andere Bedeutungsfelder erstrecken, als wir sie aus älteren Bezeichnungen wie Transsibirische Eisenbahn, Transcanada-Highway oder aus Adjektiven wie transalpin oder transgalaktisch kennen, in denen sich trans- auf mehr oder weniger umgrenzte topographische oder physikalische Räume bezieht, entweder im Sinne von ‚hindurch‘ oder ‚jenseits von‘. In Transnationalismus, Transkulturalität, Transgender, Transmedialität ist die Bedeutung von trans- eine andere: trans- konnotiert sowohl eine GrenzeGrenze(n) zwischen Entitäten, die überschritten oder überquert wird, als auch die Umformung oder Gestaltveränderung der jeweiligen Entitäten. Diese Bedeutungsveränderung ist maßgeblich, um die gewachsene Komplexität und Mehrdimensionalität des sozialen Wandels zu verstehen. Wie gleich noch zu zeigen sein wird, erklärt sich die Konjunktur von ‚Trans’-Begriffen aus dem, was seit etwa zwei Jahrzehnten als Spatial turnSpatial turn bezeichnet wird.

Unter Spatial turnSpatial turn verstehen die KulturKultur- und Sozialwissenschaften einen Paradigmenwechsel, der ‚Raum’ – anders als in geographischen oder physikalischen Zusammenhängen – als kulturelle, sozial konstruierte Größe wahrnimmt (vgl. Middell 2005). Zugleich drückt Spatial turn aus, dass nicht mehr allein die ‚Zeit’, wie dies in der Moderne der Fall war und geradezu exemplarisch von F. Braudel (1958) in der longue durée beschrieben wurde, im Zentrum kulturwissenschaftlicher Betrachtungen steht. Um zu illustrieren‚ was es bedeutet, Raum als eine kulturelle Größe zu verstehen, lässt sich beispielsweise fragen, ob ein kulturelles Phänomen wie Sprache einen Raum oder ein TerritoriumTerritorium hat. Sibille (2013, 53) gibt auf diese Frage zwei Antworten. Sprache hätte a priori kein Territorium; der einzige Ort, den sie habe, sei das Gehirn des Menschen. Die andere Antwort sagt genau das Gegenteil: Sprachen haben notwendig ein Territorium, allerdings vermittelt über ihre SprecherInnen, die SchreiberInnen und LeserInnen eingeschlossen: Das Territorium einer Sprache ist jener Raum, in welchem die Menschen leben, die ihre Sprachen sprechen. Aber auch diese Antwort kann noch nicht befriedigen. Seit es den Buchdruck, seit es den Tonfilm, das Radio, das Fernsehen und – in qualitativ und quantitativ völlig neuer Weise – das InternetInternet als einen virtuellen Raum gibt, sind Sprachen im wachsenden Maße entterritorialisiert. Sprachliche Artefakte wie Bücher, Zeitungen und andere Schriften zirkulieren über GrenzenGrenze(n) hinweg und werden selbst in entlegenen Räumen gelesen; Rundfunk und Fernsehen, die zunächst nur eine lokale ReichweiteReichweite hatten, sind heute via Internet global präsent. KommunikationKommunikation in Echtzeit rund um den Globus ist inzwischen Realität geworden.

Das Internetzeitalter seinerseits hat nicht nur neue und den Informationsaustausch immens beschleunigende Kommunikationsformen wie Email, Chat, Blog, soziale Netzwerke etc. hervorgebracht, sondern auch die Verbreitung von Sprachen befördert, sofern die jeweiligen Sprechergruppen die Mittel zur Partizipation an dieser KommunikationKommunikation haben. Analog zur medialen Entgrenzung der Sprachen und zur VernetzungVernetzung ihrer SprecherInnen haben MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitäMobilitätt unter den Menschen enorm zugenommen, was nach Giddens (1990), Massey (1994, 2005) u.a. einen „high degree of space-time compression“ zu Folge hätte.

This compression has transformed the geography of social relations and communication, leading many scholars to focus their studies on the transnational nature of late-modern communicative environments. This studies have linked the emergence of transnationalism with the post-industrial wave of migration, a wave characterized by people able to forge and sustain multistranded social relations across geographic, cultural, and political borders. (Jacquemet 2010, 50)

Mit dem Spatial turnSpatial turn wird der Raum vor allem als ‚Beziehungsraum‘ wahrgenommen, der in besonderer Weise von MobilitätMobilität – von Personen, Waren, Ideen, Dienstleistungen etc. – und der Dynamik von Be-/Ent-/Aus-/Ab-/Eingrenzungsprozessen bestimmt wird, und somit von einer Dynamik, die nicht im Selbstlauf, einfach so, passiert. Diese Dynamik wird angetrieben von Akteuren, die ihrerseits die Beziehungsräume nach ihren Interessen, mit ihren kulturellen Mustern und Formen, in Reaktion auf geographische, ökologische, politische und andere Gegebenheiten auszugestalten versuchen. In einer transkulturellen Perspektive sind diese Beziehungsräume die Orte transkultureller VerflechtungenVerflechtungen.

Die Frage, um die es hier geht, ist also die nach dem Verhältnis von Transkulturalität und jenen anderen oben genannten ‚Trans’-Begriffen, insbesondere zu Transnationalität bzw. TransnationalismusTransnationalismus und zu dem bislang noch nicht eingeführten Konzept des TransfersTransfer, der im folgenden Kapitel behandelt wird.

Mit der begrifflichen Neufassung von ‚Raum’, wie sie mit dem Spatial turnSpatial turn einhergeht, schlagen die Kulturwissenschaften eine Brücke zu jener ebenfalls in den 1980er Jahren aufkommenden Betrachtung von sozialen Prozessen, die die GrenzenGrenze(n) von Nationen bzw. Nationalstaaten überschreiten, somit trans-national oder trans-staatlich sind und seither unter dem Label des TransnationalismusTransnationalismus erforscht werden. SoziologieSoziologie, Geschichtswissenschaften, MigrationsforschungMigrationsforschung und Politikwissenschaften, für die die NationNation bzw. der NationalstaatNationalstaat eine zentrale KategorieKategorie, Kategorisierung darstellt, verwenden den Terminus ‚transnational’ häufig synonym zu ‚grenzüberschreitend’ und sehen Transnationalisierung nicht selten als „eine Art ‚GlobalisierungGlobalisierung von unten von unten’, als Entwicklung zunehmender grenzüberschreitender sozialweltlicher Beziehungsnetzwerke und bewegungsorientierter Aktionsbündnisse“ (Pries 2013, 881). Einer noch engeren Definition von Transnationalismus zufolge geht es um eine spezifische Form der Internationalisierung von Vergesellschaftungsprozessen im Sinne von relativ dauerhaften sozialen Beziehungen, sozialen Netzwerken und Sozialräumen, die lokal in verschiedenen Nationalstaaten verankert sind und kein einheitliches organisierendes Zentrum aufweisen (vgl. ebd., 882).

In diesem Sinne soll das Konzept der Transnationalisierung von anderen Formen grenzüberschreitender Phänomene und Prozesse abgrenzt werden, die mit Termini wie GlobalisierungGlobalisierung, Mondialisation, KosmopolitismusKosmopolitismus, DiasporaDiaspora-BildungBildung, Supranationalisierung oder GlokalisierungGlokalisierung charakterisiert werden. (ebd.)

Aber so einfach scheint diese Abgrenzung nicht zu sein, zumindest nicht, wenn es um Transkulturalität geht. Wie empirische Studien aus der transnationalen MigrationsforschungMigrationsforschung zeigen, die sich mit grenzüberschreitenden Kommunikationspraktiken und Lebensorientierungen befassen, z. B. von polnischen MigrantInnen in den USAUSA oder von türkischen Familien in DeutschlandDeutschland, greifen transnationaletransnationale Migration und transkulturelle Fragestellungen kaum trennbar ineinander und stellen komplementäre, manchmal auch identische Betrachtungsweisen dar. Für beide Ansätze zentral ist die MobilitätMobilität der Akteure. In der Tendenz scheint es jedoch so zu sein, dass unter dem Etikett der Transnationalisierung ein viel breiteres Spektrum sozialer Prozesse der ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen VerflechtungVerflechtung von Menschen auf lokaler, regionaler, nationaler, glokaler, globaler Ebene betrachtet werden und von transnationalen Arbeitsprozessen bis zu transnationaler Kriminalität von Steuerflucht, Menschen- und Waffenschmuggel reicht, während es bei Transkulturalität mehr um die Transformationen kultureller Praktiken und ihren Zuschreibungen sowie um das Zurechtfinden der Menschen in einer immer komplexer werdenden Welt geht.

Transkulturalität  - Prozesse und Perspektiven

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